Familiennachrichten.

Immer bin ich noch einsam und allein in meiner Wohnung, wie es seit meiner Junggesellenzeit nicht mehr der Fall war.

Noch immer weilt meine arme Frau in der Krankenanstalt. Der Arzt hat mich indes gebeten, die Besuche daselbst auf das Äußerste einzuschränken, um jede Aufregung bei ihr möglichst zu vermeiden. Denn sieht sie mich, so fällt sie mir leidenschaftlich um den Hals, als sei ich soeben erst nach den furchtbarsten Lebensgefahren ihr wieder zurückgegeben. Nachher gibt es wieder die aufregendsten Szenen, bevor sie sich von mir trennen kann und mich nach Hause entlässt. Je lebhafter sie nach unseren Gesprächen in ihren Gedanken sich mit mir und den andern Familienmitgliedern beschäftigt, desto mehr steigert sich bei ihr das Gefühl der Angst und Sorge um uns. Sie wähnt uns allerlei schlimmen Verfolgungen und Gefahren ausgesetzt, fürchtet uns nimmer wiederzusehen. Die Erschütterung des Gemütes durch den Tod unserer Tochter und die Vorgänge bei der Flucht von Franz und Agnes ist noch immer nicht überwunden.


Ich wollte darüber unsern früheren Hausarzt, dem ihr Sein und Wesen genau bekannt ist, und der sie seit unserer Verheiratung ärztlich behandelt hat, um: Rat fragen. Der Arzt kam soeben von einem jugendlichen Selbstmörder zurück, den er sich vergebens bemüht hatte, wieder ins Leben zurückzurufen. Er mußte aber zu seinem Leidwesen bedauern, daß soeben sein achtstündiger Maximalarbeitstag abgelaufen sei. Deshalb könne er beim besten Willen und bei aller Freundschaft für uns keinen ärztlichen Rat heute mehr erteilen. Er ist schon zweimal von einem jüngeren Kollegen, der eine dem Maximalarbeitstage entsprechende ärztliche Tätigkeit durch Ablieferung von Kupons zur Staatsbuchhalterei nicht nachweisen konnte, wegen Überschreitung der Arbeitszeit denunzier und in Folge dessen wegen Überproduktion hart bestraft worden.

Der alte Herr ließ sich aus Anlaß seines heutigen Falles mit mir in ein Gespräch ein über die erschreckliche Zunahme der Selbstmorde in der sozialisieren Gesellschaft. Ich frug ihn, ob etwa eine unglückliche Liebe Schuld sei an dem heutigen Fall. Das verneinte er bestimmt, obwohl solche Fälle jetzt ebenso, wie früher vorkämen. Denn es kann doch auch jetzt von Staatswegen Niemand verhindert werden, Körbe auszuteilen. Der alte Herr, der früher Militärarzt war, suchte die Zunahme der Selbstmorde anders zu erklären. Er sagte, daß auch beim Militär die Selbstmorde zu einem erheblichen Teil davon herrührten, daß manche junge Leute, obwohl es ihnen an zureichender Nahrung, Kleidung und Wohnung nicht mangelt, sich in den ungewohnten Zwang der militärischen Verhältnisse durchaus nicht zu schicken vermöchten. Und dabei hatten dieselben noch Aussicht in zwei oder drei Jahren wieder entlassen zu werden und zu der gewohnten Freiheit im Tun und Handeln zurückzukehren. Man darf sich darum nicht wundern, so meinte er, daß jetzt die aus den neuen Organisationen der Produktion und Konsumtion folgenden großen und dabei lebenslänglichen Beschränkungen der persönlichen Freiheit zusammen mit der sozialen Gleichheit bei vielen Personen, und darunter nicht den schlechtesten, den Reiz des Daseins bis zu einem Grade vermindern, welcher sie zulegt den Selbstmord als den einzigen Ausweg betrachten läßt um diesem Zwang eines öden, gleichförmigen, durch keine Energie ihres Willens abänderlichen Daseins zu entrinnen. Der alte Herr mag so ganz unrecht dabei nicht haben.

Von Franz und Agnes aus Amerika gute Nachricht. Der einzige Lichtpunkt in meinem Dasein. Sie haben bereits das Kosthaus in New-York, welches sie unmittelbar nach ihrer Verheiratung bezogen, verlassen und sich eine eigene, wenn auch recht beschränkte Häuslichkeit einrichten können. Franz ist in Anerkennung seiner tüchtigen Leistung und seiner Solidität Faktor in einer nicht unbedeutenden Druckerei geworden. Agnes arbeitet für ein Putzgeschäft, dessen Verdienst sich in Amerika außerordentlich gehoben hat, seitdem die deutsche Konkurrenz in Putzwaren für Amerika leistungsunfähig geworden ist. Durch Sparsamkeit gelingt es ihnen, ein Stück nach dem andern für ihre neue Häuslichkeit zu beschaffen. Franz hat sich über den Tod seiner kleinen Schwester sehr gegrämt und dringt in mich, Ernst zu ihm herüberzusenden. Er will für denselben auf jede Weise sorgen.

Ernst dauert mich in der Erziehungsanstalt aus tiefster Seele. Man hört aus diesen Anstalten überhaupt nur Ungünstiges, namentlich aus denen, in welchen sich die reiferen jüngeren Leute im Aller von 18 bis 21 Jahren befinden. Sie wissen, daß, wenn sie das 21.Lebensjahr erreicht haben, sie, gleichgültig, was und wie viel sie gelernt haben, an der Staatskrippe dieselbe gleichmäßige für alle bestimmte Nation vorfinden und es in keinem Falle darüber hinaus zu Etwas bringen können. Auch ob sie sich mit Lust und Liebe für einen Beruf vorbereitet haben, gewährt ihnen nicht die mindeste Sicherheit, diesem oder auch nur einem verwandten Beruf demnächst zugeteilt zu werden. So benutzen sie denn fast ausnahmslos die ihnen zur Ausbildung gewährte Zeit zu Ausschweifungen der verschiedensten Art, sodaß letzthin Bestimmungen zu ihrer Kontrolle ergangen sind; wie sie nicht schärfer für Sträflingsschulen erlassen werden können.

Trotzdem wage ich nicht, Ernst den Gedanken einer Flucht nahe zu legen. Selbst, wenn ich einen Weg wüsste, den Jungen auf ein ausländisches Schiff zu spedieren und Franz die Überfahrtskosten irgendwie sicher stellen könnte, so kann ich doch ohne Zustimmung meiner Frau nicht einen Schritt tun, der für das Lebensschicksal unserem unmündigen Sohnes von so entscheidender Bedeutung ist. Für meine Frau aber könnte bei ihrem jetzigen Zustand eine solche Mitteilung der Tod sein.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder