Dritte Fortsetzung

Unsere heutige Schule trägt in ihren wesentlichen Zügen noch alle Merkmale der liberal-individualistischen Epoche des 19. Jahrhunderts, unter die dieser Weltkrieg, wenn man die Sache einmal historisch, einmal von einer höheren Warte auffasst, unter allen Umständen den Schlussstein setzen wird. Am Beginn dieser liberalindividualistischen Epoche standen die großen Ideen von 1789, die großen Ideen der Befreiung der Menschheit von allen den alten Bindungen, unter denen sie bisher gestanden hatte, der Befreiung des Individuums von den ökonomischen Fesseln der Zunft, der Gilden, von den politischen Fesseln des absoluten Staates, von den geistigen Fesseln der Kirche. An der Eingangspforte zu dieser liberalindividualistischen Epoche stand die große Erklärung der Menschheitsrechte, ein Dokument von Ewigkeitswert, den auch wir Sozialisten anerkennen. Auch wir bestreiten nicht, dass diese nun zu Ende gehende kapitalistisch-liberale Epoche zweifellos Gewaltiges geleistet hat, dass sie in ökonomischer und kultureller Beziehung ganz andere Wunderwerke hervorgezaubert hat als sonst viele Jahrtausende, dass sie die Entwicklung der Menschheit enorm vorwärts gebracht hat.

Aber diese Glanzseiten der liberal-individualistischen Epoche haben auch ihre Kehrseiten. Sie bestehen vor allen Dingen darin, dass in dieser Epoche die unter dem Kapitalismus lebende Menschheit gewissermaßen atomisiert wurde, dass das Individuum aus allen seinen alten Bindungen und Beziehungen herausgelöst und völlig aus sich selbst gestellt wurde. Das hat sich im Schulwesen geltend gemacht und widergespiegelt in der Überschätzung des reinen Intellektualismus und in der Unterschätzung des Erziehungsmomentes, der Willens- und Charakterbildung auf unseren Schulen. Die Schulen des liberalindividualistischen Zeitalters sahen ihre wesentlichste Aufgabe darin, dem Kind, ein mehr oder minder großes Maß — auf den höheren Schulen ein größeres, auf den Volksschulen ein minder großes Maß von abstrakten Kenntnissen zu vermitteln und nun den jungen Mann und das junge Mädchen in die Welt hineinzusehen: nun sieh zu, wie du damit allein fertig wirst! Die Sprichwörter, die man unseren Jungens mit auf den Lebensweg zu geben pflegte: „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott", „Dem Starken hilft Gott", „Jeder für sich, Gott für uns alle", „Jeder ist seines Glückes Schmied", — alle diese Sprichwörter, die natürlich ihre relative Berechtigung gehabt haben und auch heute noch behalten, sie kennzeichnen den ganzen individualistischen Geist, der in unserem Unterrichtswesen in dieser ganzen Epoche geherrscht hat. Mit einem Wort: von der Schule dieses liberal-individualistischen Zeitalters wurde der Mensch im wesentlichen isoliert angesehen, als Einzelindividuum; er wurde aber nicht betrachtet als zoon politikon, als gesellschaftliches Lebewesen. Das große Manko, das sich daraus entwickelte, war das fast völlige Fehlen der Vermittlung von staatsbürgerlichen und volkswirtschaftlichen Kenntnissen durch die Schule und das völlige Fehlen der Vermittlung einer staatsbürgerlichen und sozialen Gesinnung,


Meine Herren, aus diesem liberal-individualistischen Zeitalter aber kommen wir nunmehr durch diesen Krieg und mit diesem Kriege mit Siebenmeilenstiefeln heraus. Meine Herren, die Ideen von 1789, die jenes Zeitalter beherrscht haben, verblassen immer mehr und an ihre Stelle treten in immer höherem Maße die Ideen — wie man sie genannt hat — von 1914. Meine Herren, mit diesen Ideen von 1914 — das ist ein Ausdruck, der von Herrn Professor Plenge geprägt worden ist — sind selbstverständlich nicht gemeint die Ideen eines überschäumenden Nationalismus und Chauvinismus, sind nicht gemeint die Ideen der Völkerverhetzung, die diese ganzen Jahre hindurch geherrscht haben, es sind nicht damit gemeint die Ideen der Zerstörung, der Barbarei, jener Unsummen von Blut und Elend, Not und Tod usw., die diese letzten Kriegsjahre kennzeichnen. Nein, meine Herren, wenn wir von den Ideen von 1914 sprechen, so soll damit gesagt sein, dass — ganz gegen den Willen derer, die an der Wiege dieses Krieges gestanden haben — sich in diesem Kriege und durch diesen Krieg durchgesetzt hat in immer höherem Maße das große volkswirtschaftliche, das große sozialistische Prinzip der Organisation. Meine Herren, ich will damit selbstverständlich in keiner Weise ein Loblied auf den sogenannten Kriegssozialismus singen! nichts kann mir ferner liegen als dies. Dieser „Kriegssozialismus" ist in den Debatten der letzten Monate von dieser Stelle aus von meinen Parteifreunden wiederholt mit vollem Rechte in der schärfsten Weise kritisiert worden. Ich erinnere an die Reden, die mein Parteifreund Braun zur Beratung der Lebensmittelversorgung und mein Parteifreund Hue bei der Beratung des Handelsetats darüber gehalten haben. Meine Herren, mit meinen Parteifreunden, Braun und Hue bin auch ich durchaus der Meinung, dass dieser Kriegssozialismus den schönen Namen Sozialismus eigentlich gar nicht verdient, sondern nichts anderes ist als ein recht elender und unbrauchbarer Sozialismusersatz. Er leidet daran, dass er kapitalistisch durchseucht ist, er leidet an einer unerträglichen Rücksichtnahme auf einseitige Erzeuger- und Händlerinteressen. Seine Durchführung könnte kaum schwächlicher, zaghafter und dilettantischer sein, als sie gewesen ist. Trotz alledem, meine Herren, bleibt die große geschichtliche Wahrheit bestehen — darum kommen Sie alle nicht herum dass ausschließlich der, wenn auch noch so schwächliche und noch so zaghafte Übergang vom reinen Individualkapitalismus zur organisierten Volkswirtschaft es gewesen ist, der uns in diesem schwersten Lebenskampf unseres Volkes gerettet hat. Und wenn ich mich einmal einen Augenblick auf den Standpunkt eines Kulturhistorikers der künftigen Jahrhunderte stellen darf, so möchte ich die Frage an Sie richten: was wird dieser Kulturhistoriker künftiger Jahrhunderte wohl als die bedeutsamsten Daten dieser ganzen letzten Jahre kennzeichnen? Ich bin überzeugt, dass dieser Kulturhistoriker, der ja die Dinge von einer höheren Warte übersehen kann als wir heute, nicht den Tag von Tannenberg, nicht den Tag der großen Seeschlacht am Skagerrak und auch nicht die großen Offensivtage dieses Frühsommers als die bedeutendsten historischen Daten des Weltkrieges ansehen wird, sondern die Tage, an denen in Deutschland die Brotkarte und das Hilfsdienstgesetz eingeführt worden sind. (Zuruf.) Nein, durchaus nicht, Herr Kollege Heß. Ich sage das nicht, um das Brotkartensystem oder das Hilfsdienstgesetz in ihren Einzelheiten zu loben und zu verteidigen. Ich weiß genau so gut wie Sie, wie schwächlich das alles ist, wie viel Scherereien und Ungelegenheiten das alles dem Volke bereitet hat. Aber trotz alledem bleibt bestehen — das wird auch Herr Dr. Heß anerkennen müssen —, dass sich in diesen beiden Tatsachen — ich greife nur die bedeutsamsten heraus — zum ersten Mal ein völlig neues Wirtschaftsprinzip siegreich durchgesetzt hat, weil eben mit dem alten Wirtschaftsprinzip nicht mehr auszukommen war. Als die Not am höchsten war für unser Volk, für unser Land und Reich, da kamen Sie mit dem alten individuellen Kapitalismus nicht weiter, da mussten Sie wohl oder übel zu Hausrezepten aus der sozialistischen Apotheke greifen, und ihnen allein verdankt unser Volk seine Rettung. (Zuruf). Herr Kollege Ramdohr, es kommt doch wirklich nicht darauf an, ob Sie oder ich persönlich unter dem Kriegssozialismus leiden, es kommt nicht darauf an, ob uns die Dinge heute unbequem sind, sondern welche Bedeutung diese Maßnahmen im Rahmen des ganzen, großen historischen Prozesses haben, und da ist es trotz Ihres Widerspruchs doch wahr, dass unser Vaterland allein diesen Maßnahmen seine Rettung verdankt und dass mit diesen Maßnahmen sich zum ersten Male ein neues großes Wirtschaftsprinzip durchgesetzt hat. Wir sind ganz gewiss heute noch nicht in jenen klassenlosen Sozialismus hineingekommen, wie er uns Sozialdemokraten immer vorgeschwebt hat und wie er nach wie vor unser Ziel ist. Auch nach dem Kriege wird es selbstverständlich noch Mehrwertaneignung durch den Kapitalismus geben, es wird auch nach dem Kriege noch Klassengegensätze und Klassenkämpfe der schwersten Art geben; aber ebensowenig wie das Zeitalter, in das wir nach dem Kriege hineinkommen werden, der reine Sozialismus im Sinne meiner Partei sein wird, ebensowenig wird es mehr sein der alte reine Individualkapitalismus aus der Zeit vor dem Krieg. Wir kommen durch den Krieg hinein in ein Übergangszeitalter vom Kapitalismus zum Sozialismus, in das Zeitalter der großen organisierten Staatswirtschaft, in ein Zeitalter also, das gerade auch an unser Unterrichtswesen ganz neue und andersartige Anforderungen stellen wird. Es wird für den Sozialisten, der den Krieg als solchen natürlich auf das tiefste bedauert, sehr schwer, das anzuerkennen, aber es ist doch eine historische Wahrheit, dass dieser Krieg ein doppeltes Gesicht, einen Januskopf hat: hier jenes Medusenhaupt, das wir alle zur Genüge kennen, jenes schauerliche Schreckensantlitz, das uns Tag für Tag nicht loslässt, das uns nächtlicherweile im Traum verfolgt, das furchtbare Gesicht der Zerstörung des Todes, das Gesicht der Vernichtung, des Blutes und der Tränen. Aber der Krieg hat noch ein, zweites Gesicht: derselbe Krieg, der ein so furchtbarer Zerstörer und Vernichter ist, der so furchtbares Elend, der solche Not und solch Entsetzen, im Gefolge hat, derselbe Krieg — das will die Dialektik der Geschichte so — ist zugleich auch zu dem größten Revolutionär der Geschichte geworden, der unendlich viel Morsches und Lebensunfähiges niedergestampft und der die Entwicklung zur Demokratie und zum Sozialismus in einer Weise beschleunigt hat, wie das vor 1914 niemand für möglich gehalten hätte. Der Krieg ist eine, Lokomotive der Weltgeschichte, er ist ein gewaltiger Revolutionär wider den Willen gerade der Leute, die an seiner Wiege gestanden haben. Es will die grandiose Ironie der Weltgeschichte, dass derselbe Krieg, der meine eigene Partei, die Sozialdemokratie, in schwerste innere Kämpfe und Strudel gestürzt hat, dem Sozialismus und der Demokratie in gewaltigstem Maße die Wege geebnet hat. (Zuruf) — Es wird mir eben von Herrn Ramdohr zugerufen: „Auch Sie werden den Tag segnen, an dem der Kriegssozialismus beseitigt ist." Herr Ramdohr will ebenso wie andere Herren, die früher schon ähnliche Äußerungen getan haben, damit sagen, dass der Kriegssozialismus sich nicht bewährt habe. Aber warum hat er sich nicht so bewährt, wie er sich hätte bewähren können? Das hat er deshalb nicht getan, weil wir jetzt im Kriege noch lange nicht genug Sozialismus gehabt haben, und vor allem, weil wir im Frieden früher viel zu wenig Sozialismus gehabt haben, und gerade hier zeigt sich wieder der enge Zusammenhang zwischen den Gedanken, die ich eben erörtert habe, und den großen Problemen der Schulreform, die uns heute beschäftigen. Wie war denn vor dem Kriege das Fühlen und Denken unseres ganzen Beamtenstandes eingestellt? Weder unsere Gymnasialbildung noch unsere Realbildung hatte dem werdenden Beamten irgendwelche ernsthaften Wirtschaftskenntnisse mit auf den Weg gegeben, und ebensowenig hat seine im wesentlichen rein juristische Vorbildung es ihm ermöglicht, irgendwelche tiefgründigen volkswirtschaftlichen Kenntnisse und Erkenntnisse zu erwerben. Unser ganzer alter aus unserem bisherigen Schulsystem hervorgegangener Beamtenstaat ist in erster Linie gedacht gewesen, als ein Herrschaftsinstrument über Menschen und nicht gedacht als Verwaltungsorganisation für Wirtschaftsgüter. Daraus ergab sich dann das Versagen unseres Beamtenorganismus, unserer ganzen inneren Verwaltung in diesem Kriege. Was verstanden denn unsere Beamten, angefangen vom Bürgermeister bis hinauf zum Minister und Staatssekretär, als der Krieg losbrach, von Wirtschaftsfragen? Es ist von konservativer Seite wiederholt geklagt worden — ich glaube von Herrn Dr. Hoesch und anderen —, wie wenig die Verwaltungsherren von landwirtschaftlicher Technik, von landwirtschaftlicher Produktion verständen. Es hat sicher viele unter unseren Beamten gegeben — Sie nicken mir zu —, die wenig Ahnung davon hatten, wie viel Aussaat an Kartoffeln gebraucht wurde, um ein bestimmtes Produkt an Kartoffeln zu erzielen; es hat sicher viele Minister und höhere Beamte aller Art gegeben, die Roggen nicht von Weizen und Gerste nicht von Hafer unterscheiden konnten. (Zuruf) Sie rufen mir zu: „das gilt für alle Großstädter." Vielleicht — aber ich rede jetzt in erster Linie von Beamten. So ist es: wie sie in Unkenntnis waren über landwirtschaftliche Fragen und Fragen des landwirtschaftlichen Wirtschaftswesens, so waren sie auch in Unkenntnis über alle Fragen der industriellen Produktion und des Welthandels. Nun mit einem Male sollten sie z. B. über die Frage Bescheid wissen, welche Erze zur Verhüttung notwendig sind, in welchem Verhältnis gewisse Kohlensorten zu gewissen Erzsorten bei der Produktion korrespondieren müssen. Nun sollten sie plötzlich wissen, was für Ersatzstoffe denkbar sind für die ausfallenden Textilstoffe, Baumwolle, Wolle, jetzt sollten sie plötzlich wissen, woher wir Ersatzstoffe für das fehlende amerikanische und rumänische Petroleum nehmen sollten, sollten die schwierigsten Valutafragen sachkundig beurteilen usw. usw. Von all den tausend Wirtschaftsfragen, vor die unser Beamtenkörper gestellt wurde, hatte er nie etwas gehört, von allen denen verstand er nichts. Infolgedessen musste er ja geradezu versagen, weil er eben seiner ganzen alten Vorbildung nach im wesentlichen aufs Regieren und nicht aufs Verwalten eingestellt war. Darum hatte er ja vor dem Kriege auch alle jene von sozialdemokratischer Seite gegebenen Anregungen abgelehnt, die darauf hinausgingen, unser ganzes Wirtschaftsleben besser durchzuorganisieren. Wie oft haben wir gefordert, immer wieder und immer wieder — ich könnte das aus den Reichstagsakten nachweisen —: schafft uns eine gute Produktionsstatistik, eine gute landwirtschaftliche und industrielle Produktionsstatistik, schafft uns eine Statistik darüber, was erzeugt und was verbraucht wird! Alles das ist abgelehnt worden. Wie oft haben wir im Reichstag die Errichtung eines großen Reichswirtschaftsamtes gefordert, wie oft haben wir gefordert, dass in den Einzelstaaten Wirtschaftsämter eingeführt werden, dass die einzelnen Kommunen Wirtschaftsämter einführen! Wir haben vor dem Kriege tauben Ohren gepredigt. Bon alledem haben Sie nichts wissen wollen, weil die nur juristisch vorgebildeten Beamten für all das kein Verständnis hatten, weil sie meinten, es genüge, wenn sie nur den Paragraphenwust unseres Strafgesetzbuchs und unseres bürgerlichen Rechts gründlich beherrschten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Kulturpolitik