Siebente Fortsetzung

Um Ihnen zu beweisen, in welchen Widersprüchen sich die Antisemiten in ihrem Programm infolge ihrer widerspruchsvollen soziale Stellung bewegen, werde ich Ihnen einige Punkte daraus vortragen. Aus seiner widerspruchsvollsten Forderungen aufzustellen, einerseits ultrareaktionäre, die sich teilweise mit unserem Programm decken. Der erste Punkt: „Erhaltung einer starken kaiserlichen Gewalt; Wahrung der Rechte der Bundesfürsten; Mitwirkung des Volkes an der Gesetzgebung und an der Kontrolle über die Staatsverwaltung“, ist für den Antisemitismus selbstverständlich. Der zweite Punkt: „Zusammensetzung der Volksvertretungen aus Abgeordneten sämtlicher Berufsstände“ ist eine durchaus konservative, ins Mittelalter zurückgehende Forderung. Die alten Berufsstände heute wieder zu rekonstruieren, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Sobald die Antisemiten versuchen, die Abgrenzung der einzelnen Berufsstände gegeneinander herzustellen, wird sich zeigen, dass ebensoviel Meinungen unter ihnen vorhanden sind als Personen beieinander. Solange aber diese Berufsstände nicht rekonstruiert sind, sind die Antisemiten mit dem allgemeinen, gleichen und direkten Stimmrecht einverstanden und sie wünschen sogar Diäten. (Heiterkeit.) Einen Antrag auf Aufhebung des allgemeinen Stimmrechts würden diese Herren also zurzeit aufs heftigste bekämpfen, und zwar weil dieses ihnen allein ihre Existenz im Reichstage möglich macht. Drittens fordern sie Freiheit des Wortes, der Schrift und der Versammlung, zugleich aber neben diesem demokratischen Verlangen „scharfe Bestimmungen gegen unsittliche Auswüchse in Presse, Literatur und Kunst“, eine Forderung, die, wie immer sie gesetzlich formuliert würde, der schlimmsten Reaktion Tür und Tor öffnete. Was man unter „unsittlichen Auswüchsen“ verstehen kann, hat die Lex Heinze genugsam bewiesen. Sie fordern ferner Wahrung des christlichen, nationalen Charakters der Schule, eine durchaus konservative Forderung, daneben „Ausbildung unbemittelter, hervorragend befähigter Schüler auf Staatskosten“, was wieder fast gleichlautend in unserem Programm steht, und niemals von den Konservativen bewilligt werden wird. Ferner verlangen sie „eine starke Heeresmacht zur Erhaltung des Friedens nach außen und nach innen“. Gegen wen diese Heeresmacht „nach innen“ nötig ist, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. (Heiterkeit.) In der Steuerreform verlangen sie durchaus demokratisch eine progressive Einkommen- und Erbschaftssteuer, daneben eine Wehrsteuer, die wieder vorzugsweise die Unbemittelten träfe; auf der anderen Seite aber treten sie für indirekte Steuern in Form der Zölle auf Lebensmittel ein, sie verlangen „ausreichenden Schutzzoll“, womit die Bauern gefangen werden sollen. Die Forderung einer sozialen Neuordnung auf dem Boden der Berufskreise und Erwerbststände ist wieder rein mittelalterlich, ebenso die „Beschränkung der Gewerbefreiheit, Einführung des gesetzlichen Befähigungsnachweises, Errichtung von Handwerkskammern mit ehrengerichtlicher Befugnis“. Das sind alles reaktionäre Forderungen. Dann kommen Forderungen wie ein „Heimstättengesetz, scharfe Bestimmungen gegen die Gutszertrümmerung und den Grundstückwucher, Verstaatlichung der Grundschulden.“ Hier muss ich eine kurze theoretische Auseinandersetzung machen. Verstaatlichung der Grundschulden, also der Hypotheken – diese Forderung wir auch im kommunistischen Manifest erhoben, und wird gegenwärtig in einer deutschen Kammer von unserem Genossen gestellt. Es scheint auf den ersten Blick wunderbar, dass Antisemiten, Bauernbündler und gleichzeitig wir eine solche Forderung stellen. Aber diese scheinbar gleiche Forderungen haben nichts miteinander gemein. Das kommunistische Manifest hat etwas ganz anderes darunter verstanden, als wie der Antisemitismus oder die Bauernbündler darunter verstehen. Das kommunistische Manifest erhebt die Forderung unter der Voraussetzung, dass eine sozialistisch-kommunistische Leitung des Staates vorhanden ist, die die Verstaatlichung des gesamten Grund- und Bodeneigentums vornehmen will, mit dem Übergangsstadium „Verstaatlichung der Hypotheken“. Das heißt also: Falls wir Sozialisten nicht ohne weiteres der Kapitalistenklasse den Grund und Boden expropriieren können, begnügen wir uns, dem Hunde den Schwanz stückweise abzuhauen. (Heiterkeit.) Man würde also, wenn der Zinsfuß der Hypotheken durchschnittlich 5 oder 4 ½ Prozent ist, diese für unkündbar erklären und den Zinsfuß auf 2 ½ oder 2 und noch weniger herabsetzen. Die Männer, die das kommunistische Manifest entwarfen, wussten sehr gut, dass das wenig zu bedeuten hat, aber in der Übergangsperiode nötig sein könne. Wenn aber, gegenüber einer stabilen konservativen Regierung, gegenüber einem mächtigen Agrariertum die Verstaatlichung der Hypotheken angeregt wird, damit die Agrarier niedrigere Hypothekenzinsen zu zahlen haben, so ist das eine durchaus konservative Maßregel. (Sehr richtig!) Sie bedeutet eine Bevorzugung einer einzelnen Klasse. Beschafft der Staat die Hypothekenzinsen billiger, dann haben nicht bloß die Kleinbauern den Vorteil davon, sondern auch die Großgrundbesitzer; mit der Verringerung des Zinsfußes steigt der Wert und die Belastungsfähigkeit des Bodens, es können mehr Schulden gemacht werden. (Sehr richtig!) Schafft der Staat gar die Hypotheken beispielsweise zu 3 Prozent, während er für 3 ½ Prozent geben muss, so muss das halbe Prozent Zins von Milliarden Hypothekenschulden, das der Staat den Kapitalisten zu ersetzen hat, aus anderen Steuerquellen aufgebracht werden. Es fällt den Kapitalisten, von denen der Staat das Geld für die Hypotheken bekommt, nicht ein, die Zinsdifferenz selbst zu bezahlen haben. Die Sozialdemokratie hat kein Interesse, mitzuarbeiten an der künstlichen Aufrechterhaltung von Gesellschaftszuständen, die durch die Entwicklung der Verhältnisse mehr und mehr untergraben und aufgelöst werden.

Die Forderungen des antisemitischen Programms auf dem Gebiet des Handels: „Verschärfung der Konkursordnung, Beschränkung des Hausierhandels, Verbot der Schleuderbazare, der Schwindelauktionen und der Abzahlungsgeschäfte, strafrechtliche Bestimmungen gegen verlogenen Reklame,“ sind nichts als interessante Bewiese für die Demagogie der Antisemiten. Keine dieser Forderungen ist ohne größten Schaden und stärksten Missbrauch durchführbar. Da donnerte bei der letzten Landtagswahlagitation in Sachsen ein antisemitischer Agitator gehen die Juden als Ausbeuter, gegen die Schleuderbazare usw.; kein christlicher Mann dürfe bei einem Juden kaufen. Als aber der Herr seinen Überzieher in der Versammlung auszog, entdeckte einer unserer Genossen am Henkel desselben eine jüdische Firma! (Große Heiterkeit.) Mir wurde gesagt, der Herr sei so verschuldet, dass keiner seiner christlichen Mitbürger ihm etwas borge. Aber der Jude borgte. (Erneute Heiterkeit.) Ferner werden im antisemitischen Programm Strafbestimmungen gegen falsche Preiszeichnungen, Beschränkungen der Konsumvereine, eine tatkräftige, zielbewusste Kolonialpolitik und überseeische Strafkolonie sowie Beförderung der inneren Kolonisation gefordert. Ein wahrer Heringssalat von Forderungen. Wer zur Verschickung in die Strafkolonien in erster Linie verwendet werden soll, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. (Heiterkeit.) Wenn schließlich von der Judenfrage die Rede ist und Aufhebung der Judenemanzipation, Stellung der Juden unter ein Fremdenrecht, sowie das Verbot der Einwanderung fremder Juden verlangt wird, so wird man damit nicht weit kommen. Die Forderungen sind so unsinnig, dass sie eine grundstürzende Umgestaltung der Staatsgrundlagen im mittelalterlichen Sinne nötig machten. In einem Punkte zeichnen sich die Juden vorteilhaft aus, sie haben bisher das Gebot ihrer Väter: Seid fruchtbar und mehret Euch wie Sand am Meere! Stets befolgt. (Große Heiterkeit.)


Parteigenossen! Sie sehen, dass dieses Mixtum compositum, aus dem diese Programm besteht, ganz und gar der widerspruchsvollen reaktionär-revolutionären Natur des Antisemitismus entspricht. Das Programm ist in den meisten seiner Forderungen sogar unausführbar, weil es nicht dem Judentum, sondern dem gesamten Kapitalismus Beschränkungen auferlegte, die wider die Natur desselben gehen, und gegen die er deshalb mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht ankämpfen muss. Die Macht im Staate haben aber nicht die Kleinbauern und Kleingewerbetreibenden, sondern diese hat die Kapitalistenpresse, welch die Regierungen, die Parlamente, die Presse, das gesamte wirtschaftliche Leben beherrscht. Auch das Junkertum, das so antisemitisch ist, ist mit Haut und Herr dem Kapitalismus verfallen und gehört manchmal wider Willen zu seinen vornehmsten Trägern.

Es ist eine arge Selbsttäuschung, glauben Bauern und Handwerker auf die Unterstützung des Junkertums für ihre Programmforderungen rechnen zu können. Man schaffe alle Juden über die deutschen Grenzen und an den Grundlagen unserer Gesellschaft wird nicht um Haaresbreite geändert. Nicht das Judentum, sondern der Kapitalismus ist der Find unserer antisemitisch gesinnten Mittelschichten. Der Kapitalismus, einerlei, ob das Kapital in jüdischen oder in christlichen Händen sich befindet. Schafft heute die Juden fort und morgen sitzen sogenannte Christen an ihrer Stelle, die den kapitalistischen Aufsaugungsprozess genau so vortrefflich besorgen, als dies die Juden tun. Diese Erkenntnis wird den untergehenden Mittelschicht immer mehr dämmern und sie werden alsdann zur Einsicht kommen, dass sie nicht bloß den Kampf gegen den jüdischen Kapitalisten, sondern gegen die Herrschaft der Kapitalistenklasse zu führen haben. Ich habe Ihnen schon ausgeführt, wie auf einer gewissen Stufe unserer ökonomischen Entwicklung auch der Antisemitismus seinen Höhepunkt erreicht und er alsdann wider Willen und mit Notwendigkeit revolutionär werden muss, und damit uns, der Sozialdemokratie, in die Hände arbeitet. Mein Gedankengang ist in der von mir Ihnen vorgelegten Resolution, wie ich glaube, genügend zum Ausdruck gekommen; ich kann deshalb nur bitten, dass Sie möglichst einstimmig derselben Ihre Zustimmung geben. (Lebhafter, andauernder Beifall und Händeklatschen.)

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratie und Antisemitismus