Über die Lübeckerinnen

Wenn man von dem beschränkten öffentlichen Leben Lübecks auf das soziale Leben blickt, so bieten sich nur erfreuliche Lichtpunkte dar. Nicht eine Spur reichsstädtischer Steifheit, sondern eine Zutraulichkeit, ein liebenswürdiges savoir faire enthüllen sich hier dem Fremden, die ihn ganz vergessen lassen, dass er nicht weit bis zur Grenze des ehemaligen deutschen Reichs hat. In der Nähe von Holstein, welches durch seine Pferde- und Viehzucht und seinen mächtigen Landadel, durch die vielen Oberjägermeister, Konferenzräte und Dannenbrogs-Ritter bei weitem berühmter ist, als durch die Anmut seiner Frauen, hinter der felsig-holprigen Landstraße zwischen Hamburg und Lübeck, an der Trave und Wakenitz findet man französische Courtoisie mit deutscher Gemütlichkeit gepaart.

Die Lübeckerinnen harmonieren mit der Natur rings um sie. Sie sind eben und gerade, wie der grüne Talgrund der Umgegend, süß und milde, wie die Ufer der Wakenitz und Trave, lieblich, wie die pittoresken Höhenpunkte Holsteins, die nirgends den Wolken zu nahe kommen, aber auch nirgends sich zur Heide verflachen.


Die Lübeckerinnen sind bürgerlich-einfach und sozial-vielseitig; sie sind ein Kranz aus Vergissmeinnicht, Myrthen und Immergrün; sie sind der samtene Teppich der Konversation, die bei weitem nicht so holprig ist, wie das Steinpflaster von Lübeck und die konversationelle Pferdehaar-Matratze der Bremer Teegesellschaften, auf welche der Fremde und die Nächstenliebe so hart gebettet werden. Ich liebe sie, diese milden, beredten Gestalten, mit blonden Haaren und blauen Augen, die es so ganz und gar vergessen, dass sie einer Patrizier-Familie angehören und mit einem hochedlen, hochweisen Rate verwandt sind; ich liebe sie, diese anmutigen Frauen, die für eine Schauspielerin begeistert werden können, die für „Werthers Leiden“ und „Elise von Valberg“ Tränen haben und nicht scheelen Auges dazu sehen wenn ein Dr. jur., ein Prokurator am Ober-Appellationsgerichte der vier freien Städte Deutschlands, eine solche Schauspielerin zu seiner Ehefrau erwählt, und dadurch den Heiratslustigen eine Aussicht weniger ersteht.

Es spricht sich in dem sozialen Verkehr Lübecks ein lebenswarmer Geist aus, den man schwerlich an irgend einem andern Orte in gleichem Maße findet, und der so ganz und gär nicht mit jenem kleinstädtischen Zeremoniell harmoniert, welches sonst gewöhnlich das Gepräge der freien Reichsstädte war. Zwar scheiden sich die Stände im gesellschaftlichen Leben, aber diese Scheidung ist nicht sowohl absichtlich, als durch die Verhältnisse herbeigeführt. Einesteils sind es geistige Bedürfnisse, die hier dazu treiben, andernteils Freundschaft und Familienbande. In Gesellschaften geben die Frauen meistens den Ton an, wenn auch nicht den Grundton, welchen die Männer allerdings mit seltener Courtoisie feststellen, indem sie ganz vergessen, dass sie eigentlich Senatoren, Doktoren, Prokuratoren, oder dergleichen sind. Der Ton, welchen die Frauen über diesen Grundton, den man am besten mit dem Worte Humanität bezeichnen kann, hauchen, ist Liebreiz der Konversation, zarte Aufmerksamkeit gegen den Fremden, mit einem Worte jenes anmutige savoir faire französischer Salon-Weise, welches hier an den Ufern der Trave um so mehr anspricht, als der holsteinische Adel mit seiner Kammerherrn-Suffisance, unweit Lübeck, auf Holsteins fetten Triften weidet, und Einen jenes kalte, vornehme, adelige Antlitz sehen lässt, welches man, außer in Holstein, nur noch in Hannover findet, hier und da auch in Mecklenburg.

Die Lübeckerinnen haben eine entsetzliche Vorliebe für Lachen und Weinen, ein Beweis, dass sie agitative Wesen sind. Ob die scharfe Luft der Ost- und Nordsee, die die Gegend bestreicht, sie so reizbar gemacht hat? Ich weiß es nicht; aber verbürgen kann ich meine obige Behauptung. Man nenne mir eine Stadt, in welcher „Elise von Valberg“ mehr, als ein Dutzend Mal kurz hinter einander bei überfülltem Hause gegeben wurde. Die Lübeckerinnen sind im Jahre 1827 mit dieser Elise ins Bett gegangen, sie sind mit ihr aufgestanden; und wenn „Elise von Valberg“ gegeben wurde, drängte sich die ganze weibliche Bevölkerung ins Schauspielhaus; jede Dame mit drei Schnupftüchern versehen, jede in Wonne und Tränen schwelgend. Ja, sie haben Werther'sches Blut, die Lübeckerinnen, und diese Gereiztheit tut Einem bei den Reichsstädterinnen um so wohler, als sie gewöhnlich sonst eine wahre Rolands-Natur haben und jene starken bürgerlichen Nerven, die in das Gold ihrer Eheherren gefasst sind und deshalb selten äußeren Eindrücken erliegen. Aber wenn man heute geweint hat, so drängt man sich morgen durch Thaliens Tempelpforten, um Momus sein Opfer darzubringen. Gurly, die allerliebste Kotzebue'sche Naivetät, ist der Magnet, oder Claurens Wollmarkts-Hannchen, oder Albinis Polyxena. Und welche Freude strahlt aus dem bunten Damenkranze rings in den Logen, wenn jene kleinen possierlichen Gestalten ihr Wesen treiben, ihre scherzhaften Hokuspokus, ihre Capricios von Tränen zum Lachen und vom Lachen zu Tränen machen. Alles nickt sich wohlgefällig zu, Alles ist außer sich vor Behagen, und in der nächsten Soirée wird von nichts Anderem gesprochen, als von der liebenswürdigen Gurly, die so gern heiraten will, von dem kindlichen Hannchen, das so spaßig ist, von Polyrenas Laune und Natur. Ach! und wenn die Darstellerin dieser Rollen in der Soirée ist, wie wird sie von den Frauen geherzt und geküsst. Man kann sich nicht satt an ihr sehen, man überhäuft sie mit Zuvorkommenheit und Wohlwollen. Ist das nicht allerliebst von den Lübeckerinnen? Muss man sich nicht für sie interessieren? Sie haben wirklich viel zu viel Elektrizität für Reichsstädterinnen, für jene steifen, abgeschlossenen, patrizischen Wesen, die Kotzebue zu seinen „deutschen Kleinstädtern“ begeisterten. —

Die Männer geben den Frauen Alles nach, und ob sie auch keine Tränen für Elise von Valberg haben, sie haben feste Hände, und wenn ihre Ehefrauen und Töchter weinen und lachen, so lassen sie es nicht an Applaus fehlen. Was diesen gefällt, gefällt auch ihnen, und wenn sie die Kunst und Poesie auch nicht immer zu begeistern vermag, so äußert sich die Begeisterung für die Persönlichkeit einer Schauspielerin auf eine nicht minder enthusiastische Weise, und gibt ihren Händen jenes à plomb welches der dramatische Künstler so gern hat. Das Haus erbebt vom Donner des Beifalls. Seltsam ist es, anderer Orten interessieren sich die Damen höchstens für die Schauspieler, aber die Lübeckerinnen machen es gerade umgekehrt, vielleicht um ihren Ehemännern zuvor zu kommen. Und unter den Schauspielerinnen ziehen sie nicht sowohl die imposante, junonische vor, die Phädra und Medea, nein sie lieben Emilia Galotti, Millers Luise, mit einem Worte jene schwärmerischen Gestalten der Liebe, die, statt Heroismus, Tränen, Demut und Duldersinn besitzen und im bürgerlichen Kleide einherschreiten. Wieder ein Beweis, dass die Lübeckerinnen Werther'sches Blut haben. Sie schwärmen gern, und im Jahre 1827 schwärmten sie so innig, dass eine Theater-Revolution drohte. Zwei Schauspielerinnen lenkten die Interessen des Tages. Ich will sie nicht nennen; denn die Eine steht mir sehr nahe, und ich hielt es mit der weißen Rose, die Andere, welche die Partei der roten Rose ins Leben rief, ist jetzt von dem öffentlichen Schauplatze abgetreten und hat sich in Lübeck verheiratet.

Aber die Lübeckerinnen hielten es, gleich mir, mit der weißen Rose; sie war jene Elise von Valberg, welche zu Tränen rührte, jene Polyxena, welche so anmutigen Humor entfaltete; zudem sollte ihr auch eine Bürgermeisterin in der Jugend ähnlich gesehen haben. Die Männer — besonders die unverheirateten — beteten die rote Rose an, die feurig, mit italienischen Augen und dunklem Rabenhaar, üppigen Wuchses und schlanker Taille einherschritt und mehr glühte, als schwärmte, mehr klassisch als romantisch war; zudem war diese unverheiratet. Es bildeten sich Oppositionen in Betreff des künstlerischen Wertes beider Darstellerinnen, und die Damen schworen bei Elise von Valberg. Auch die verheirateten Männer mussten alsbald bei Elise von Valberg schwören, weil ihre Ehefrauen nicht nachgaben und weinenden Auges erklärten, sie sei ein süßes Wesen.

Somit erlangten die Lübeckerinnen es, dass man sich im Theater im Für und Wider nachdrücklich aussprach; um nun ganz und gar ihre Meinung offen und frei an den Tag zu legen, beschlossen sie sogar, ihre zarten Hände an den Applaus zu setzen, und Elise errang in so fern den Sieg, als ihr Anhang der mächtigere war, indem alle Ehemänner und der sämtliche Damenchor sich für die blauen Augen und das blonde Haar jener interessierten. Eine Vereinigung der Interessen beider Parteien hielt schwer; denn die rote Rose wollte nicht nachgeben und die Königin des Tages sein. Sie räumte später das Feld, und man sah nun, obschon zu spät, ein, dass es besser gewesen sei für die Kunst, wenn man hier vermittelnd, statt parteinehmend aufgetreten wäre.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus den Hansa-Städten