11. Der schönste Punkt von Kowno

Der schönste Punkt von Kowno, der Zusammenfluss der holden Wilja mit dem Memelstrom. Wie ein ausgelassenes Mädchen eilt die Wilja, Litauens lieblichstes Kind, dem mächtigen breiten Freier zu. In feierlicher Muße vereinigen sich die Beiden im Angesicht von Kowno und Wiliampol. Als stumme Gäste und Zuschauer wohnen die zwei Städte der Hochzeit der beiden Flüsse bei, die vereinigt in schimmernden Windungen dem Norden zuströmen und sich scheu zwischen Bergen und Wäldern vor dem Blick der Nachschauenden verstecken. Man kann das Gleichnis noch weiter spinnen: Das Hämmern und Pochen unserer Pioniere, die an der Holzbrücke über die Wilja arbeiten, klingt fast wie der Lärm des Polterabends vor der Vereinigung des Flusspaares in unser Ohr. Hier an dieser Stelle, wo sich vielleicht dereinst ein gewaltiger Denkstein zur Erinnerung an die Einnahme von Kowno durch die deutschen Truppen erheben wird, hat Mickiewicz sein anmutigstes Volkslied gedichtet: Das Lied von der Wilja und von der Litauerin, die dem Fremdling, dem Deutschen, voll Liebe wie die Wilja dem Njemen dort zum Opfer fällt. Es möge hier folgen, weil es wieder zeitgemäß geworden ist, und weil seine Verse auch in der deutschen Übersetzung noch so schön wie die Wellen der beiden Flüsse zusammenklingen:

Die Wilja strömt in Kownos holdem Grunde,
Narzissen blüh'n und Tulpen dort im Bunde.
Litauens Mägdlein wie die Blumen glühte,
Zu ihren Füßen lag der Männer Blüte.


Die Wilja nicht nach Kownos Blumen schmachtet,
Nur mit dem Njemen sucht sie Liebesbande.
Litauens Mägdlein nicht die Ihren achtet,
Sie liebt den Jüngling nur aus fremdem Lande.

Die Wilja fasst der Njemen starken Armes,
Durch Klippen trägt er sie und wilde Leere,
Presst an die kalte Brust sein Lieb, sein warmes,
Und — stirbt, mit ihm vereint im tiefen Meere.

So hat der Fremdling auch Dein Herz entzogen,
Litauerin, der Heimat Deiner Lieben:
Auch Du versinkst in des Vergessens Wogen,
Nur traur'ger noch, da Du — allein geblieben.

Zu warnen Herz und Strom, wem mag's gelingen!
Mägdlein wird — lieben, und die Wilja — fließen:
Die Wilja wird des Njemen Flut verschlingen.
Das Mägdlein einsam Tränen viel vergießen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland