Das Wahlergebnis.

Bei so viel Herzeleid erscheint alles Politische gleichgültig und schaal. Wenn die Gegenwart schweren Kummer auferlegt, verblasst die Sorge um eine entferntere Zukunft.

Franz hat in der Schätzung des Wahlergebnisses Recht behalten. Er meinte in seinem letzten Brief, daß in einer Gesellschaft, worin es keine persönliche und wirtschaftliche Freiheit des einzelnen mehr gibt, auch die freieste Staatsform keine politische Selbständigkeit mehr ermögliche. Wer derart in allen seinen persönlichen Lebensbeziehungen von der Regierung abhängig ist, wie es jetzt bei uns für die gesamte Bevölkerung zutrifft, vermag nur in den seltensten Fällen die moralische Kraft zu gewinnen, auch nur durch einen geheimen Stimmzettel eine den zeitigen Machthabern unerwünschte politische Wahl zu betätigen. So wenig wie für Soldaten in der Kaserne und für Sträflinge im Gefängnis könne das politische Wahlrecht in unserer sozialdemokratischen Gesellschaftsordnung eine ernsthafte Bedeutung haben.


Es ist richtig, die Regierungspartei hat ohne besondere Anstrengungen — nur etliche offenbar aus politischen Gründen zur Statuierung von Beispielen vorgenommene Versetzungen von Führern aus der „Freiheitspartei“ und der Partei der „Jungen“ wirkten einschüchternd — trotz aller herrschenden Missstimmung über zwei Drittel der abgegebenen Stimmen erhalten.

Ich selbst habe unter der Wucht des Schicksalsschlages, welcher meine Familie betroffen, entgegen meiner ursprünglichen Absicht für die Regierungspartei gestimmt. Denn, was sollte aus mir und meiner Frau werden, wenn wir in unserer, jetzigen Gemütsverfassung noch von einander getrennt würden durch eine Versetzung meinet Person in irgend einen entlegenen Provinzialort.

Seltsam ist es, daß gerade auf dem Lande, wo die größte Missstimmung herrscht, die meisten Stimmen für die Regierung abgegeben worden sind. Freilich rennt man sich dort, wo jeder einzelne noch mehr kontrolliert werden kann, als in der dichtgedrängten Bevölkerung einer Großstadt, mit der selbständigen Kundgebung einer oppositionellen Ansicht bei solcher Gelegenheit weniger heraus. Auch haben hier gerade in den unruhigsten Bezirken die letzten militärischen Maßnahmen sehr einschüchternd gewirkt.

In Berlin selbst ist die Regierungspartei in der Minderheit geblieben, so daß, da Berlin unter dem Proportionalwahlsystem nur einen einzigen Wahlkreis bildet, die Mehrheit der Berliner Abgeordneten der Opposition in der „Freiheitspartei“ angehört.

Die „Jungen“ haben schlecht abgeschnitten und trotz der starken Unterstützung der Frauenpartei für allgemeines Verehelichungsrecht nur einen einzigen Kandidaten durchgebracht. Die Stimmung im Volke ist offenbar nirgendwo mehr für einen weiteren Ausbau des sozialdemokratischen Staatswesens. Auch der einige Abgeordnete aus der Partei der „Jungen“, ist nur gewählt worden, weil die Partei der Freiheitsfreunde ihn wegen seines persönlichen schneidigen Auftretens gegen die Regierung in der Wahl unterstützen zu müssen glaubte.

Die Partei der Freiheit oder der Freiheitsfreunde hat, durch das ganze Land gerechnet, nahezu ein Drittel der Stimmen erlangt, trotzdem sie von der Regierungspartei als Partei des Umsturzes und der Untergrabung der gesellschaftlichen Ordnung in jeder Weise zu ächten gesucht wurde. Die Partei verdankt diesen relativen Erfolg wesentlich der Unterstützung der weiblichen Wähler, welche sich überhaupt an der Wahl weit stärker als die Herren vom stärkeren Geschlecht beteiligten und aus ihrer Erbitterung über die herrschenden Zustände insbesondere über die Beschränkung der Häuslichkeit und des Privatlebens, kein Hehl machten.

Insbesondere war seit Einführung der täglichen Kündigungsfristen für die ehelichen Verbindungen die große Zahl der eheverlassenen Frauen am Wahltage überaus tätig im Stimmzettelverteilen und Heranholen säumiger Wähler zur Urne.

Von Damen ist nur eine einzige in den Reichstag gewählt worden, nämlich die Gattin des neuen Reichskanzlers. Diese Dame rechnet sich nicht zur Regierungspartei, sondern hat sich als „wild“ bezeichnet. Sie hat in ihrer öffentlichen Wahlrede versichert, daß, wie sie bisher es schon in der Häuslichkeit ihrem jetzigen und auch allen früheren Gatten gegenüber gewohnt gewesen sei, sie auch im Reichstag offen und frei die Wahrheit sagen werde, wenn dies nach ihrer selbständigen Überzeugung das Interesse des Volkes erheischt. Die Regierungspartei glaubte diese Wahl der Gattin des Reichskanzlers nicht bekämpfen zu dürfen, teils aus Courtoisie, teils um an dieser Wahl die Gleichberechtigung der Frauen praktisch zu demonstrieren.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder