Aus den Werkstätten.

Ich bin froh, heute den Kontrolleurposten, welchen mir ein Freund in der Magistratsdeputation schon lange versprochen, erhalten zu haben. Ich brauche also nicht länger als Buchbinder in der Werkstatt tätig zu sein. Wenn doch mein Franz in Leipzig auch loskommen könnte von seinem Setzerpult. Nicht, daß wir unsere Berufsarbeit verachteten, aber es geht meinem Sohn wie mir. Die Art, wie es in den Werkstätten jetzt zugeht, passt uns ganz und gar nicht. Man arbeitet doch nicht bloß um das bischen Leben. Schiller war zwar auch ein Bourgeois, aber gefallen hat mir immer sein Spruch:

Das ist es, was den Menschen zieret,
und dazu ward ihm der Verstand,
Daß er im Innern Herzen spüret,
Was er erschafft mit seiner Hand.


Leider spüren unsere Kollegen in der Werkstatt kaum davon noch etwas. Man sollte fast meinen, die Werkstätten seien jetzt nur Lokale, um die Zeit totzuschlagen. Die Parole lautet: Immer langsam voran, damit der Nebenmann mitkommen kann. Akkordarbeit gibt es nicht mehr. Sie vertrug sich allerdings nicht mit der sozialen Gleichheit der Löhne und der Arbeitszeit. Aber bei dem „gewissen Gelde“, so schreibt Franz, heißt es jetzt: Kommt die Arbeit heute nicht, so kommt sie morgen zu Stande. Fleiß und Eifer gilt für Dummheit und Bornirtheit. Wozu auch? Der Fleißige bringt es ja auch nicht weiter im Leben als der Träge. Man ist selbst nicht mehr seines Glückes Schmied, sondern wird angeschmiedet, wo es andern gerade passt — Also mein Franz. Diesmal hat er weniger Unrecht als sonst.

Es ist nicht zu beschreiben, wie viel jetzt an Material und Gerätschaften durch Unaufmerksamkeit und Nachlässigkeit verdorben wird. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich mich als Meister früher mit solchen Gesellen, wie sie jetzt neben mir arbeiten, hätte herumplagen sollen. Als es einmal wieder gar zu arg war, riß mir doch der Geduldsfaden und ich hielt eine Standrede, die nicht schlecht war.

Kollegen, die Gesellschaft erwartet, daß jedermann seine Schuldigkeit tut. Wir haben jetzt nur acht Stunden zu arbeiten. Ihr seid alte Sozialdemokraten. Unser Bebel hoffte einst, eine „moralische Atmosphäre“ werde in der neuen Ordnung jeden anregen, es dem andern zuvorzutun. Bedenkt, Genossen, wir arbeiten nicht mehr für Ausbeuter und Kapitalisten, sondern für die Gesellschaft. Alles kommt durch die Gesellschaft jedem von und wieder zu gut.

Schön gepredigt, so höhnte man mich; schade, daß wir keinen Pastor mehr brauchen. Bebel hat uns einen vierstündigen Arbeitstag versprochen und nicht einen achtstündigen. Die Gesellschaft ist groß. Soll ich mich für die 50 Millionen Gesellschaft plagen und schinden, während die übrigen 49.999.999 nicht solche Narren sind? Was kaufe ich mir für das 1/50.000.000, wenn ich es wirklich aus dem Mehrertrag meiner Arbeit zurückbekäme?

Dann sangen sie im Chor: Wenn dir die Gesellschaft nicht mehr passt such' dir eine andere, wenn du eine hast.

Seitdem habe ich natürlich keinen Ton mehr geredet. Franz ist es leider ähnlich ergangen. Die Zeitung dort wird selten zur richtigen Stunde fertig, obwohl um die Hälfte Setzer mehr als früher an einem Bogen arbeiten. Je später der Abend, desto mehr Fässchen Bier sind während der Arbeit schon vertrunken, und desto zahlreicher werden die Druckfehler.

Als Franz neulich den erkrankten Metteur vertrat und um etwas mehr Ruhe in der Werkstatt höflichst bat, stimmte das ganze Personal die Marseillaise an unter besonders starker Betonung der Worte: Nieder mit der Tyrannei!

Meister und Vorarbeiter gibt es ja wie früher in den Werkstätten, aber sie werden von den Arbeitern gewählt und wieder abgesetzt, wenn sie den Untergebenen nicht mehr genehm sind. Sie dürfen es daher mit den Tonangebern und mit der Mehrheit nicht verderben. Der einzelne, der wie Franz und ich solche Zucht nicht mitmacht, ist schlimm daran. Ihn malträtieren bald die Kollegen, bald die Meister. Und dabei kann man so wenig aus solcher Werkstatt heraus, wie der Soldat ans der Korporalschaft, in der ihn sein Unteroffizier mißhandelt.

Der frühere Reichskanzler hat das wohl begriffen, aber er hat es nicht ändern können. Das unter seiner Mitwirkung erlassene Strafgesetz gegen Verletzung der Arbeitspflicht ist in jeder Werkstatt angeschlagen, soweit es nicht abgerissen ist. Darin ist für Trägheit, Unachtsamkeit, Fahrlässigkeit, Unfolgsamkeit, Ungebühr gegen Vorgesetzte ein ganzes Register von Strafen angedroht. Die Entziehung der Geldzertifikate, der Fleischportionen, sogar der ganzen Mittagsmahlzeit, selbst Einsperrung im Arbeitshause. Aber wo kein Klüger ist, ist kein Richter.

Die Direktoren der Werkstätten werden ebenfalls gewählt wie die Meister and dürfen es daher auch nicht mit ihren Wählern verderben. Die Aburteilung im Prozessweg auf Grund des Strafgesetzes ist umständlich. Es sind allerdings neulich einige Maurer aus dem Publikum denunziert worden, weil sie gar zu lange Pausen machten und sich die einzelnen Steine bei der Arbeit gar zu genau besahen. Einmal ist von oben herunter das Personal einer ganzen Werkstatt an einen andern Ort versetzt worden. In der Regel aber erfolgen Versetzungen nur aus politischen Gründen. Deshalb verlangt auch die Partei der Jungen jetzt, daß die Unversetzbarkeit der Richter auch für alle Arbeiter eingeführt werden soll.

Indessen auch die Versetzung hilft nicht, überall. Jeder findet ja — das verlangt die soziale Gleichheit — auch in jedem andern Ort denselben Lohn, dieselbe Nahrung und Wohnung wieder, welche er verlassen hat. Für manche jugendlichen Radaumacher ist der Ortswechsel eine angenehme Abwechselung. Nur die Alten, welche sich nicht gern von ihren Frauen und Kindern am Ort trennen, leiden darunter.

Doch auch Rom ist nicht an einem einzigen Tage erbaut worden. Dieser Geist der Selbstsucht in den Werkstätten, was ist er anders als die böse Hinterlassenschaft einer Gesellschaft, in welcher jeder den andern zu übervorteilen suchte. Unsere neuen Schulen und Erziehungsanstalten werden bald diejenige „moralische Atmosphäre“ schaffen, in der der Baum der Sozialdemokratie ein fröhliches, die gesamte Menschheit überschattendes, und beglückendes Gedeihen findet


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder