22. Kopf eines alten Juden

„Warum malt Ihr so gern alte Juden, Meister?" fragte man einstmals Rembrandt.

„Weil sich das Leid des Lebens doppelt stark in ihren Zügen ausspricht. Weil sie das, was wir alle, die wir atmen, durchmachen und durchdenken müssen, noch bitt'rer schmecken mussten als die andern Menschen, dadurch, dass ihnen durch ihre Geburt das Dasein von vornherein versalzen war. Weil sich in ihren vergrämten Gesichtern das Gefühl, ein Fremdling auf der Erde zu sein, das sich auf dem Antlitz der Besten ausprägt, wunderbar und erschreckend deutlich wiederspiegelt. Weil sich bei ihnen von der kleinen Fläche des menschlichen Angesichts, die man mit zwei Händen zudecken kann, die Tragödie unsers ganzen Geschlechtes ablesen lässt. Weil in den Runzeln ihrer Stirn, in dem Blick ihrer Augen, in den Falten um ihren Mund die schmerzlichste der Enttäuschungen, die wir im Altern von dem Stoppelfeld unserer Träume sammeln müssen, die Enttäuschung über die Menschheit, erhaben ausgedrückt ist, wie in einem Monument, das man der Erbärmlichkeit der Welt gesetzt hat. Und weil sich endlich trotz alle diesem die Hoffnungsseligkeit der Menschen und die Zuversicht auf ein besseres Jenseits selten ergreifender abmalen lässt als von diesen vergrämten Lippen, die den Tag mit heiligen Psalmen beginnen und ihn beschließen, indem sie ein paar dunkle Sprüche aus dem Talmud vor sich hin flüstern, als wären damit die Schlüssel zum Paradiese wieder gefunden."
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland