Massenstrike und Kriegsausbruch zugleich.

Alle Eisenarbeiter in Berlin und Umgegend striken seit heute früh, nachdem ihre Forderungen der Gewährung des „vollen Arbeitsertrages“ abgewiesen worden sind. Die Regierung hat sofort verfügt, allen Eisenarbeitern die Mittagsmahlzeit und Abendmahlzeit zu sperren. In allen Staatsküchen sind die Beamten angewiesen, die Geldzertifikate der Eisenarbeiter zurückzuweisen. Dasselbe gilt von allen Restaurationen und Verkaufsläden, in welchen die Eisenarbeiter bestimmungsgemäß ihre Lebensmittel zu entnehmen haben. Die betreffenden Lokalitäten werden durch starke Abteilungen der Schutzmannschaft bewacht. Auf diese Weise hofft man die Strikenden in der kürzesten Frist auszuhungern, da diejenigen Brotkrumen und Speisereste, welche ihre Frauen und Freunde von der ihnen zustehenden Portion für sie erübrigen können, nicht lange ausreichen dürften.

Es kommt dazu, daß seit heute früh für die gesamte Bevölkerung die Brotrationen auf die Hälfte herabgesetzt und die Fleischrationen gänzlich in Wegfall gebracht sind. Man hofft dadurch noch soviel zu erübrigen, um die Grenzfestungen noch einigermaßen verproviantieren zu können. Denn inzwischen hat die sogenannte Auspfändung Deutschlands schon begonnen. Französische Kavallerie ist aus dem Großherzogtum Luxemburg über die deutsche Grenze vorgedrungen, über die Mosel gesetzt und hat die Bahnlinien Trier-Diedenhofen und Trier-Saarlouis unterbrochen. Andere französische Heereskörper sind, gestützt aus Longyon, Conflans, Pont-à-Mousson, Nancy und Lüneville über die lothringische Grenze vorgedrungen, um Metz und Diedenhofen zu belagern und einen Vorstoß in der Richtung auf Mörchingen zu machen. Die beiden Festungen sollen mir auf höchstens 8 Tage mit Lebensmitteln versehen sein. Dasselbe gilt von Königsberg, Thorn und Graudenz, gegen welche russische Heeressäulen, gleichfalls um die Auspfändung vorzunehmen, in Anmarsch sind. Es scheint zunächst darauf abgesehen zu sein, Ostpreußen gleichzeitig im Osten und im Süden anzugreifen, um noch dessen Besetzung die östliche Augriffslinie gegen Deutschland zu verkürzen und daneben die Pferdeversorgung der deutschen Armee aus Ostpreußen zu verhindern. Die Landwehr und der Landsturm in Ostpreußen eilen an die Grenze. Aber leider stellt sich heraus, daß es für die Landwehr und den Landsturm vielfach an den notwendigsten Kleidungsstücken gebricht. Denn große Partien von Stiefeln und Unterkleidern sind nach der Umwälzung in Folge unzureichender Produktion zur Deckung des Bedarfs der Zivilbevölkerung verwendet worden.


Doch es wird mir unmögliche diese Aufzeichnungen in ihrem bisherigen Umfang weiter fortzusetzen. Denn von morgen ab tritt die Verlängerung der Arbeitzeit auf 12 Stunden in Kraft. Ich will daher dieses Buch demnächst abschließen und an Franz und Agnes nach New-York alles Beschriebene übersenden. Mögen dieselben dies zur Erinnerung an mich und diese sturmbewegte Zeit für Kind und Kindeskinder aufbewahren. Man behandelt mich auch jetzt derartig als politisch verdächtigt, daß ich nicht mehr sicher bin vor einer Haussuchung und Beschlagnahme meiner Privatpapiere.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder