Eine stürmische Reichstagssitzung.

Seit der Verhandlung über die Sparkassengelder war ich nicht mehr im Reichstagsgebäude am Bebelplatz gewesen. Damals hatten die allgemeinen Neuwahlen noch nicht stattgefunden, und es waren daher die sozialdemokratischen Abgeordneten aus der Zeit vor der großen Umwälzung noch unter sich, da man alle anderen Mandate als angeblich aus der Kapitalherrschaft hervorgegangen für null und nichtig erklärt hatte. Heute füllten die neu gewählten Gegner der Sozialdemokratie die ganze linke Seite des Reichstagssaales aus, also etwa ein Drittel sämtlicher Plätze.

Die einzige aus den Neuwahlen hervorgegangene Dame, die Gattin des Reichskanzlers, hatte ihren Platz in der Mitte der vordersten Reihe eingenommen. Dieselbe, eine stattliche, energisch dreinschauende aber etwas kokett ausgeputzte Dame, folgte der Rede ihres Gatten mit lebhafter Aufmerksamkeit, bald beifällig nickend, bald das mit roten Schleifen geschmückte Lockenhaupt schüttelnd.


Unter dem Eindruck der Nachrichten von dem großen Milliardendefizit hatte sich offenbar der Regierungspartei eine gewisse Niedergeschlagenheit bemächtigt, während die antisozialdemokratische Opposition, die Freiheitspartei, sich in ihren Kundgebungen sehr munter zeigte. Die Tribünen waren dicht besetzt, namentlich von Frauen, sodaß kein Apfel zur Erde fallen konnte. Es herrschte unter den Zuhörern ersichtlich eine aufgeregte Stimmung.

Tagesordnung: Übersicht über den Volkshaushalt. In der Diskussion, welche sich über die Ursachen des Milliardendefizits entspann, und die ich mich bemühe hier auszugsweise wiederzugeben, ergriff zunächst das Wort

Der Reichskanzler: Die Tatsache einer Verminderung der Produktionswerte in Deutschland um zwei Drittel, verglichen mit der Produktion vor der großen Umgestaltung der Gesellschaft, soll man nicht beweinen und nicht belachen, sondern zu verstehen trachten. In erster Reihe sind daran Schuld die Feinde unserer sozialisierten Gesellschaft (der Abgeordnete für Hagen, links: 4. Rang!) Jawohl, Herr Abgeordneter, zur Durchführung der Ordnung im Innern haben wir die Polizeikräfte mehr als verzehnfachen, zur Unterstützung der Polizei zur Verminderung der Auswanderung und Sicherung gegen das Ausland das stehende Heer und die Flotte gegen früher verdoppeln müssen. Sodann hat die Annullierung der Wertpapiere in den sozialdemokratischen Staaten Europas auch für das dort angelegte deutsche Kapital die Zinsansprüche aufgehoben und damit eine Verminderung der Einnahmen herbeigeführt. Unser Absatz im Ausland ist in Folge der Umgestaltung der Gesellschaft in den sozialisierten Staaten und in Folge der Abneigung der übrig gebliebenen Bourgeoisstaaten gegen die sozialdemokratische Produktionsweise ganz außerordentlich zurückgegangen. An diesen Ursachen wird sich in Zukunft nicht viel ändern lassen.

In zweiter Reihe erwähnte ich als Ursache der Mindererträge in der Produktion die Entbindung der jungen und alten Leute von der Arbeitspflicht. (Hört, hört! links) und die Verkürzung bei Arbeitszeit (Unruhe rechts). Buch das Verbot jeder Akkordarbeit hat offenbar zu einer Verminderung der Produktion betgetragen (Hört, hört! links). In Folge der demoralisierenden Nachwirkungen der früheren Gesellschaft (Oho! links) ist leider das Bewußtsein der Arbeitspflicht als unentbehrliche Grundlage der sozialisierten Gesellschaft noch nicht in solchem Umfange vorhanden (Unruhe rechts), daß wir auf eine Ausdehnung des Maximalarbeitstages bis auf zwölf Stunden, wie wir sie Ihnen vorschlagen wollen, glauben verzichten zu können (Sensation). Außerdem werden wir jedenfalls bis zur Wiederherstellung der Bilanz die Arbeitspflicht für alle Personen vom 14. Lebensjahre bis zum 76. statuieren müssen statt bisher vorn 21 bis 65. Jahre, (Hört, hört! links!), wobei wir uns indessen vorbehalten wollen, talentierten jüngeren Personen Erleichterungen zur Ausbildung und altersschwachen Personen Erleichterungen zur Erhaltung ihres Gesundheitszustandes zu gewähren.

Sodann wird eine vereinfachte und weniger kostspielige Ernährungsweise, als bisher (Unruhe rechts!) erheblich beitragen können zur Verminderung unseres Defizits. Neuere sorgfältige Untersuchungen haben nämlich dargetan, daß bei entsprechender Erhöhung der Gemüse- und Kartoffelportionen bei dem Mittagsmahl als Fleischration statt 150 Gramm auch 50 Gramm Fleisch oder Fett pro Kopf ausreichen dürften (Abgeordneter für Hagen: In Plötzensee!) Präsident: Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, die Zwischenrufe zu Unterlassen. (Beifall recht!) Reichskanzler: fortfahrend: ES gibt ja bekanntlich sehr viele ehrenwerte Personen, die Vegetarier meine ich, welche den Fleischgenuss überhaupt nicht mir für entbehrlich, sondern für geradezu schädlich für den menschlichen Organismus betrachten. (Unruhe rechts).

Vor Allem aber trachten wir große Ersparnisse zu erzielen, indem mir in folgerichtigem, weiteren Ausbau der sozialen Gleichheit engere Grenzen ziehen dem individualistischen Belieben und damit dem blinden Walten von Angebot und Nachfrage, welches auch gegenwärtig noch ebenso die Produktion erschwert, wie die Konsumtion verteuert. Die Gesellschaft produziert beispielsweise Lebensmittel, Hausgeräte, Kleidungsstücke, aber die Nachfrage richtet sich in eigensinniger Laune — nennen wir es nun Geschmack, Mode oder wie sonst — (Abgeordnete Frau Reichskanzler: Ob, oh! — Der Reichskanzler hält inne und sucht durch ein Glas Wasser seiner sichtlichen Erregung über den Zwischenlaut Herr zu werden). Ich sage, die launische Mode richtet sich jetzt nur zu oft nicht auf die bereits produzierten Artikel dieser Art, sondern gerade auf solche, welche bis dahin wenig ober gar nicht produziert worden sind. Die von der Gesellschaft angebotenen Vorräte werden in Folge mangelhaften Absatzes Ladenhüter, verderben, kurzum erfüllen nicht ihren Zweck, nur weil es den Herren und Damen X.Y. Z. anders gefällt. Oder ist es etwa gerechtfertigt, den individualistischen Neigungen dieser Personen darin nachzugeben, daß. man ihnen verschiedene Waren für denselben Zweck der Ernährung, Wohnung and Bekleidung zur Verfügung stellt, damit Herr und Frau X sich anders nähren, wohnen und kleiden können, als Herr und Frau Y.? Welche Verwohlseiterung der Produktion läßt sich dagegen erzielen, wenn statt dessen die Produktion sich auf wenige oder am besten auf einen einzigen Gebrauchsgegenstand für jeden besonderen Zweck beschränkt! Jeder Verlust durch Mangel an Absatz würde vermieden werden, wenn von vornherein feststeht, daß dieHerren und Damen X.Y.Z. sich in der vom Staat vorgeschriebenen Weise zu ernähren, zu kleiden und auszustatten haben.

Darum, meine Dame und meine Herren, wird Ihnen die Regierung zunächst vorschlagen, bei der Ernährung dieselbe Regelung auch für das Frühstück und die Abendmahlzeit einzuführen, welche von Anfang an für die Mittagsmahlzeiten schon Platz gegriffen hat Ebenso wird es die soziale Gleichheit fördern, wenn wir nunmehr auch den Hausrat in Bezug auf alle zu demselben notwendigen Gegenstände, wie Betten, Tische, Stühle, Schränke, Bettwäsche und dergleichen verstaatlichen. Indem wir derart jede Wohnung mit einem dem Staat gehörenden und also in derselben verbleibenden Ausstattung versetzen, werden diejenigen Müden und Verluste vermieden, welche gegenwärtig durch den Umzug der Bewohner entstehen. Nunmehr wird es auch erst möglich, dem Grundsatz der sozialen Gleichheit bei den Wohnungen trotz der verschiedenen Lage derselben dadurch näher zu kommen, daß die Verlosung aller Wohnungen künftig von Vierteljahr zu Vierteljahr erneuert wird. Die Möglichkeit, eine Wohnung in der Belletage nach der Straße zu erlangen, erwächst auf diese Weise für Jedermann mit jedem Quartal aufs Neue (Heiterkeit links. Vereinzelter Beifall rechts.)

Ebenso sollen künftig für Jedermann nach Stoff, Farbe und Schnitt im Voraus genau bestimmte Kleidungsstücke hergestellt und mit genau vorgeschriebener Tragezeit verabfolgt werden, (Abgeordnete Frau Reichskanzler: Niemals, niemals! Äußerungen des Widerspruchs auch bei den auf den Tribünen anwesenden Damen)

Präsident: Es ist nicht gestattet, von den Tribünen Zeichen des Beifalls oder Missfallens zu geben.

Reichskanzler fortfahrend: Ich bitte mich nicht mißzuverstehen. Die Gleichbett der Kleidung soll nicht soweit gehen, alle Verschiedenheiten auszuschließen Im Gegenteil wollen wir sogar verschiedene Abzeichen vorschlagen, um die Damen und Herren der verschieden Provinzen, Orte, Berufskreise u. s w. äußerlich erkennbar zu machen. Dadurch wird auch die Übersicht und Aufsicht über die einzelnen Personen für die Kontrollbeamten des Staates ganz außerordentlich erleichtert werden. (Hört, hört! Links). Infolge dessen braucht die Vermehrung der Aufsichtsbeamten, künftig je Einer auf 80 statt bisher auf 60 Personen, nicht so groß zu werden, wie es sonst der Fall sein würde, um in unserm Staat, der in Wahrheit alsdann ein Ordnungsstaat sonder Gleichen sein wird, (Ruf links: Zwangsstaat. Der Präsident klingelt und bittet um Ruhe), die strenge Befolgung aller Gesetze und Verordnungen zu sichern, welche nunmehr in Bezug auf die Morgen- und Abendmahlzeiten, die Kleidung und Wohnung erforderlich werden.

Dies unser Programm! Sind Sie damit einverstanden, so hoffen wir durch energische Ausführung desselben nicht nur alsbald das Defizit in unserem Volkshaushalt zu beseitigen, sondern auch unser Volk auf dem Boden der sozialen Gleichheit in dem Maße zum Wohlleben und zur Glückseligkeit empor zuführen, wie es nach und nach gelingt, die bösen Nachwirkungen der früheren Gesellschaft auf die moralischen Eigenschaften der Bevölkerung zu überwinden. (Beifall rechts. Lebhaftes, wiederholtes Zischen links.)

Präsident: Es dürfte sich empfehlen, wie mir mehrfach mitgeteilt ist, vor Eintritt in die Diskussion über den Vortrag des Herrn Reichskanzlers den Mitgliedern des Hauses Gelegenheit zu gehen, kurze Anfragen an den Herrn Reichskanzler zu richten, sofern in dem dargelegten Programm desselben dem einen oder dem andern noch dieses oder jenes unklar ober unvollständig erscheinen sollte.

Reichskanzler: Ich bin gern bereit, alle an mich gerichteten Anfragen sofort zu beantworten.

Ein Abgeordneter der Regierungspartei: ersucht den Herrn Reichskanzler, sich noch zu äußern in Bezug auf die künftige Beschaffenheit der Frühstücks- und Abendmahlzeiten sowie darüber, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen eine Rückwirkung üben auf die Einrichtung der Geldzertifikate.

Reichskanzler: Ich bin dem verehrten Herrn Abgeordneten dankbar dafür, daß er mich auf einige Unterlassungen in meinem Vortrage aufmerksam gemacht hat. Die tägliche Brotportion für erwachsene Personen soll künftig eine Einschränkung von 700 auf 600 Gr. erfahren, um eine Überlastung der Verdauungsorgane zu verhüten. Das Stärkemehl, wie es in großen Mengen im Schwarzbrot vorkommt, tritt erfahrungsgemäß leicht in einen sauren Gärungsprozess, welcher oft Darmkatarrh und Diarrhoe veranlaßt. Abgesehen von der Brotportion, welche für den gesamten Tagesbedarf bestimmt ist, sollen für das Frühstück verwandt werden für jede erwachsene Person 10 Gr. ungebrannten Kaffees und ein Deziliter abgesahnter Milch. Hieraus ist je eine Portion von ½Liter herzustellen. Wir glauben, daß bei solcher Zusammensetzung einer ausregenden und schädlichen Erhitzung durch den Kaffeegenuss hinreichend vorgebeugt ist (Heiterkeit links).

Abends werden wir ¾ Liter Suppe an jede erwachsene Person verabreichen lassen, und zwar abwechselnd Mehlsuppe, Hafergrütze-, Reis-, Brotsuppe, Kartoffelsuppe; mitunter soll an die Stelle dieser Suppe ¼ Liter abgesahnter Milch treten. An den drei höchsten politischen Festtagen, den Geburtstagen von Bebel Lassalle und Liebknecht, werden Mittags , 260 Gr. Fleisch und ½ Liter Bier verabreicht.

Ich habe vorher noch vergessen, mitzuteilen, daß einmal in jeder Woche zu der etatmäßig mit 50 Gr. gefetteten Mittagskost oder zur Abendmahlzeit ein Hering verabreicht werden soll.

Überall handelt es sich hier um Vorschläge, welche noch Ihrer Genehmigung bedürfen. Indem wir aber dergestalt die Volksernährung auf einfache und natürliche Grundsätze zurückführen, erlangen wir die Möglichkeit, alle teureren und kostspieligeren Nahrungsmittel und Getränke, welche wir bisher produziert haben, wie beispielsweise feineres Gemüse, Wildbret, Geflügel, seltene Fische, Schinken, Weine, soweit diese Produktion künftig überhaupt noch stattfindet, in das Ausland abzusetzen. Damit hoffen wir in den Stand gesetzt zu werden, diejenigen notwendigen Lebensmittel, welche wir aus dem Auslande zur Innehaltung des beschriebenen Speiseetats bedürfen, wie insbesondere Brotgetreide und Kaffee, begleichen zu können.

Was die Geldzertifikate anbetrifft, so wird Ihnen einleuchten, hat die größere Ausdehnung der Naturallieferungen eine entsprechende Einschränkung der auf eine Geldsumme lautenden Kupons zur Folge haben muß. Wir beabsichtigen auch noch, das erforderliche
Heiz- und Beleuchtungsmaterial für jedes Wohngelass künftig in natura in Gemäßheit eines bestimmten Etats zu liefern. Ebenso sollen die Zentralwaschanstalten künftig die Wäsche, natürlich innerhalb gewisser festgesetzter Maximalgrenzen, unentgeltlich besorgen.

Unter solchen Verhältnissen, glauben wir, dürfte für Extra-Speisen und –Getränke, für Tabak, Seife, Anschaffung von Privatkleidungsstücken, kleinen Inventarstücken, Reisen, Vergnügungen, kurzum für alles, was sonst noch das Herz begehrt, eine Geldanweisung auf 1 Mk für je 10 Tage an jede erwachsene Person das Richtige treffen (Heiterkeit links). Die Verwendung dieser Mark soll nicht den mindesten Einschränkungen oder Kontrollen von Seiten der Gesellschaft unterliegen. Sie ersehen auch daraus, daß wir weit entfernt sind, dem individualistischen Belieben seinen wirklich berechtigten Spielraum einschränken zu wollen.

Ein Abgeordneter der Freiheitspartei richtet an den Reichskanzler die Frage, wie man nach einer Ausdehnung des Maximalarbeitstages auf 12 Stunden einer daraus folgenden größeren Lässigkeit in Erfüllung bei Arbeitspflicht zu begegnen gedenke und welche Stellung die Reichsregierung einnehme zur Frage der Volksvermehrung.

Reichskanzler: In Bezug auf Vergehen gegen die Arbeitspflicht dürfte allerdings die Ausdehnung des Arbeitstages eine Vervollständigung des Systems der Strafarten notwendig machen durch Einführung der Entziehung des Bettlagers, des Dunkelarrestes, des Lattenarrests und für Wiederholungsfälle auch der Prügelstrafe. (Pfuirufe von der Tribune)

Der Präsident droht, wenn trotz seiner Warnungen nochmal Kundgebungen von der Tribüne erfolgen, dieselbe sofort räumen zulassen.)

Ich bitte mich nicht mißzuverstehen, wir werden in Bezug auf die Prügelstrafe nicht empfehlen, über 30 Streiche hinauszugehen. Es kommt uns nur darauf an, das sozialdemokratische Bewußtsein der Arbeitspflicht auch in körperlich Widerstrebenden auf diese Weise zum Durchbruch zu bringen.

Hinsichtlich der Regulierung der Volksvermehrung halten wir im Prinzip an dem Bebelschen Grundsatz fest, daß unser Staat jedes Kind als einen willkommenen Zuwachs der Sozialdemokratie betrachtet. (Beifall rechts.) Allerdings muß auch dies seine Grenzen haben, und können wir nicht dulden, daß eine zu weit gehende Volksvermehrung das Gleichgewicht im Volkshaushalt wieder in Frage stellt, nachdem es durch die vorgeschlagenen Maßregeln demnächst erzielt sein wird. Es dürfte indessen, wie wir Ihnen in der Budgetkommission noch näher klar zu machen hoffen, entsprechend den von Bebel schon früher in dankenswerter Weise gegebenen Fingerzeigen möglich sein, die Bevölkerungszahl durch die Nährweise in erheblichem Maße zu regulieren. Denn wie Bebel ebenso schön als treffend sagt, der Sozialismus ist die mit klarem Bewußtsein in toller Erkenntnis auf alle Gebiete menschlicher Tätigkeit angewandte Wissenschaft (Lebhafter Beifall rechts.)

Präsident: Da weiter keine Fragen an den Herrn Reichskanzler gestellt werden, so können wir nunmehr geschäftsordnungsmäßig in die Diskussion selbst eintreten. Ich werde den Rednern der beiden großen Parteien zur Rechten und zur Linken abwechselnd das Wort erteilen und mit der linken Seite beginnen. Das Wort hat der Herr

Abgeordnete für Hagen: Mich gelüstet es durchaus nicht, den Herrn Reichskanzler nach Einzelheiten seines Programms zu fragen, denn was wir jetzt schon in der Praxis von den Früchten der sozialdemokratischen sogenannten Ordnung vor uns sehen und nach den bisherigen Ankündigungen des geehrten Herrn demnächst noch zu erwarten haben, ist schon überreichlich, um die Seele mit Widerwillen und Abscheu zu erfüllen gegen diejenigen Zustände, welche uns die Sozialdemokratie in Deutschland gebracht hat. (Große Unruhe rechts, lebhafter Beifall links). Allerdings die grauenhafte Wirklichkeit übertrifft selbst dasjenige, was als Folge einer Verwirklichung des sozialdemokratischen Programms ein früherer Abgeordneter meines Wahlkreises vorausgesehen hat (Rufe rechts: Aha, der „Irrlehrenmann“, der „Sozialistentöter“) Ich Sehe, die Herren auf der rechten Seite haben die Schrift des verdorbenen Abgeordneten Eugen Richter über „die Irrlehren der Sozialdemokratie“ noch immer nicht verwinden können*).

*) Offenbar ist hier gemeint die Ende 1890 in einer Auflage von 80 000 Exemplaren erschienene Schrift der Abgeordneten Eugen Richter über „Die Irrlehren der Sozialdemokratie“ Berlin SW. Zimmerstraße 8, Expedition der Freisinnigen Zeitung“, Preis 50 Pfg.

Hätten Sie sich nur damals aus Ihren Irrlehren heraus zu klaren Begriffen über den Zusammenhang der wirtschaftlichen Dinge zu erheben vermocht! Das Jahresdefizit von 12 Milliarden, vor dem Sie jetzt stehen, bedeutet die Bankrotterklärung der Sozialdemokratie. (Großer Lärm rechts.) Sie, Herr Reichskanzler, verhüllen nur den Tatbestand, wenn Sie das Milliardendefizit versuchen in erster Reihe den Feinden der Sozialdemokratie zur Last zu legen.

Allerdings starrt Deutschland jetzt von Soldaten und Polizeibeamten, wie nie zuvor. Wenn aber in der Sozialdemokratie alle Lebensverhältnisse nach Innen und nach Außen der Einwirkung des Staates unterstellt werden, so müssen Sie auch die dazu gehörigen Vollstrecker der Staatsgewalt in den Kauf nehmen. Es ist richtig, unser Außenhandel liegt kläglich darnieder, aber was anders ist daran Schuld, als die Umgestaltung der Produktion und Konsumtion bei uns und in den sozialdemokratischen Nachbarländern!

Doch alles dies reicht ja nicht aus, das Milliardendefizit auch nur zu einem Viertel zu erklären. Der Herr Reichskanzler will das Defizit teilweise aus der Verkürzung der Arbeitszett herleiten. Über die Arbeitszeit währte vor der Umwälzung durchschnittlich noch nicht 10 Stunden und würde bei einer ruhigen, friedlichen Fortentwicklung ohne Schädigung der Produktion von selbst eine allmähliche Verkürzung erfahren haben. Nicht so seht der Zeitumfang der Arbeit, als die Verschlechterung derselben; mit einem Wort, die jetzt überall eingerissene Faulenzerei (Oho! rechts) trägt die Schuld an dem Rückgang der Produktion. Die Arbeit wird jetzt wieder, wie in früheren Jahrhunderten, nur als Frondienst, als Sklavendienst betrachtet. Der gleiche Lohn für verschiedene Leistung, die Aussichtslosigkeit, durch Fleiß und Geschicklichkeit zu einer Verbesserung der eigenen Verhältnisse gelangen zu können, alles dies wirkt zerstörend auf Arbeitslust und Arbeitskraft.

Auch deshalb ist die Arbeit nicht mehr so produktiv, wie früher, weil mit dem privaten Unternehmer jener sorgsame Leiter der Arbeit fehlt, der eine Vergeudung von Material und Kräften verhindert und die Produktion den Bedürfnissen und der Nachfrage anpasst. Ihren Betriebsleitern fehlt jedes eigene Interesse, fehlt die Aufstachelung, welche früher auch dort, wo Staatsbetriebe bestanden, die Konkurrenz der Privaten mit sich brachte. Ihnen predigt jetzt das Milliardendefizit, daß der Unternehmer kein Ausbeuter und auch keine überflüssige Drohne war, und daß selbst fleißige Arbeit, wenn sie nicht zweckentsprechend ausgeführt wird, Kraft- und Stoffvergeudung sein kann. Auch der Großbetrieb, wie Sie Ihn schablonenmäßig überall eingeführt haben, selbst dort, wohin er gar nicht passt, beeinträchtigt den Überschuss der Produktion.

Wohin sind wir geraten? In dem Bestreben, die Nachteile der sozialdemokratischen Produktionsweise auszugleichen, kommen Sie zu Beschränkungen der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit, welche Deutschland nur noch als ein einziges großes Zuchthaus erscheinen lassen. (Großer Lärm rechts, Beifall links und auf den Tribünen. Der Präsident droht, bei weiteren Kundgebungen der Tribünen dieselben sofort räumen zu lassen.) Gleiche Arbeitspflicht, gleiche Arbeitszeit, zwangsweise Zuteilung zu bestimmten Arbeiten, dergleichen kannten wir früher nur in den Strafanstalten. Selbst dort aber gönnte man dem fleißigen und geschickten Arbeiter, noch einen Extraverdienst. Gleich den Gefängniszellen in Strafanstalten werden die Wohnungen jetzt den Einzelnen angewiesen. Das fiskalische Inventar, welches hinzukommen soll, wird die Ähnlichkeit noch steigern. Die Familien sind auseinandergerissen. Müssten sie sicht das Aussterben der Sozialdemokratie befürchten, Sie würden Mann und Frau vollends von einander trennen, wie in den Gefängnissen.

Ebenso wie zur Arbeit, so hat in dieser sozialdemokratischen Gesellschaft Jedermann zur vorgeschriebenen Ernährung in den dafür bestimmten Tageszeiten anzutreten. Plötzensee rief ich mit Recht, als der Herr Reichskanzler seinen Küchenzettel beschrieb. Der Küchenzettel in dieser Strafanstalt ist seinerzeit vielleicht besser, jedenfalls nicht schlechter gewesen. Damit die Ähnlichkeit mit den Strafanstalten vollständig wird, kommt nunmehr auch der gleiche Anzug hinzu. Aufseher haben wir ja schon in den Kontrolleuren, auch Schildwachen, welche das Entweichen der zur Sozialdemokratie Verurteilten über die Grenze verhüten. Zu unsern Zuchthäusern bestand nur ein zehnstündiger, nicht ein zwölfstündiger Maximalarbeitstag. Die Prügelstrafe, welche Sie zur Durchführung dieses zwölfstündigen Normalarbeitstages jetzt einzuführen genötigt sind, würde seinerzeit selbst in manchen Zuchthäusern für entbehrlich angesehen. Aber im Zuchthaus war wenigstens eine Begnadigung möglich, welche auch für lebenslänglich Eingesperrte den Weg zur Freiheit öffnen konnte. Ihrem sozialdemokratischen Zuchthaus aber ist man lebenslänglich verfallen, da führt nichts hinaus als Selbstentleibung. (Bewegung.)

Sie suchen alles dies aus Übergangsverhältnissen zu erklären. Mit nichten, die Zustände werden immer schlimmer werden, je länger die Sozialdemokratie die Herrschaft führt. Sie haben erst die obersten Stufen zurückgelegt, welche zum Abgrunde führen. Noch erhellt Sie das Licht des Tages, von welchem Sie sich abwenden. Alle Bildung, alle Übung, alle Geschicklichkeit für die Arbeit verdanken Sie noch den früheren Zuständen. In den sozialdemokratischen Bildungsanstalten aber verlottert jetzt die Jugend, nicht weil es ihr an Zeit and Bildungsmitteln gebricht, sondern weil dem einzelnen das Interesse fehlt, sich solche Bildung auch anzueignen als Bedingung für das spätere Fortkommen.

Sie leben noch von den Bildungskapital und ebenso von dem wirtschaftlichen Kapital, welches Ihnen aus der früheren Ordnung überkommen ist. Sie vermögen aber jetzt nichts mehr zu erübrigen für neue wirtschaftliche Anlagen, Verbesserungen, Wege, Gebäude a. s. w. Im Gegenteil, Sie lassen das Vorhandene verfallen, Ihnen fehlen die Mittel dazu, weil Sie mit dem Unternehmergewinn auch den Zinsanspruch beseitigt haben, welcher früher die Privaten veranlaßte, fortgesetzt neues Kapital zu bilden.

Jeder wirtschaftliche und wissenschaftliche Fortschritt hat mit der Beseitigung der freien Konkurrenz aufgehört. Das Eigeninteresse forderte früher den Scharfsinn und die Erfindungsgabe jedes einzelnen heraus, aber der Wetteifer vieler Gleichstrebenden zwang die Frucht der eigenen Anstrengungen wieder der Allgemeinheit zu Gute kommen zu lassen.

Alle Vorschläge des Herrn Reichskanzlers decken das vorhandene 12 Milliardendefizit so wenig, wie solche Organisation der Produktion und Konsumtion seinerzeit in den Zuchthäusern im Stande war, auch nur den dritten Teil der laufenden Kosten dieser Anstalten zu decken. Bald werden Sie wieder trotz des Programms des Reichkanzlers vor einem neuen und zwar noch größeren Defizit stehen. Darum freuen Sie sich nicht allzu sehr über alle Geburten als einen Zuwachs für die Sozialdemokratie. Im Gegenteil, denken Sie darüber nach, wie Sie eine Verminderung der Bevölkerung von oben herab regulieren. Selbst in der kümmerlichen Weise, wie es der Herr Reichskanzler jetzt in Aussicht zu nehmen gezwungen ist, vermag Deutschland aus der Grundlage Ihrer Gesellschaftsordnung in eine dünne und spärliche Bevölkerung dauernd zu erhalten. Für die sozialdemokratischen Nachbarstaaten gilt dasselbe. Das eherne Gesetz der Selbsterhaltung wird die Sozialdemokratie daher hüben und drüben nötigen, sich gegenseitig totzuschlagen, bis derjenige Überschuss von Menschen vertilgt ist, der nur bei einem Kulturleben, wie Sie es mit der früheren Gesellschaftsordnung zerstört haben, in Europa lebensfähig ist.

Bis jetzt ist meines Wissens die Hoffnung Bebels, die Wüste Sahara durch Bewässerung in üppige Ländereien umzuwandeln und den Überschuss der europäischen Sozialdemokratie dorthin abzugeben, noch in keiner Weise ihrer Erfüllung näher gerückt. Ebensowenig dürfte die Neigung unter Ihren für Deutschland überflüssigen Genossen sehr verbreitet sein, im Norden von Norwegen und Sibirien sich anzusiedeln, wie dies seiner Zeit Herr Bebel die Güte hatte, für die sozialdemokratische Übervölkerung in Aussicht zu nehmen. (Heiterkeit links.)

Ob aus dem jetzt beschritten Wege zum Untergang unseres Volkes noch ein Aufenthalt möglich ist, ich weiß es nicht. Viele Milliarden an Werten hat die Umwälzung schon zerstört, Milliarden müßten weiter geopfert werden, um die jetzt vorhandene Desorganisation der Volkswirtschaft wieder zu beseitigen.

Während wir im alten Europa derart Dank Ihren Bestrebungen dem Untergang entgegentreiben, erhebt sich jenseits des Meeres immer wohlhabender und mächtiger ein Gemeinwesen, das auf dem Privateigentum und der freien Konkurrenz beruht und dessen Bürger sich niemals ernsthaft von den Irrlehren der Sozialdemokratie haben bestricken lassen.

Jeder Tag der Verzögerung in der Befreiung unseres Vaterlandes von dieser unseligen Verirrung der Geister führt uns dem Abgrunde näher. Darum nieder mit dem sozialdemokratischen Zuchthausstaat, es lebe die Freiheit! (Stürmischer Beifall auf der linken Seite und auf den Tribünen, lebhaftes Zischen und große Unruhe auf der rechten Seite).

Der Präsident ruft den Redner wegen der Äußerungen am Schluß seiner Rede zur Ordnung und befiehlt, in Anbetracht der wiederholten Kundgebungen, die Räumung der Tribünen.

Zu Folge Räumung der Tribünen, welche mit nicht geringen Schwierigkeiten erfolgte, mußte auch ich vom Platze weichen und kann deshalb über den weiteren Verlauf der Sitzung nicht berichten. Indessen verfügt die Regierung bei unseren Zuständen bekanntlich über eine ihr sklavisch ergebene Reichstagsmehrheit, sodaß die Annahme der vom Reichskanzler angekündigten Vorlagen von vornherein keinem Zweifel unterliegt. Auch die Erregung der Gattin des Reichskanzlers über die von ihrem Gemahl angekündigte neue Kleiderordnung vermag daran nichts zu ändern.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder