Eine Reichstagssitzung.

Mit großer Mühe erlangten Franz und ich heute Einlaß zur Tribüne im Reichtagsgebäude am Bebelplatz, früher Königsplatz. Es sollte die Entscheidung über die Sparkassengelder getroffen werden. In Berlin gibt es, wie Franz wissen will, jetzt bei 2 Millionen Einwohnern nicht weniger als 500.000 Sparkassengläubiger. Kein Wunder, dass die ganze Umgebung des Reichstags, der Bebelplatz, die Sommerstraße, von einer großen Menge von Personen, zumeist in ärmlicher Kleidung, bedeckt war, welche dem Ergebnis der Reichstagsverhandlungen mit Spannung entgegensah. Doch war schon bei unserer Ankunft die Schutzmannschaft mit der Räumung der Straßen beschäftigt.

Da allgemeine Wahlen für den Reichstag noch nicht stattfinden können und die Mandate aller Mitglieder der Bourgeoisparteien für erloschen erklärt worden sind, so sahen wir nur unsere alten Genossen und erprobten Vorkämpfer unten im Sitzungssaale versammelt.


Der Chef des statistischen Reichsamts leitete im Auftrage des Reichskanzlers die Verhandlungen ein durch einen statistischen Vortrag über die tatsächliche Bedeutung der vorliegenden Frage. Allein bei den öffentlichen Sparkassen Deutschlands waren 8 Millionen Guthaben vorhanden über Einlagen im Betrage von mehr als 5 Milliarden Mark. (Hört! Hört! links.) Der jährliche Zinsbetrag überstieg 150 Millionen Mark. Die Einlagen in den Sparkassen waren angelegt mit ungefähr 2.800 Millionen Mk. in Hypotheken, mit 1.700 Millionen Mk. in Inhaberpapieren, mit 400 Millionen Mk. bei öffentlichen Instituten und Korporationen und mit 100 Millionen Mk. gegen Faustpfand. Die Inhaberpapiere sind überall durch Gesetz annulliert worden. (Sehr gut! links) Die Hypothekenschulden sind mit dem Übergang alles Grundbesitzes auf den Staat erloschen. Ebenso sind die auf Faustpfand ausgeliehenen Gelder mit der unentgeltlichen (Rückgabe der Pfänder in den öffentlichen Leihanstalten auch zum Nutzen des Volkes verwendet worden. (Beifall links.) Mittel zur Auszahlung der Spartasseneinlagen sind somit in keiner Weise vorhanden. Eine Vergütung an die Einleger kann erfolgen in Form der Ausgabe von Bons, welche zu einer Entnahme aus den Warenvorräten des Staates berechtigen.

Nach diesem Vortrag ergriff ein Redner von der rechten Seite das Wort. Millionen braver Arbeiter und guter Sozialdemokraten (Unruhe links) werden sich bitter enttäuscht fühlen, wenn sie jetzt, wo dem Arbeiter der „volle Ertrag seiner Arbeit“ zu Teil werden soll, sich um die Früchte harter Arbeit durch Vorenthaltung ihrer Sparkassengelder gebracht sehen. Was hat die Ersparnisse ermöglicht? Angestrengter Fleiß. Sparsamkeit, Enthaltung von manchem Genuß, z. B. in Tabak und Spirituosen, den sich andere Arbeiter erlaubten. (Unruhe links) Mancher hat geglaubt, sich durch die Hinterlegung in der Sparkasse einen Notgroschen für außerordentliche Unglücksfälle, eine Erleichterung für sein Alter verschaffen zu können. Die Gleichstellung mit denjenigen, welche nichts vor sich gebracht, wird als Unrecht von Millionen empfunden (Beifall rechts und stürmische Zurufe von den Tribünen).

Der Präsident droht die Tribünen räumen zu lassen. (Zurufe: Wir sind das Volk!)
Präsident: Dem Volk ist ein durch allgemeine Abstimmung geordnetes Verwerfungsrecht zu Gesetzen gegeben, aber kein Recht zur Teilnahme an der Diskussion im Reichstag. (Lebhafter allgemeiner Beifall). Die Ruhestörer werden hinausgeführt.

Ein Redner von der linken Seite des Reichstags erhält das Wort. Ein richtiger Sozialdemokrat ist niemals auf Spargroschen bedacht gewesen. (Widerspruch rechts.) Wer den Sparaposteln der Bourgeois gefolgt ist, hat auf keine Rücksichtnahme im sozialen Staat in rechnen. Auch manches Sparkassengeld ist durch Beraubung des arbeitenden Volkes entstanden. (Widerspruch rechts.) Man soll nicht sagen, die Sozialdemokratie hängt zwar die großen Diebe, lässt aber Millionen kleiner Diebe laufen. Die Sparkassenkapitalien sind in ihren verschiedenen Anlagen mit schuldig gewesen an der Aufrechterhaltung des Ausbeutungssystems gegen das Volk (Lebhafter Beifall links). Nur ein Bourgeois kann gegen die Einziehung der Sparkassengelder Widerspruch erheben.

Der Präsident ruft den Redner zur Ordnung wegen der schweren Beleidigung, welche die Bezeichnung als Bourgeois gegen ein Mitglied des sozialdemokratischen Reichstags in sich schließt.

Unter großer Spannung erhebt sich dann der Reichskanzler von seinem Sitz: Ich muß beiden verehrten Vorrednern bis zu einem gewissen Grade Recht geben. Es ist manches richtig von dem, was gesagt worden ist über die moralische Entstehung der Sparkassengelder und auch über die unmoralische Wirkung derselben unter der Geltung der Kapitalsherrschaft. Aber lassen wir durch rückwärtsgerichtete Betrachtungen nicht unsern Blick abziehen von der großen Zeit, in der wir leben. (Sehr gut!) Wir müssen die Frage ohne Sentimentalität als zielbewusste Sozialdemokraten entscheiden. — Fünf Milliarden wieder herauszugeben an einen Bruchteil der Bevölkerung von 8 Millionen Personen, heißt die neue soziale Gleichheit aufbauen auf einer Ungleichheit (Beifall). Diese Ungleichheit würde sich alsbald in allen Konsumtionsverhältnissen fühlbar machen und die künftige planmäßige Organisation der Produktion und Konsumtion durchbrechen. Mit demselben Recht wie heute die Spartassengläubiger, könnten dann morgen auch diejenigen ihr Kapital zurück verlangen, welche zufällig ihre Ersparnisse nicht in der Sparkasse, sondern in Werkzeugen, Vorräten ihres Berufs, in Arbeitsmitteln oder Grundbesitz angelegt haben. (Sehr richtig!) Wo bleibt denn zuletzt eine feste Grenze für die Reaktion gegen die bestehende sozialdemokratische Ordnung? Was immerhin die Sparer sich von den Früchten des Fleißes und der Enthaltsamkeit versprochen haben mögen, zehnfach und hundertfach wird solches jetzt allen zu Teil werden durch die großartigen Einrichtungen, welche wir zum Wohl der Arbeiter im Begriff stehen zu schaffen. Aber wenn Sie diese Milliarden uns jetzt entziehen und um diesen Betrag das Kapital schwächen, welches jetzt zum Wohl der Allgemeinheit arbeiten soll, so sind meine Kollegen im Ministerium und ich nicht länger in der Lage, die Verantwortung für die Durchführung einer zielbewußten Sozialdemokratie zu übernehmen. (Stürmischer Beifall).

Es war noch eine große Anzahl Redner zum Worte gemeldet. Der Präsident aber machte darauf aufmerksam, daß in Anbetracht der vorausgegangenen Kommissionssitzungen und der Zeit, welche jedem Abgeordneten für die Lektüre der Drucksachen zugebilligt ist, der achtstündige Maximalarbeitstag abgelaufen sei und eine Fortsetzung der Sitzung deshalb erst am andern Tag stattfinden könne. (Rufe: Zur Abstimmung! Zur Abstimmung!) Ein Antrag auf Schluss der Diskussion wird eingebracht und angenommen. Bei der Abstimmung geht der Reichstag über die Petitionen auf Herausgabe der Sparkassengelder gegen wenige Stimmen zur einfachen Tagesordnung über. Die Sitzung ist geschlossen.

Unwillige Rufe wurden vielfach auf den Tribünen laut und pflanzten sich auf die Straße fort. Doch hatte die Schutzmannschaft die ganze Umgebung des Reichstagsgebäudes geräumt. Eine Anzahl tumultuierender Personen wurden verhaftet, namentlich viele Frauen. In größerer Entfernung vom Reichstagsgebäude sollen einzelne Abgeordnete, welche gegen die Herausgabe der Sparkassengelder gestimmt hatten, gröblich insultiert worden sein. Die Schutzmannschaft hat, wie erzählt wird, vielfach von ihren neuen Waffen, sogenannten Totschlägern, welche nach englischem Muster eingeführt worden sind, gegen das Publikum unbarmherzig Gebrauch gemacht. Zu Hause bei uns gab es sehr erregte Szenen, meine Schwiegertochter ließ sich gar nicht beruhigen, vergebens suchte meine Frau sie zu trösten unter dem Hinweis auf die reiche Ausstattung, welche alle Brautpaare demnächst von der Regierung zu erwarten härten. „Ich will nichts geschenkt haben“, rief sie ein über das andere Mal heftig aus, „ich will den Ertrag meiner Arbeit. Eine solche Zucht ist ja schlimmer als Raub und Diebstahl.“

Ich fürchte, das heutige Erlebnis ist nicht geeignet, meine Schwiegertochter in der Festigkeit ihrer sozialdemokratischen Grundsätze zu bestärken. Auch mein Schwiegervater hat ein Sparkassenbuch. Wir wagen es nicht, dem alten Manne zu sagen, dass dasselbe wertlos geworden ist. Er ist kein Geizhals. Aber noch dieser Tage erzählte er, dass er Zins und Zinseszins auslaufen lasse. Wir sollten bei seinem Tode seine Dankbarkeit erfahren für die Pflege, welche wir ihm bei uns haben angedeihen lassen. Man muss in der Tat so fest wie ich in den sozialdemokratischen Anschauungen geworden sein, um solche Verluste heiteren Mutes verschmerzen zu können.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder