Die Lausitzer Slawen

Der geringe Überrest der mächtigen slawischen Stämme, welche einst den ganzen Nordosten von Deutschland bewohnten und mit ihren Kriegszügen die Ruhe der germanischen Völkerschaften erschütterten und ihre Länder mit ihren Kolonien bedeckten. Ein merkwürdiges Geschick haben diese äußersten Vorposten der Slawen erlebt. Mit jugendlicher Kraft strömten fiel in einzelnen Scharen aus der slawischen Urheimat von der Donau und Weichsel herbei und besetzten wahrscheinlich mit gewaffneter Hand das durch häufige Auswanderungen deutscher Streifzügler weniger bevölkerte Land zwischen der Oder, Elbe und Saale und über diese Flüsse hinaus. Jahrhunderte lang behaupteten sie sich im Besitze des Landes und wiesen die übermächtigen Angriffe der deutschen Kaiser und Fürsten mit Glück zurück. Aber was das Schwerdt nicht errang, wusste die friedliche Waffe des Geistes zu erobern; die Elbeslawen erhielten von den Deutschen das Christentum und mit ihm zugleich alle Segnungen desselben, welche die Deutschen bereits in jenen Tagen genossen. Seit diesem Augenblicke machte sich der Einfluss des Germanentums immer mehr geltend; die Bewohner der Mittelelbe wurden nach dem alten Grundsatze „divide et impera“ immer mehr geschwächt, und die slawischen Länder an der Ostsee traten, gedrängt durch die wilden Einfälle der Preußen und Polen, in ein enges Band mit dem deutschen Reiche. Und während an der Elbe deutsche Gaugrafen und Ritter mit zahlreichen Reisigen und unbezwinglichen Burgen das Volk im Zaume hielten, dessen Macht durch die Überzahl zerbrochen worden, wurden hier von den slawischen Fürsten und Edlen selbst deutsche Kolonisten ins Land gerufen und deutsche Sprache und Sinnesweise wie in der Kirche so auch im Leben angenommen. Und das war der Grund, warum in den Küstenländern das Slawentum gänzlich zu Grunde ging; darin liegt aber auch die Ursache, warum gerade in den Lausitzen ein Rest desselben sich erhalten hat. Das Volk hielt um so fester an der geliebten Sprache, an der Väter Sitte und Glauben, je gewaltsamer man sie zu vernichten und „auszurotten“ sich bemühte. Wie wahr singt der Sänger Slawas in f. 137. Sonnette über diese Zeit der Lausitz:

      Mann und Jüngling ist dem Schwerdt verfallen,
      Weib und Kind zur Knechtschaft fortgeschleppt;
      Und warum? Nur um die große Schuld,
      Dass dem Schöpfer sie nicht deutsch zu schaffen,
      Sondern slawisch, es gefallen.


In unseren Tagen sind nun die Serben-Wenden der Lausitz nicht bloß von allen Seiten von Deutschen umringt und von jeder Verbindung mit einem slawischen Nachbar abgerissen, sondern sie stehen selbst unter zwei verschiedenen deutschen Regierungen, welche nicht versäumen, jede Spur des slawischen Elements zu vertilgen. Nicht genug, dass die Städte größtenteils von Deutschen bewohnt sind, so ist auch die Gerichtsordnung und die ganze Landesverwaltung ausschließlich deutsch. Schreiber dieses ließ sich bei einer Reise in jenen Gegenden gar manchen Vorfall erzählen, bei welchem der „Wende“ vor Gericht nur deshalb in Schaden kam, weil er die Sprache des Beamten nicht verstand, der seine Sachen zu untersuchen hatte. An wem lag nun die Schuld dieser offenbaren Ungerechtigkeit? – Zur Vermeidung solcher Fälle, die besonders vor einigen 15–20 Jahren sehr häufig vorkamen, ist nun freilich das Gesetz gegeben, dass in den Dorfschulen (die, beiläufig gesagt, sehr gut, bei weitem besser als die böhmischen und andere organisiert sind) den wendischen Kindern nur deutsch vorgetragen werden darf. Ich war selbst Zeuge eines solchen Unterrichtens. Der „gewissenhafte“ Lehrer (ein junger Mann, der wie man mir sagte, vor kurzem erst aus dem Seminar in Bautzen gekommen war) sprach mit den sechsjährigen Kleinen, die ihr Lebtag nichts als ihre Muttersprache gehört haben mochten, deutsch! Jeden Satz trug er in dieser Sprache vor (um dem Gesetze zu genügen); da aber die Kinder Mund und Ohren aufrissen und ihn ansahen, wie Schafe, so wiederholte er denselben Gedanken slawisch, bis die Kinder endlich errieten, was er sagen wollte, nachdem er Stock, Rute und Scheltworte in reicher Maße verschwendet. Dass diese mühsame, höchst schwierige Weise des Unterrichts gar manchem Lehrer und noch viel mehreren Kindern Lehren und Lernen verbittert und die junge Generation gerade noch tiefer in jene Unwissenheit stürzt, aus welcher man das Volk herausreißen will, versteht sich von selbst. Zweckmäßig ist diese Lehrweise also auf keinen Fall. Anderseits aber ist dies immer noch das beste und humanste Mittel, die lausitzer Slawen zu germanisieren; denn ob sie gleich unter sich, wie ich dies gar oft beobachtet, nur „serski“ sprechen, so sind doch bereits jetzt schon die meisten im Stande, sich mit einem Deutschen verständlich zu machen. Besonders ist das mit den sächsischen Untertanen der Fall, welche auf einer viel höheren Bildungsstufe stehen als die preußischen, und von denen nicht wenige bereits deutsche Bücher lesen. Ihre Wohnsitze sind in dem Landstriche zu beiden Seiten der Spree um die Städte: Löbau, Neusalz, Budissin, Camenz, Spremberg, Lübben, Lieberosa, Cottbus und Muskau herum. Ihre Zahl gibt Schafarik unbedingt zu niedrig auf 142.000, Haupt und Schmaler (in den wendischen Volksliedern) auf 230.000 zu hoch an. Jordan (in s. Grammatik der wend. serb. Sprache) zählt mit mehr Wahrscheinlichkeit 150.000; doch mögen ihrer wohl noch einige Tausend mehr sein. Sie teilen sich ihrer Sprache nach in zwei Völkerschaften, die Ober- und die Nieder-Lausitzer; der Strich von Muskau nach Komorow (Senftenberg?) bildet die Grenze zwischen ihnen. Um diesen Streifen herum soll ein Mitteldialekt gesprochen werden, den der russische Reisende Srezniewski als beide vereinigend darstellt. Schafarik zählt 98.000 Ober- und 44.000 Nieder-Lausitzer; davon sind 60.000 unter sächsischer, die andern unter preußischer Hoheit. Von ihnen sind 10.000 Oberlausitzer Katholiken, die andern sämtlich Protestanten. (Die beiden andern geben keine Spezial-Zahlen.)

Im Ganzen genommen stehen die Lausitzer Slawen auf einer bedeutenden Höhe der Kultur, und dürften in dieser Hinsicht jedem anderen slawischen Volke (ich meine den großen Haufen) überlegen sein, denn schon seit Jahrhunderten haben sie eine hochgebildete Geistlichkeit und die Volksschulen, die sächsischen wie die preußischen, sind vortrefflich eingerichtet und müssen von jedem Kinde, so fordert das Gesetz, 8 Jahre, vom 6. bis 14., besucht werden. Aber die Wenden sind nur Bauern, Dienstboten, Handwerker und niedere Gewerbeleute, denn wer sich höher hinaufschwingt, der schämt sich seines Volkes und rechnet sich zu den Deutschen. Daher fehlt eben den Wenden auch jede höhere Bildung; und die Literatur ist der deutlichste Beweis davon. Denn sie hat nichts produziert, als eine Reihe von religiösen Schriften, welche sämtlich aus dem Deutschen übersetzt sind. Die der Oberlausitzer hat neben einigen Grammatiken (von Mathäi, Seiler, die neueste von Jordan) auch drei Lexika (von Swotlik, Frencel und Bose), die der Niederlausitzer nur die Grammatik von Hauptproduziert. Außer den kirchlichen Gesängen ist die Poesie gänzlich vernachlässigt und erst jetzt bemüht man sich die zahlreichen Volkslieder, von denen einige ein hohes Alter beurkunden, zu veröffentlichen. Von anderweitigen literarischen Bildungsmitteln, selbst von Unterhaltungsschriften, ist keine Spur*); und wie konnte das auch anders sein?

*) Seit Januar hat man angefangen, eine Zeitschrift „Morgenstern“ auszugehen (s. Ausland 1842, Nr. 9), die von einem „Herrn Jordan in Leipzig“ redigiert wird.

Denn sämtliche Schriftsteller der Wenden sind entweder Dorf-Pastoren oder Schullehrer. Dieser unersetzliche Mangel, dann ihre geringe Anzahl, besonders aber das in jeder Hinsicht prävalierende Übergewicht des Deutschtums führt die Lausitzer Wenden mit Riesenschritten einer völligen Germanisierung entgegen. Und falls das gegenwärtige Staatenverhältnis sich als bleibend bewährt, was könnte selbst der wärmste Verteidiger der Nationalität einem Völkchen von anderthalbhunderttausend Köpfen, das ringsum von Deutschen umschlossen, selbst in zwei Teile zerrissen, auf keinen Fall im Stande ist, eine geistige und materielle Entwicklung mit Erfolg zu erringen, wie es dieselbe bei seinem Anschluss an den Nachbar findet, was kann man einem solchen Volke anderes wünschen, als dass der Augenblick einer Entscheidung bald eintrete? Die Wenden sind für das Slawentum verloren wie es die Luticen, die Drewanen und andere slawische Völker im Norden des gegenwärtigen Deutschlands sind. Denn nur eine große politische Umwälzung, und zwar notwendig noch in unserem Jahrhunderte erfolgend, wäre im Stande, die Serben als Slawen zu erhalten. Und wer wollte diese vorhersagen? Darum dünken selbst uns Slawen die Bestrebungen einiger jungen Männer in der Lausitz mehr als Spiel oder Scherz, wenn sie sich bemühen eine Nationalität aufzupflanzen, wo keine mehr ist, und keine sein kann. Wohl haben sie eine große Pflicht, und wir werden ihnen dankbar sein, wenn sie dieselbe erfüllen; es diese: zu retten, was echt Slawisches sich in ihrem Volke noch erhalten, aufzuzeichnen die alten Sitten und Gebräuche des Volks, den Charakter seiner Sprache und seiner geistigen Entwicklung, forschen und untersuchen die alten Schicksale ihrer Nation, ihren Konflikt mit den Nachbarn, und die Art und Weise, wie, die Gründe, warum sie unterlagen. Das ist die Forderung, die wir an sie stellen: Geschichte, Ethnographie, Sprachforschung, das sind die Haltpunkte, welche uns an sie ketten. Und hiermit werden sie uns einen großen Dienst erweisen, denn erst wenn jede einzelne slawische Nation ihre Individualität, die Eigentümlichkeit ihrer geistigen und physischen Kräfte und Leistungen aus sich selbst herausgearbeitet und in einem klaren Lichte aufgefasst und erkannt hat, wird es uns möglich, aus dem Reflex aller dieser einzelnen, hellen Lichtstrahlen ein einziges, großartiges, überraschendes, aber wahres Gesamtbild der slawischen Nationalität zu konstruieren, dann erst den Urgeist des Slawentums in seiner ganzen Reinheit und Vollständigkeit aufzufassen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Slawen, Russen, Germanen.