Der große Umzug.

Statt der Droschke, welche heute die Kinder und Großvater abholen sollte, hielt am Morgen ein Möbelwagen vor der Tür. Mit der Übersiedelung hätte es noch bis zum Abend Zeit, so sagte der Schutzmann. Zuvor aber sei er beordert worden, Möbel aufladen zu lassen.

Was soll denn das heißen, rief meine Frau erschrocken, ich denke, das Hausgerät bleibt Privateigentum.


Gewiss, gute Frau, sagte der Schutzmann, alles Hausgerät sollen wir auch nicht abholen, sondern nur die hier im Inventar bezeichneten Stücke nimmt die Gesellschaft in Anspruch. Dabei holte er ein Inventar hervor, welches wir früher hatten einliefern müssen, und zeigte uns auch eine Bekanntmachung im „Vorwärts“, welche wir allerdings unter den Aufregungen der letzten Tage übersehen hatten.

Als meine Frau sich gleichwohl von ihrem Erstaunen über das Abholen von Möbeln nicht erholen konnte, meinte der Beamte, welcher sich übrigens recht höflich benahm: Aber, liebe Frau, wo sollen wir denn sonst die Möbel hernehmen, um alle die neuem Anstalten für Kindererziehung, Altersversorgung, Krankenpflege u. s. w. auszustatten?

Ja, warum gehen Sie denn nicht zu den reichen Leuten, welche ganze Häuser mit den schönsten Möbeln bis zum Dach vollgepfropft haben, und leeren dort aus?

Tun wir auch, Frauchen, schmunzelte der Beamte, in der Tiergartenstraße, Viktoriastraße, Regentenstraße und überall dort herum hält ein Möbelwagen hinter dem andern. Der Verkehr ist für anderes Fuhrwerk bis auf weiteres völlig gesperrt. Kein Part behält mehr als zwei Betten und an sonstigem Gerät auch nicht mehr, als in zwei ober drei große Stuben hineingeht. Aber das reicht alles noch nicht. Bedenken Sie doch, der Magistrat hat in Berlin bei 2 Millionen Einwohnern über 900.000 Personen, welche sich im Alter unter 21 Jahren befinden, in Kinderpflege- und Erziehungsanstalten unterzubringen, dazu 100.000 alte Leute über 65 Jahre in Versorgungsanstalten. Dazu kommt dann noch eine Verzehnfachung der Bettenzahl in den Krankenhäusern für die Krankenpflege. Woher dazu alles nehmen und nicht stehlen? Was wollen Sie denn auch mit den Betten und allen diesen Spinden und Tischen anfangen, wenn der alte Papa, der Junge dort und die Kleine nicht mehr zu Hause sind?
Ja, meinte meine Frau, wohin sollen unsere Lieben denn, wenn Sie zu uns zu Besuch kommen?

Nun, sechs Stühle bleiben Ihnen ja wohl. — Aber zum Logierbesuch? fragte meine Frau.

Das wird sich wohl schwer machen lassen, meinte der Beamte, wegen des Platzes in der künftigen Wohnung.

Es stellte sich heraus, dass meine gute Frau in ihrer etwas lebhaften Einbildung sich vorgestellt hatte, es würde bei der großen Wohnungsverteilung auf uns eine hübsche, wenn auch kleine Villa irgendwo in Berlin W kommen, in der mir dann ein ober zwei Zimmer für Logierbesuch einrichten könnten. Zu solcher Einbildung hatte meine Paula allerdings keine Veranlassung, denn Bebel hat es immer gesagt und geschrieben: Die Häuslichkeit soll auf das allernotwendigste beschränkt werden.

Paula suchte sich dann zu beruhigen in dem Gedanken, der Vater und die Kinder würden nach Übersiedlung der Möbel in ihren eigenen Betten schlafen können. Den bequemen Lehnsessel für ihren Vater hatte sie demselben ohnehin in die Versorgungsanstalt mitgeben wollen.

Nein, so ist es nicht gemeint, bemerkte der Beamte. Alles wird zusammengebracht, sortiert und dann passend verwendet, wie es sich gerade macht. Es würde doch eine kunterbunte Möblierung in den Anstalten herauskommen, wenn jeder dort für sich apart sein eigenes Gerümpel aufstellen wollte.

Darauf gab es dann wieder nettes Lamento. Den Sorgenstuhl hatte Großvater zu seinem letzten Geburtstag von uns geschenkt erhalten. Er war noch wie neu, und der Alte fühlte sich darin so mollig. In dem Kinderbett von Annie hatten der Reihe nach unsere Kinder geschlafen. Es war je nach dem Bedarf auf dem Boden gewandert und wieder heruntergeholt worden. Das große Spind, welches mir nachher Vater überließen, gehörte zu den ersten Stücken, die wir uns nach der Hochzeit auf Abzahlung kauften. Wir haben es uns sauer werden lassen müssen, um damals unfern Hausrat soweit zu vervollständigen. Der Spiegel war ein Erbstück von meinem Vater. Er pflegte sich vor demselben zu rasieren. Die Ecke dort unten hatte ich als Knabe abgestoßen, was mir derbe Prügel eintrug. So klebt an jedem Hausgerät ein Stück Lebensgeschichte von uns. Das sollte nun alles wie Trödelware auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Aber es half nun einmal nichts. Die Möbel wurden aufgeladen. Am Abend wurden dann auch richtig die Kinder und Großvater von einem andern Schutzmann abgeholt. Begleiten durften wir sie nicht. Das Jammern muß doch endlich einmal ein Ende nehmen, sagte der Wachtmeister barsch. Er hatte so unrecht nicht. Diese alte Gefühlsduselei passt nicht zu dem Geisteswehen der neuen Zeit. Jetzt, wo das Brüderreich der ganzen Menschheit beginnt und Millionen einander umschlungen halten, gilt es den Blick herauszuheben über die engen kleinbürgerlichen Verhältnisse einer vergangenen überwundenen Zeit.

Das sagte ich auch meiner Frau, als wir allein waren. Wenn es nur nicht so öde und still wäre in den halb ausgeleerten Räumen! Wir sind so allein wie jetzt seit dem ersten Jahr unserer Ehe nicht mehr gewesen.

Wie mögen die Kinder und Großvater heute Abend gebettet sein, unterbricht mich meine Frau soeben, ob sie wohl schlafen können? Annie schlief freilich schon beinahe, als der Schutzmann sie holte. Ob ihre Kleider wohl richtig abgeliefert sind und man ihr das lange Nachtröckchen angezogen hat, damit sie sich nicht erkältet? Sie strampelt sich doch im Schlaf immer die Decke fort. Ich hatte das Nachtröckchen oben auf die Kleider gelegt mit einem Zettel für die Wärterin.

Meine Frau und ich werden heute Nacht schwerlich ein Auge zutun. — Man muß sich eben an alles erst gewöhnen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder