Ober-Appellationsgericht der 4 freien Städte Deutschlands

Lübeck ist der Sitz des Ober-Appellationsgerichts der vier freien Städte Deutschlands. Ein Präsident und sechs Räte bilden das Personal dieses höchsten Tribunals, welches in Sachen der Bremer Giftmischerin sich dahin erklärte, dass es, wenn ihm eine Änderung des Urteils früherer Instanz, in pejus, gesetzlich zugestanden wäre, offenbar auf eine Schärfung der Todesstrafe erkannt haben würde. Ein Beweis, dass hier tüchtige Juristen zu Gericht sitzen, Juristen mit Leib und Seele, die an die alte Theorie der Strafe glauben, die da glauben, dass man die Sicherheit des Staats zur Not auch mit dem Rade, oder mit sonst einem blutigen Gräuel erkaufen dürfe. Heise präsidiert diesem Rechts-Kollegium. Er ist als Zivilist berühmt; ein kleiner dürrer Mann mit stechenden juristischen Augen, aus welchen das ganze corpus juris hervorblickt, trippelt er einen Tag, wie alle, in blauem Frack, und Sommers in Nankinghosen und weißen Strümpfen, mit Schuhen, zu den Gerichtssitzungen. Man sieht es ihm an, der Mann glaubt an das Justinianeische Recht, wie an das Evangelium. Er ist ein lebendiges Fiat justitia et pereat mundus. Ich habe selten bei einem Juristen so viel Jurisprudenz in der ganzen Persönlichkeit wahrgenommen, wie bei Heise; denn den alten Böhmer, welcher bei einer Opern-Vorstellung in Hannover den ganzen Abend hindurch über eine Controverse der Pandekten nachdachte, habe ich nicht gekannt. Alles an dem Präsidenten ist trocken scharf, bestimmt, ja unbarmherzig. Er ist allerdings unterhaltender als Böhmer; er weiß in Gesellschaften den eigentlichen Juristen zu verbergen, und würde auch vielleicht in einer Oper die Pandekten vergessen, aber der rechtsgelehrte Stolz, der da stets bedenkt, dass er unter vielen tausend Menschen allein, oder doch am genauesten wisse, was recht sei, verläugnet sich keinen Augenblick in ihm. Der blaue Rock, mit den gelben blanken Knöpfen, die weißen Strümpfe und die gewichsten Schuhe geben ihm das echte geschniegelte hannöversche Professor-Ansehen; es fehlt hier nur noch das hellblaue Band des Guelphen-Ordens, um einem ganz und gar Eines jener gelehrten Portraits vor die Augen zu führen, die in den Hörsälen der Georgia Augusta ihr Wissen feil bieten. Heise ist ein Muster von Gerechtigkeit, aber zu starr, zu herrisch, zu gebietend. Er versteht es nicht auf den populären Ton einzugehen, der einem republikanischen Beamten so wohl steht; es ist alles steif-professorlich an ihm und die hannöversche Grandezza hat ihn nicht verlassen. Rasch und tätig in seinen Geschäften, mit seltenem Scharfsinn begabt, die ganze rechts-Theorie in Kopf und Herzen habend, inwendig und auswendig Jurist, ist er allerdings ein trefflicher Vorstand eines ersten Gerichtshofes. Indes er glaubt an den Buchstaben des Gesetzes und an die Interpretation. Unsere Zeit aber verlangt Richter, die nach dem Gesetze richten, aber an die Menschen glauben, das „quisque praesumitur bonus donec probetur contrarium“ scheint mehr die juristische, als moralische Überzeugung Heises zu sein – sintemal ein Gerichtshof, dem er vorsitzt, noch von einer Schärfung der Todesstrafe sprechen kann. Ich weiß es wohl, Gesina Gottfried war eine Erscheinung die auch Juristen beben machen konnte, aber dass diese Juristen im fanatischen Eifer erklärten, hätten wir zu entscheiden gehabt, wir hätten in das Mittelalter, in die Abscheulichkeit jener finsteren Carolina zurückgegriffen und von dort das Rad, oder sonst Etwas für die Inquisitin hergeholt, das zeugt von jenem blinden Eifer, der an der Stelle, wo die Humanität sitzen soll, das corpus juris, oder die peinliche Halsgerichtsordnung bewahrt, und zu diesen Gerechten soll heut zu Tage kein Richter gehören.

Das Ober-Appellatiollsgericht der vier freien Städte steht abgeschlossen für sich da, außerhalb des Bürgertums, welches sich, wie der rote Faden, durch den Geist der kleinen Republiken hinzieht, deren erstes Tribunal es sein soll. Am auffallendsten ist der Beamten-Rigorismus, welchen dieses Gericht gegen den Advokatenstand an den Tag legt, der in jenen Freistaaten allerdings bei weitem bedeutsamer hervortritt, als in monarchischen Ländern. Hier sind die Advokaten höchstens die Verteidiger des Rechts; dort aber nehmen sie an der Gesetzgebung Teil, als freie Bürger. Man muss ihnen auch in der Form die Achtung nicht versagen, die sie als solche ansprechen können, und die ihnen auch von ihren städtischen Behörden nie versagt wird. Das Ober-Appellationsgencht aber lässt es sie bei jeder Gelegenheit fühlen, dass es sie nur in der abgesonderten Stellung, als Wortführer der streitenden Parteien betrachte, und geht nicht selten hierin so weit, dass es sich Freiheiten erlaubt, die ihm, als bloßer Gerichts-Behörde, durchaus nicht zustehen. Hamburg und Lübeck haben ihren Doktoren der Rechte das Prädikat: „Herr“ in amtlichen Beziehungen eingeräumt. Wenn nun dergestalt rubrizierte Schriften, durch Ergreifung von Rechtsmitteln, an das Ober-Appellationsgericht gelangen, so nimmt sich das Letztere jedes Mal die kleinliche Freiheit, den Herren zu streichen, wie man das allmonatlich in den Bekanntmachungen des Gerichts sehen kann. Über die Vernachlässigung der Form und des Bocksbeutels könnte man kein Aufheben machen, aber die Sache gewinnt als Rechtsverletzung, die von einem hösten Gerichte ausgeht, ein ganz anderes Ansehen und bekundet es zur Genüge, welchen Einfluss dieses Gericht auf das gesamte Justizwesen gern ausüben möchte und wie es danach trachtet, auf alle mögliche Weise eine servile Subordinierung des Advokatenstandes zu bewirken. Es ist das nicht ratsam für eine Republik. Diese soll es sich auf alle mögliche Weise angelegen sein lassen; denn diese allein können, der Lage der Sache nach, für innere Organisation des Freistaats am besten sorgen, sie allein können bei der Gesetzgebung am besten die Bürgerschaft repräsentieren. Nicht weil sie das positive Recht inne haben, sondern weil ihnen auf den Universitäten für die Grundsätze der Humanität näher gebracht werden, als den übrigen Bürgern, die sich meistenteils in dem kleinlichen Materialismus des städtischen Verkehrs umhertreiben und den Weltgeist und die Zeit vor dem Handel, dem Kramladen, dem Bürgerkonvent, „Tafel und Buch“ und „der neuen Eintracht“, oder einem alten wurmangefressenen „Rezess“ nicht sehen. Das Ober-Appellationsgericht steht nicht unabhängig da; als höchstes Gericht der vier freien Städte ist es den Regierungen dieser freien Städte untertan, es muss das anerkennen, was hier als Gesetz feststeht, sei es nun als geschriebenes, oder als Gewohnheitsrecht. Wenn die Regierungen den Doktoren einen Herrn zugestehen, so hat auch das Ober-Appellations-Gericht keine Befugnis, ihnen diesen Herrn zu nehmen.


Freilich wäre es besser, wenn die freien Städte einmal zu dem Entschlusse kämen, allen ihren freien Bürgern auch in Amtssachen den Herrn einzuräumen. „Mein Herr“ das klingt stolz, republikanisch, bürgerlich; es klingt weit besser, als „hochpreisliches Obergericht“ und „höchstpreisliches Ober-Appellationsgericht.“ Obergericht schlechtweg, ohne Preis und Hoheit, ist republikanisch, ist aufgeklärt. Die Behörden des Staats sollten auf die Einfachheit halten, aber die einzelnen Bürger sollten durch das „Mein Herr!“ durch diese edle, freie Bezeichnung stets daran erinnert werden, wie fern ihnen aller Servilismus liegen müsse.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus den Hansa-Städten