Die Flucht.

Schreckliche Tage haben wir erlebt Am Sonntag früh kam Franz plötzlich an auf der Durchreise nach Stettin, wohin er, wie er angab, versetzt worden sei. Meine Frau zeigte sich über die Ankunft gar nicht verwundert, desto aufgeregter war sie bei seiner Abreise. Sie schluchzte laut auf, hing an seinem Halse und konnte sich gar nicht von ihrem Sohne trennen. Auch Franz verabschiedete sich von mir, als gelte es einen Abschied auf Nimmerwiedersehen. Agnes, Franzens Braut, habe ich nicht gesehen. Beide wollten auf dem Stettiner Bahnhof zusammentreffen.

Mittwoch las ich meiner Frau aus dem „Vorwärts“ mit gleichgültiger Stimme eine Nachricht vor, daß an der Seeküste wieder flüchtige Auswanderer von den Grenzpatrouillen niedergeschossen sind, meine Frau ruft entsetzt aus: „Wo denn? Als ich ihr antwortete: „Auf der Rhede von Saßnitz“, fiel sie ohnmächtig zurück. Mit Mühe gelang es mir, sie allmählich wieder zum Bewußtsein zu bringen. In abgerissenen Worten erzählte sie mir, daß Franz und Agnes am Sonntag zusammen abgereist sind, und nicht nach Stettin, sondern nach Saßnitz auf Rügen, um von dort aus Deutschland zu verlassen. In dem Zeitungsartikel war noch näher ausgeführt, daß flüchtige Auswanderer Widerstand geleistet hätten, als das von Stettin kommende dänische Postschiff beim Anlegen in Saßnitz von der Grenzwache visitiert wurde, und die flüchtigen Auswanderer mit Gewalt auf`'s Land zurückgeführt werden sollten.


Furchtbare Stunden, geteilt zwischen Kummer und Angst, brachten wir zu, bis eine neue Nummer des „Vorwärts“ die Namen der Getöteten und Verhafteten veröffentlichte und sich Franz und Agnes nicht auf dieser Liste befanden. Aber was war aus ihnen geworden?

Meine Frau gestand mir nun ein, was alles vorhergegangen war. Franz hatte schon vor seiner Abreise nach Berlin bei der letzten Geburtstagsfeier von Mutter dieser seine feste Absicht mitgeteilt, Deutschland, dessen Zustände ihm unerträglich seien, sobald wie möglich zu verlassen. Er bat seine Mutter inständigst, mir, von dessen gesetzlichem Sinn er Widerstand befürchtete, keine Silbe darüber mitzuteilen. Vergeblich hat meine Frau ihm die Sache auszureden versucht, er blieb bei seinem Entschluß, und das Mutterherz konnte den Vorstellungen des Sohnes nicht mehr widerstehen. Aus früherer Zeit hatte sich meine Frau eine Anzahl Goldstücke erspart und auch vor mir verborgen gehalten. Dieses Geld übergab sie Franz zur Bestreitung der Überfahrtskosten auf einem ausländischen Schiff.

Damals widerstrebte noch Agnes. Sie war bereit, wenn es sein mußte, Franz bis an das Ende der Welt zu folgen, wie sie sagte, aber sie vermochte die Notwendigkeit, sich von allen anderen Lieben hier zu trennen, noch nicht einzusehen. Bald aber gestalteten sich ihre eigenen Verhältnisse, was ich alles jetzt erst erfahre, immer widerwärtiger.

Still und sittsam hatte das junge Mädchen für sich in der elterlichen Wohnung Putzarbeiten hergestellt und an ein großes Geschäft abgeliefert. Nun aber mußte Agnes in einer großen Näherei arbeiten und in einem großen gemeinschaftlichen Arbeitssaale mit Frauenspersonen von teilweise recht leichten Sitten tagsüber zusammen sein. Ihre keusche Jungfräulichkeit empörte sich über die Art mancher Gespräche und über die Umgangsformen gegenüber den männlichen Betriebsleitern. Klagen und Beschwerden machten die Sache nur noch schlimmer. Bei ihrer hübschen Erscheinung wurde sie bald der Gegenstand unausgesetzter Nachstellungen seitens eines der Betriebsleiter, schroffe Zurückweisungen suchte derselbe durch Schikanen aller Art im Arbeitsverhältnis zu rächen. — Ähnliches mag ja auch früher in solchen Verhältnissen vorgekommen sein. Aber damals war wenigstens eine Rettung durch einen Wechsel der Arbeitsstätte möglich. Heute aber betrachten manche Betriebsleiter die Arbeiterinnen fast wie wehrlos ihnen überlieferte Sklavinnen. Die höheren Beamten haben davon Kenntnis, aber sie selbst treiben es vielfach nicht besser in solcher Ausnutzung ihrer Machtstellung und beurteilen deshalb Klagen und Beschwerden, welche an sie gelangen, sehr nachsichtig. Da bleibt denn den Anverwandten oder Verlobten der in ihrer Ehre bedrohten jungen Mädchen kaum etwas anderes übrig, als zur Notwehr zu schreiten. Schwere Misshandlungen, Mord und Totschlag sind, wie wir in unseren Konferenzen der Kontrolleure täglich erfahren, die Folge solcher Zustände.

Agnes, die vaterlose Waise, hat m Berlin keinen Beschützer. Die Klagebriefe der Braut brachten Franz in Leipzig zur Verzweiflung und förderten den Entschluß bei ihm zur Reife, mit der Ausführung des Fluchtplanes nicht länger zu zögern. Agnes wünschte dies jetzt selbst auf das dringendste. Meine Frau half in den letzten Nächten die Reisekleider beschaffen und Alles vorbereiten.

So war der entscheidende Sonntag herangekommen, über dessen Ausgang wir so lange in qualvoller Ungewissheit blieben. Endlich, nach fast 8 Tagen, wurde derselben ein Ende gemacht Es traf ein Brief der Beiden von der englischen Küste ein. Sie hatten sich nicht auf dem dänischen Postschiff befunden. Der Fischer, bei dem die Beiden in Saßnitz eine Unterkunst gefunden, war ein entfernter Verwandter meiner Frau. Die dortige Strandbevölkerung ist gegen die neue Ordnung überaus feindselig gestimmt, weil dieselbe ihnen den bisherigen reichen und bequemen Verdienst von den Badegästen geraubt hat. Denn die sozialisierte Gesellschaft gestattet Badereisen nur solchen, welchen sie nach Prüfung durch eine ärztliche Kommission ausdrücklich verordnet ist.

Unser umsichtiger Fischer widersetzte sich dem Vorhaben des Paares, eines der Postschiffe, auf welche in letzter Zeit besonders scharf vigilirt wird, zur Flucht zu benutzen. Der Fischer fuhr die Beiden zu der Zeit, als gerade die Aufmerksamkeit der Grenzwache dem Postschiff zugewendet war, auf seinem Fischerkahn bis auf die Höhe von Stubbenkammer in die See hinaus und brachte sie dort glücklich an Bord eines vorüberfahrenden von Stettin zurückkehrenden englischen Frachtdampfers. Die Engländer, deren Handel durch die neue Ordnung in Deutschland sehr benachteiligt wird, sind stets gern dabei, der sozialdemokratischen Regierung durch Aufnahme flüchtiger Auswanderer ein Schnippchen zu schlagen. So sind denn Agnes und Franz nach kurzer Überfahrt glücklich nach England gelangt und befinden sich heute bereits auf der Überfahrt nach New York.

Die armen Kinder! Was haben sie ausgestanden! Und erst meine gute Frau, welche alle ihre Sorgen und Gedanken so lange vor mir in ihrer Brust verschlossen hat! Was kann ich im Leben noch tun, um ihr in Liebe alle diese mütterliche Aufopferung zu vergelten!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder