Die neuen Staatsküchen.

Es ist doch eine wahrhaft bewundernswerte Leistung, daß heute in ganz Berlin mit einem Schlage 1.000 Staatsküchen, jede zur Speisung von je 1.000 Personen, eröffnet werden konnten. Zwar, wer sich eingebildet hat, daß es in diesen Staatsküchen hergehen werde, wie an der Table d'hôte der großen Hotels zur Zeit, als dort noch eine üppige Bourgeoisie in raffinierter Feinschmeckern schwelgte, muß sich enttäuscht finden. Natürlich gibt es in den Staatsküchen der sozialisierten Gesellschaft auch keine schwarz befrackten und geschniegelten Kellner, auch keine ellenlangen Speisekarten und dergleichen.

Alles ist für die neuen Staatsküchen bis in die kleinsten Einzelheiten hinein genau vorgeschrieben. Niemand wird vor dem andern auch nur im geringsten bevorzugt. Eine Wahl unter den verschiedenen Küchen ist natürlich nicht gestattet. Jeder hat das Recht in der Küche seines Bezirks zu speisen, innerhalb dessen die neue Wohnung gelegen ist. Die Hauptmahlzeit wird verabreicht zwischen 12 Uhr mittags und 6 Uhr abends. Jeder meldet sich bei derjenigen Küche, welcher er zugewiesen ist, entweder in der Mittagspause seiner Arbeitzeit ober nach Beendigung der Arbeit.


Leider kann ich mit meiner Frau, wie ich dies seit 25 Jahren gewohnt war, außer Sonntags nicht mehr zusammen essen, da unsere Arbeitszeiten ganz verschieden liegen. Nach dem Eintritt in den Speisesaal läßt man sich die Speisemarke aus dem Geldzertifikat durch den Buchhalter loslösen und erhält dafür eine Nummer, welche die Reihenfolge bezeichnet. Sobald durch Freiwerden von Plätzen an den Tischen die Nummer an die Reihe kommt, holt man sich seine Portion am Anrichtetisch. Schutzmänner wachen streng über die Ordnung. Diese Schutzmänner — ihre Zahl ist jetzt- in Bertin auf 12.000 vermehrt worden — machten sich allerdings in den Küchen heute ein wenig unangenehm mausig. Das Gedränge in dem Speiseraum war freilich etwas groß. Berlin erweist sich zu eng für die großartigen Einrichtungen der Sozialdemokratie.

Es wurde natürlich bunte Reihe gemacht. Jeder nimmt Platz, wie er gerade von der Arbeit kommt. Neben einem Müller saß mir gegenüber ein Schornsteinfeger. Darüber lachte der Schornsteinfeger herzlicher als der Müller. Die Tischplätze sind etwas schmal, sodaß die Ellenbogen gegenseitig behinderten. Indes dauert das Essen ja nicht lange, die Esszeit ist sogar zu knapp bemessen. Nach Ablauf der zugemessenen Minuten, über deren Innehaltung an jeder Tischreihe ein Schutzmann mit der Uhr in der Hand wacht, muß der Platz unweigerlich dem Hintermann eingeräumt werden.

Es ist doch ein erhebendes Bewußtsein, daß in allen Staatsküchen Berlins an demselben Tage überall dasselbe gekocht wird. Da jede Küche genau weiß, auf wie viel Personen sie sich einzurichten hat und diesen Personen jede Verlegenheit erspart ist, aus einer langen Speisekarte erst eine Auswahl zu treffen, so sind alle Verluste vermieden, welche durch übriggebliebene Speisen in den Restaurants der Bourgeoisie früher die Konsumtion so sehr verteuert haben. Diese Ersparnis gehört mit zu den größten Triumphen der sozialdemokratischen Organisation.

Ursprünglich wollte man, wie unsere Nachbarin, die Kochfrau, erzählte, in jeder Küche verschiedene Speisen derart zur Auswahl stellen, daß nach dem Allewerden des einen Gerichts sich die Auswahl für die später Kommenden fortgesetzt verringerte. Indes überzeugte man sich bald, daß dies ein Unrecht gewesen wäre, für Diejenigen, welche in Folge ihrer in andere Tagesstunden fallenden Arbeitszeit erst später das Speisehaus hätten aussuchen können.

Alle Portionen sind für jedermann gleich groß. Ein Nimmersatt, welcher heute unter Verletzung des sozialdemokratischen Gleichheitsprinzips noch eine Zulage verlangte, wurde herzlich ausgelacht. Auch der Gedanke, den Frauen kleinere Portionen zuzumessen, ist als der Gleichberechtigung beider Geschlechter und ihrer gleichen Arbeitspflicht widersprechend von vornherein zurückgewiesen worden. Freilich müssen auch die Männer von schwerem Körpergewicht mit derselben Portion fürlieb nehmen. Aber für diejenigen darunter, welche sich in ihrem früheren Wohlleben als Bourgeois gemästet haben, ist das Zusammenziehen des Schmachtriemens ganz gesund. Solchen Personen dagegen, welche durch sitzende Lebensweise und durch Naturanlage eine stärkere Leibesfülle gewonnen haben, ist bei dem achtstündigen Maximalarbeitstag freie Zeit gewährleistet, sich anderweitig zu trainieren. Auch kann sich ja jeder von Hause so viel von seiner Brotportion als Zukost zur Mahlzeit mitbringen, wie er immer essen mag. Überdies ist es denjenigen, welchen ihre Portion zu groß ist, freigestellt, ihren Tischgenossen einen Teil davon abzugeben.

Wie unsere Nachbarin erzählte, hat das Ministerium für Volksernährung dem Küchenzettel die wissenschaftlichen Erfahrungen darüber zu Grunde gelegt, wie viel Gramm dem Körper, um ihn in seinem stofflichen Zustand zu erhalten, an stickstoffhaltigen Nährstoffen (Eiweiß) und stickstofffreien Nährstoffen (Fett und Kohlhydrate) zuzuführen sind. Es gibt täglich für jedermann Fleisch (durchschnittlich 150 Gramm pro Portion) und daneben entweder Reis, Graupen oder Hülsenfrüchte (Erbsen, Bohnen. Linsen), fast immer mit reichlichen Kartoffeln. Donnerstag wird Sauerkohl mit Erbsen verabreicht Was in Berlin an jedem Tage gekocht wird, ist an den Anschlagsäulen zu lesen. Dieselben veröffentlichen den Küchenzettel schon für die ganze Woche, genau so wie früher den Theaterzettel.

Wo hat es je in der Welt ein Volk gegeben, in welchem wie jetzt bei uns jedermann täglich seine Fleischportion gesichert ist? Selbst ein französischer König konnte als höchstes Ideal sich nur vorstellen, daß am Sonntag jeder Bauer sein Huhn im Topfe haben sollte. Dabei muß man sich noch gegenwärtig halten, daß neben der gleichen Grundlage, welche für die Ernährung von Staatswesen gelegt wird, dem persönlichen Belieben eines Jeden überlassen bleibt, bei den Nebenmahlzeiten sich morgens und abends alles dasjenige zu gönnen, was sein Gaumen verlangt, natürlich immer in den Grenzen des Geldzertifikats.

Keine Brotlosigkeit, keine Obdachlosigkeit mehr! Für jedermann an jedem Tage Fleisch im Topfe! Schon dieses Ziel erreicht zu haben, ist ein so erhabener Gedanke, daß man darüber manche Unbequemlichkeiten, die allerdings der neue Zustand mit sich bringt, vergessen muß. Freilich, die Fleischportion könnte noch etwas größer sein. Aber unsere vorsichtige Regierung wollte zu Anfang nicht mehr verabreichen, als bisher in Berlin mittags durchschnittlich verzehrt wurde. Später soll ja Alles bei uns viel reichhaltiger und großartiger werden, je mehr die neuen Einrichtungen sich vervollkommen und die Übergangsverhältnisse überwunden werden.

Eines nur raubt dem Flügelschlag meiner Seele den höheren Schwung: die Bekümmernis meiner guten Frau. Sie ist recht nervös geworden und wird es täglich immer mehr. Während unserer 25 jährigen Ehe haben wir nicht so viel erregte Auseinandersetzungen gehabt, wie seit der Begründung der neuen Ordnung. Die Staatsküchen behagen ihr auch nicht. Das Essen, meint sie, sei Kasernenkost und keine Hausmannskost. Das Fleisch sei zu ausgekocht, die Brühe zu wässerig u. s. w. Wenn sie schon acht Tage im voraus wisse, was sie jeden Tag essen müsse, verliere sie schon davon den Appetit, und dabei hat sie doch früher mir so oft vorgeklagt, sie wisse bei den teuren Preisen gar nicht mehr, was sie kochen solle. Es paßte ihr früher stets, wenn einmal Sonntags nicht gekocht zu werden brauchte, weil wir einen kleinen Ausflug unternahmen. Nun, Frauen haben immer an Speisen etwas auszusetzen, die sie nicht selbst gekocht haben.

Ich hoffe, daß, wenn sie erst einmal die Kinder und den Vater in der Anstalt besucht und wohl und munter gefunden hat, auch der Gleichmut ihrer Seele wieder zurückkehren wird, der sie früher selbst in den schwierigsten Zeiten unserer Ehe niemals verlassen hat.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder