Die Gegenrevolution beginnt.

Die strikenden Eisenarbeiter wollen sich nicht aushungern lassen. Ich hatte meinen Schwiegervater im Schloß Bellevue besucht, wo derselbe sich in der dort eingerichteten Altersversorgungsanstalt befindet. Da höre ich, daß Eisenarbeiter, welche sich in den ehemals Borsigschen Werken versammelt hatten, den Versuch machen, das Brotmagazin zu stürmen, welches sich Schloß Bellevue gegenüber an andern Ufer der Spree zwischen dieser und dem Eisenbahndamm befindet. Indes alle Zugänge zu dem großen Platz, auf welchem sich die Proviantmagazine befinden, sind geschlossen. Die Arbeiter wollen über die hohen Mauern klettern, da geben die im Innern aufgestellten Schutzmannsposten Feuer und die Kletterer büßen das Wagnis mit dem Leben.

Die Eisenarbeiter erklettern nun den Eisenbahndamm, welcher Aussicht auf das Innere des Platzes gewährt, auf dem sich die zwischen dem Damm und der Spree liegenden Proviantgebäude befinden. Sie reißen die Schienen auf, durchschneiden die Telegraphendrähte; aber wiederum bedecken Tote und Verwundete den Platz infolge des Feuers der Schutzmannschaft aus den Fenstern und Luken der Proviantgebäude.


Nun setzen sich die Eisenarbeiter in den oberen Stockwerken der hinter dem Eisenbahndamm liegenden Häuser der Lüneburger Straße fest. Aus den Fenstern dieser Häuser einerseits und der Proviantgebäude andererseits entspinnt sich ein heftiges Feuergefecht. Die Minderzahl der Besatzung der Proviantgebäude verfügt über bessere Waffen und reichlichere Munition.

Neue Trupps der Eisenbahnarbeiter versuchen inzwischen von dem Helgolander Ufer aus in die Umfassungsmauern des Platzes, auf welchem sich die Proviantgebäude befinden, Bresche zu legen. Aber durch den Schlossgarten von Bellevue ist inzwischen unbemerkt Verstärkung der Schutzmannschaft im Laufschritt hinzugekommen, hat die Fußgängerbrücke besetzt, welche sich gedeckt unter der Eisenbahnbrücke befindet, und von dort ein mörderisches Feuer auf den größtenteils unbewaffneten Menschenhaufen auf dem Helgoländer Ufer eröffnet. Unter furchtbarem Rachegeschrei stiebt derselbe auseinander, Knäuel von Toten und Verwundeten zurück, lassend. Jetzt heißt es, die Artillerie der Schutzmannschaft sei herbeigerufen worden um vom andern Spreeufer aus die Lüneburger Straße zu beschießen.

Ich verlasse den blutigen Schauplatz, um auf einem Umwege durch den Tiergarten mich nach Berlin SW. zu begeben. Überall stehen die Menschen aufgeregt truppweise beisammen. In Berlin SW. haben noch keine Gewalttätigkeiten stattgefunden, aber man hört, daß die Eisenarbeiter de der Erstürmung der Brotmagazine in Tempelhof und in der Köpenickerstraße erfolgreicher gewesen sind. Auch zahlreiche Gewehre und Munitionsvorräte, sollen an verschiedenen Stellen ihre Hände gefallen sein. Sicheres ist nicht zu erfahren, aber man raunt sich zu, daß der Aufstand auf dem rechten Spreeufer immer allgemeiner werde.

Die Schutzmannschaft war in der letzten Zeit auf 30.000 Mann gebracht worden. Sie besteht aus fanatischen Sozialdemokraten, welche man aus dem ganzen Reich ausgewählt hat. Auch ist ihr zahlreiche Kavallerie und Artillerie betgegeben worden. Aber was werden die über ganz Berlin zerstreuten Abteilungen vermögen, wenn die Bevölkerung von 2 Millionen wirklich allgemein an allen Ecken und Enden sich erhebt.

Das rauchlose Pulver erleichtert gegen früher das Niederschießen aus dem Hinterhalt. Die jetzigen Schusswaffen kommen besondert der gedeckten Stellung in den Häusern zu statten.

Fortgesetzt eilen durch SW. Trupps von Schutzleuten zu Fuß im Laufschritt und zu Pferde in Trab nach den Linden zu. Die bewaffnete Macht scheint in Berlin E. am Schloß und unter den Linden zusammengezogen zu werden. Sin wird das enden?

Ich fand Großvater bei meinem Besuch recht stumpf und teilnahmslos. In Ermangelung eines Familienkreises und einer anregenden Umgebung nehmen seine Geisteskräfte reißend ab. Er erzählte mir mehrmals dasselbe, tat wiederholt Fragen nach Dingen, die schon beantwortet waren, und verwechselte sogar die Personen und Generationen in seiner Familie. Ein trauriges Alter!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder