Auswanderung.

Die in Folge der Stiefelwichsfrage ausgebrochene Ministerkrisis dauert fort. Inzwischen ist ein schon vorher zu Stande gekommenes Gesetz gegen die unerlaubte Auswanderung erschienen. Die Sozialdemokratie beruht auf der allgemeinen Arbeitspflicht, ebenso wie die frühere Ordnung in der allgemeinen Militärpflicht ihre Stütze fand. So wenig es damals Personen im militärpflichtigen Alter gestattet war, ohne Erlaubnis auszuwandern, so wenig kann dies unser Staatswesen Personen in arbeitspflichtigem Alter erlauben. Altersschwache Leute und Säuglinge mögen auswandern, aber Personen, die ihre Erziehung und Bildung dem Staate verdanken, kann die Auswanderung nicht gestattet werden, so lange sie noch im arbeitspflichtigen Alter stehen.

In der ersten Zeit der neuen Ordnung waren es fast nur Rentner, welche mit ihren Familien über die Grenze gingen. Ihre Arbeitskraft war zwar mit in Rechnung gestellt, aber solche Rentner, bisher nur an Kuponabschneiden und Quittungsunterschreiben gewöhnt, leisteten tatsächlich so wenig, daß man auf ihre werte Mitarbeiterschaft verzichten konnte. Dafür, daß sie Geld und Geldeswert nicht über die Grenze mitnahmen, war ja zur Genüge gesorgt worden. Auch die Auswanderung fast aller Maler, Bildbauer und vieler Schriftsteller wäre noch zu verschmerzen. Den Herren gefiel die Einrichtung des Großbetriebes nicht. Sie nahmen Anstand, in gemeinsamen großen Werkstätten unter Aufsicht für Staatsrechnung zu arbeiten. Laßt fahren nur dahin! Es sind noch freiwillige Dichter genug vorhanden, welche in ihren Mußestunden zu Ehren der Sozialdemokratie den Pegasus besteigen. Von den Malern und Bildhauern war verlangt worden, daß sie ihre Kunstwerke nicht mehr dem reichen Protzentum zu Füßen legen, sondern nur der Allgemeinheit widmen. Das passt aber diesen Mammonsknechten nicht.


Allerdings hat die Auswanderung der Bildhauer zur Folge, daß die Aufstellung vieler Statuen unserer verstorbenen Geistesheroen unter den Linden noch nicht erfolgen konnte. Selbst die Statuen der unvergeßlichen Vorkämpfer Stadthagen und Liebknecht sind noch nicht fertig geworden. Für die Ausschmückung unserer Versammlungslokale dagegen sind Bildwerke in Hülle und Fülle vorhanden aus den ausgeleerten Festräumen der Bourgeois.

Die Herren Schriftsteller, welche alles bekritteln und berufsmäßig Unzufriedenheit im Volk verbreiten, sind für ein auf dem Willen der Volksmehrheit beruhendes Staatswesen völlig entbehrlich. Schon Liebknecht tat den unvergeßlichen Ausspruch: Wer sich dem Willen der Mehrheit nicht beugt und die Disziplin untergräbt, fliegt hinaus. Gehen diese Herren von selbst, desto besser.

Darum also brauchte kein Auswanderungsverbot erlassen zu werden. Aber Befremden mußte es allerdings erregen, daß in stets wachsender Zahl auch nützliche Leute, welche etwas gelernt haben, über die Grenze gehen, nach der Schweiz, England und Amerika, wo die Sozialdemokratie noch immer nicht zur Herrschaft gelangt ist. Architekten und Ingenieure, Chemiker, Ärzte, auch Lehrer, dazu tüchtige Betriebsleiter, Modelleure, Techniker wandern scharenweise aus. Die Tatsache erklärt sich aus einem bedauerlichen Geisteshochmut. Diese Leute bilden sich ein, etwas Besseres zu sein, und können es nicht ertragen, daß sie gleichen Lohn mit dem einfachen ehrlichen Arbeiter erhalten. Aber schon Bebel schrieb mit Recht: „Was immer einer ist, das hat die Gesellschaft aus ihm gemacht. Die Ideen, sind ein Produkt, das durch den Zeitgeist im Kopf des einzelnen erzeugt wird.“ Freilich der Zeitgeist war in der früheren Gesellschaft lange in die Irre gegangen. Daher solcher Größenwahn.

Aber ist erst die Jugend in unseren sozialdemokratischen Erziehungsanstalten herangebildet und hat sich dort von einem edeln Ehrgeiz durchdringen lassen, alle Kräfte dem Gemeinwesen zu widmen, so werden wir auch jene Aristokraten missen können. Bis dahin aber ist es ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, in Deutschland zu bleiben.

Man kann es daher nur billigen, daß das Auswanderungsverbot mit Strenge gehandhabt wird. Dazu ist eine scharfe Besetzung der Grenzen, namentlich der Seeküsten und der Landgrenzen gegen die Schweiz erforderlich. Das stehende Heer wird dazu weiterhin um viele Bataillone Infanterie und Eskadrons Kavallerie vermehrt werden. Die Grenzpatrouillen sind angewiesen, gegen Flüchtige von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch zu machen — Möge unser schneidiger Reichskanzler uns noch lange erhalten bleiben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder