23. Der alte Judenfriedhof

Ganz anders wie der weltberühmte von Prag, der einer versunkenen Totenstadt gleicht, eingeklemmt zwischen hohe neue Mietshäuser, einem muffigen Seelenghetto, das wie ein Alpdruck auf unserer Erinnerung lastet, ist dieser fünfhundertjährige Friedhof von Wilna wie ein Stück Vergangenheit, das auf der grünen Wiese der Gegenwart weidet. Am Ufer der Wilja. Ein Nachen trägt uns hinüber über den schnellströmenden Totenfluss. Noch ein paar Schritte drüben am Strand. Da ruht schon wie ein Häuflein welker Blätter Judengrab bei Judengrab. Mitten auf einer Wiese, die ein hoher grauer Bretterzaun umschließt. Fast alle Grabsteine sind verwittert, zerbröckelt und zerfallen. Ihre Ziegel und Klötze modern zerstreut im Grase. Ein paar Kühe grasen auf dem welligen Rasengrund neben dem Friedhof. Kampagnastimmung umweht uns. Hier und da schaut uns von den Überresten der übermoosten Grabsteine noch die krause Schrift Palästinas an. Mit schwarzen oder goldenen hebräischen Lettern. Von den Grabhütten ist der Mörtel abgebrochen, sind die Dächer vermorscht. Am ergreifendsten aber sind die vielen Gräber, die völlig versunken und von der Erde wieder verschluckt worden sind. Wie winzige Maulwurfshügel, vom Grün überwachsen, wie niedrige Wellenkämme des Todes sehen sie aus, diese zahllosen Ruhestätten längst verstorbener Kinder Israels, die statt am Jordan an der Wilja schlummern.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland