24. Grab des Ger Zedek in Wilna

Ein riesiger Baum fällt uns auf unter den wenigen, die dort wurzeln. Ohne Stamm wächst er in fünf großen auseinander geworfenen Ästen unmittelbar aus der Erde. Wie eine gewaltige Kröte oder ein Krokodil, irgend etwas Beinloses, sieht er von weitem aus. Oder auch wie ein verschrobener alter Mann. Tuchfetzen, Holzstücke und Steine, von den Besuchern des Friedhofs dorthin gebracht und längst grau und schmutzig geworden und verwittert, schmücken ihn wie ein trauriger Zierrat. Er ist aus dem Grab des Ger Zedek emporgewachsen, eines reichen polnischen Grafen, der vor zweihundert Jahren zum Judentum übergetreten ist. Nicht aus Liebe zu einer schönen Jüdin, wie sie Grillparzers spanischen König ergriff. Sondern aus Verehrung für die Gotteslehre Moses, die Regeln des Pentateuch und die Geheimnisse der Kabala. Der Baum hat den Grabstein gesprengt, wie das übermächtige metaphysische Verlangen nach Weisheit einst die Lebensgewohnheiten dieses Grafen zerbrach und ihn aus dem glänzenden Kreis der Seinen als armen bekehrten Juden Abraham ben Abraham in die Synagoge trieb. Er bedarf nicht des Regens, dieser seltsame Baum, heißt es in der Chronik, weil er von den Tränen, die um den Ger Zedek vergossen worden sind, durchtränkt ist. Denn der Polengraf wurde wegen seines Übertritts zum Judentum an dem Fuß des Schlossberges zu Wilna verbrannt. Eine goldene Treppe soll sich von seinem Scheiterhaufen zum Himmel aufgetan haben, wie die Leiter, die Jakob im Traume sah, von lichten Reihen von Engeln umsäumt. An Ihrer Spitze hätte der Erzvater Abraham den Ankömmling empfangen. Die Überreste des Ger Zedek aber bargen die Häupter der Gemeinde zu den toten Leibern der Ihrigen. Zwischen den Leichen Israels und dem rührenden Gräberkehricht schläft nun unter dem rätselhaften Baum am Ufer der schnellströmenden Wilja die Asche des polnischen Grafen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland