Üble Erfahrungen.

Frau und Schwiegertochter sitzen bis tief in die Nacht hinein, um heimlich zu schneidern. Es gilt einem neuen Anzuge für Agnes.

Als Kontrolleur müsste ich eigentlich beide zur strafrechtlichen Verfolgung anzeigen wegen Überproduktion durch Überschreiten des Maximalarbeitstages. Indes gehören beide nicht zu den 50 Personen, welche mir als Kontrollsektion unterstellt sind.


Die beiden Frauensleute sind diesmal noch redseliger als sonst bei solchen Schneiderarbeiten. Verstehe ich es recht, so haben sie in den Verkaufsmagazinen nicht gefunden, was sie suchten, und machen nun aus andern Kleidern etwas zurecht. Beide schelten um die Wette über die neuen Verkaufsmagazine. Schaufenster, Reklamen, Versendung von Preislisten, Alles hat aufgehört. Man weiß gar nicht mehr Bescheid, so klagen sie, was es an neuen Sachen zu kaufen gibt und wie die Preise sich stellen. Die vom Staat angestellten Verkäufer sind so kurz angebunden, wie die Beamten am Eisenbahnschalter. Die Konkurrenz der Läden untereinander hat natürlich aufgehört. Jeder ist für bestimmte Bedürfnisse auf ein bestimmtes Verkaufsmagazin angewiesen. So verlangt es die Organisation von Produktion und Konsumtion.

Ob man was kauft, ist natürlich dem Verkäufer völlig gleichgültig. Mancher Verkäufer schaut schon mürrisch drein, wenn die Ladentür aufgeht und der Verkäufer dadurch vielleicht in einer interessanten Lektüre oder Unterhaltung unterbrochen wird. Je mehr man zur Auswahl vorgelegt verlangt, je mehr man Auskunft wünscht über Beschaffenheit und Dauerdeftigkeit des Stoffes, desto verdrossener zeigt sich der Verkäufer. Ehe er aus einem andern Raum des Magazins das Verlangte hervorholt, leugnet er lieber das Vorhandensein eines Vorrates von dem Gewünschten.

Verlangt man fertige Kleider — das Kleidermachen außerhalb des Maximalarbeitstages ist auch für den eigenen Gebrauch untersagt — so ist man erst recht übel daran. Es geht beim Anprobieren zu, wie bei Rekruten in der Montierungskammer. Die ausgesuchte Nummer soll durchaus zu dem Körper passen. Ist etwas auf Bestellung gearbeitet und erweist sich beim Anprobieren hier zu eng, dort zu weit, so bedarf es großer Beredsamkeit, den Verkäufer hiervon zu überzeugen. Gelingt das nicht, so muß man entweder den Anzug nehmen, so wie er ausgefallen ist, oder gegen die betreffende Staatsbehörde Prozess führen.

Prozess führen ist allerdings jetzt sehr billig. Wie schon der Erkürter Parteitag im Oktober 1891 dekretiert hat, ist die Rechtspflege und Rechtshilfe unentgeltliche Die Zahl der Richter und Rechtsanwälte hat in Folge dessen gegen früher verzehnfacht werden müssen. Aber dies reicht noch immer nicht, da die Klagen über Mängel und Fehler der in den Staatswerkstätten gelieferten Waren, über schlechte Beschaffenheit der Wohnungen und des Essens, über Ungehörigkeiten der Verkäufer und sonstiger Bediensteten so zahlreich sind, wie Sand am Meere.

Auch in achtstündigen Sitzungen vermögen die Gerichte den Terminkalender nicht inne zu halten, obwohl die Rechtsanwälte nichts weniger, als darauf aus sind, Prozesse zu verschleppen. Im Gegenteil, man klagt darüber, daß sie nach Aufhebung der Gebühren und seit ihrer Anstellung als Staatsbeamte ihre Klienten kaum anhören und Alle, möglichst summarisch und im Ramsch abzumachen suchen. Viele, die nicht im Prozessführen eine Art von anregender Unterhaltung suchen, nehmen daher trotz der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtshilfe lieber jedes Unrecht geduldig hin, um sich Laufereien, Zeitverlust und Ärger zu ersparen.

Erstaunlich ist es, wie die Eigentumsvergehen zunehmen, trotzdem Gold und Silber verschwunden ist. In meiner Eigenschaft als Kontrolleur gewahre ich jetzt hinter den Kulissen so Manches, was sich bisher meinen Blicken entzog. Die Zahl der Unterschlagungen hat sich gegen früher versiebenfacht. Angestellte jeder Art verabfolgen gegen irgend eine private Zuwendung oder Dienstleistung zum Nachteil des Staates Waren, oder üben den ihnen berufsmäßig obliegenden Dienst aus, ohne in dem Geldzertifikat des Empfängers in vorgeschriebener Weise einen dem Wert entsprechenden Kupon loszutrennen und zur Buchhalterei abzuführen. Durch unrichtiges Maß oder durch Verfälschung der Ware beim Verkauf sucht man das Fehlende, was nicht durch entsprechende Kupons nachgewiesen werden kann, wieder auszugleichen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder