21. Die Madonna von Osstrabrama

Schon dass dies Bild der Madonna hoch über den Menschen in einem Torbogen hängt, unter dem die Wagen im Schritt fahren und ein jeder, auch der Jude, der unter ihr seines Weges spaziert oder kutschiert, die Mütze lüftet, hebt es vor andern Muttergottesbildern heraus. Es schwebt gleichsam außerirdisch in der Luft und man muss den Kopf zu ihm heben wie zu allem Göttlichen. Niemals verlässt es seinen Ort. Ein blassblauer zarter Vorhang aus schwerer Seide wird vor das Bild gezogen, wenn es unsichtbar werden soll. Aber die Madonna bleibt stets an ihrem erhabenen Platz im Bogen des alten Osttores, von dem sie ihren Namen führt, und lächelt, wenn sie sich zeigt, in himmlischer Majestät auf die Menschen hernieder.

Ihr schmales, längliches Antlitz ist gebräunt von dem Duft der Wachskerzen, die vor ihr brennen, wie das Angesicht der Braut, die das Hohe Lied besingt. Niger sum sed formosa, sagt es in seinem lieblichen Ausdruck. Der Kopf ist sanft zur Seite geneigt, wie bei Menschen, die immer wieder vom Mitleid zur Erde gezogen werden. Bunte Edelsteine funkeln von dem Mantel, der sie deckt. Zwei Kronen lasten auf ihrem Haupt, das von bleichen Perlenketten umwunden ist. Aber sie drücken sich nicht, so wenig, wie die Ehren, mit denen man ihn umgibt, den wahren König beschweren. Sie lächelt dazu in unnahbarer Größe und in ewig gleicher Güte.


Doch von fast noch wundervollerem Ausdruck als ihr Gesicht sind ihre Hände. Sie wachsen aus dem Gold des Mantels, der sie umgleißt, wie seltsame Blumen, fast wie Orchideen, hervor. Braun auch sie, sind sie eigentümlich gespreizt. Ähnlich wie die segnenden Hände der Hohepriester im Alten Testament. Sie haben beinah etwas Künstliches. Sie halten nichts. Kein Kind, wie es sonst die Mutter Gottes schmückt oder drückt, ruht auf ihnen. Es ist die Immaculata, die unbefleckte Jungfrau, nicht die mater dolorosa oder iocosa, die dort im Bilde auf der Mondsichel schwebt.

Zu der reinen Himmelskönigin beten alle jene, die dort auf der heiligen Straße vor ihrem Bude knien.

Dir, der Unberührbaren
Ist es nicht benommen,
Dass die leicht Verführbaren
Traulich zu dir kommen.

Scharen von Andächtigen ruhen zu jeder Zeit, den Bück voll Sehnsucht und Gläubigkeit emporgewandt, vor diesem Abbild der Göttlichkeit, das wie eine Monstranz leuchtet, auf dem Pflaster oder den hölzernen Steigen am Rand der Straße, Krüppel und Bettler sind darunter, die den Rosenkranz zwischen ihren schmutzigen und knochigen Händen drehen und ihr Leiden und Elend zur Madonna emporheulen oder winseln. Bis zum Ende der heiligen Straße klingt dies Beten und Klagen zur gebenedeiten Jungfrau, deren Bildnis aus der Ferne im Flimmer der Lichter wie ein glühendes rotgeweintes Auge erglänzt. Als rühre der Himmel und seine Herrscherin die tiefe Trauer, die durch diesen Krieg über die Menschheit gekommen ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland