09. Litauisches Zeitungsmädchen

„Kownoer Zeitung! Kownoer Zeitung! Von haite!" Allabendlich, kurz nach 4 Uhr, hallt es wie der Pulsschlag der Zeit so durch die Straßen von Kowno. Aus den kräftigen Kehlen der kleinen Zeitungsverkäufer und -Verkäuferinnen. Kläglich wie Eselgeschrei hört es sich an, wenn sie ihre papierne Ware ausrufen. Unermüdlich wiederholen sie ihren Lockschrei, bis sie der Abend und die strenge Polizei von der Straße treiben. Man reißt ihnen das Blatt aus der Hand und überfliegt den Bericht: „Westlicher Kriegsschauplatz. Erbitterte Kämpfe . . . Östlicher Kriegsschauplatz: Heeresgruppe des Generalfeldmarschalls von Hindenburg . . . . Armee des Generals von Linsingen . . . . Balkan-Kriegsschauplatz: Nichts Neues." Nun durchliest man es noch einmal genauer und merkt sich einzelne Tatsachen und Zahlen. Bis morgen wenigstens. Bis ein neuer Bericht den heutigen bei Seite drängt wie die Lebenden die Toten.

Das kleine Mädchen, das die Zeitung nicht lesen und verstehen kann, starrt den Käufer, der gierig die Buchstaben verschlingt, befremdet an. Sie hat nur ein einziges Interesse an dem Handel mit den Weltbegebenheiten. „Fünf Pfennig!" murmelt sie zwischen ihren aufgeworfenen Lippen und wischt mit der leeren linken Hand ungeduldig unter ihren breiten Nasenlöchern her.


Der Leser fährt verwirrt von den gedruckten Ereignissen auf. „Ach so! Richtig! Hier hast Du einen Groschen, kleine Polin! Darfst den Rest behalten, weil heut' solch' schöne Sachen im Bericht stehen." Sie läuft erfreut zu ihren kleinen Kollegen, die hin und wieder an den Straßenecken eine Versammlung und Besprechung über die heutigen Einnahmen abhalten. Draußen im Felde fallen tausende blühende Menschenleben. „Kownoer Zeitung von haite!" hallt es weiter.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland