Ohne St. Petersburg würde Lübeck nur Lübeck sein

Das „Hotel du Nord“, der schönste Gasthof in Lübeck, verdankt der Dampfschifffahrt sein Dasein, und ohne St. Petersburg würde Lübeck nur Lübeck sein. Einsamtrauernd steht es freilich noch immer auf dem alten Fleck, von welchem aus es Ländern Gesetze vorschrieb und Könige zittern machte; indes der Heiligenschein ist von seinem Haupte gewichen, es ist alt geworden und schwächer, so schwach, dass es Gott dankt, sein Leben zu fristen. Mit dem einen Auge blickt es vertrauungsvoll auf Russland, mit dem andern eben so vertrauungsvoll auf Schweden, und der stolze Adler in Lübecks Wappen, der von einem deutschen Kaiser herrührt, er kann sich nie und nimmermehr zu kaiserlichem Fluge erheben. Bei dem Allen ist es über seinem Schmerze von Neuem Frühling geworden, und ein freundliches, geselliges, einfach herzliches Blumenleben ist über das Grabmonument der Hansa emporgeblüht. Die Denksteine der alten Herrlichkeit sind verwittert, mit Moos bekleidet, aber das Epheu der Erinnerung hält sie umschlungen. Lübeck, das alte prächtige Stammschloss des Hansabundes, ist eine sommerliche Villa geworden. Die Bewohner dieser Villa halten sie lieb, als wohnliche Wohnung, mit einem herrlichen Antikensaal erhebender Erinnerungen. Lübeck liegt reizend, nicht romantisch, nicht klassisch, aber Holsteinisch. Und das will viel sagen. Holstein mit seinen grün bewachsenen Hügeln und seinen süßen, wollüstigen Seen, mit seinen üppigen, reichen Landgütern, mit seinem heiteren blauen Himmel, seiner Ost- und Nordsee- gereinigten Luft, ist ein Stück nordischer Schweiz, ein Frühlings-Sonett in der großen, öden Prosa des Heide und Moor umhüllten Nordens. Lübeck ist die Schwelle zu den schönsten Partien Holsteins, und seine Umgebung trägt bereits die Holsteinischen Farben; das freundliche Grün der Buchen-, Tannen- und Eichengehölze ringsum lächelt Einem hier von allen Seiten entgegen, und die Natur um Lübeck bietet gewissermaßen das Vorspiel der pittoresken Einfachheit Holsteins, in welcher sich Hügel und Tal, Forst und See die Hand bieten, und die in derselben sanften Harmonie dem physischen Auge entgegentritt, in welcher eine Goethe'sche Dichtung sich dem geistigen Auge zeigt. Nirgends ist hier Erhabenheit, aber allenthalben Poesie.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus den Hansa-Städten