02. Blick auf Kowno

Wenn das Dampfboot, das von Tilsit und Schmalleningken kommt, sich Kowno nähert, heult die Sirene auf, dass das Echo von den Festungsbergen widerhallt und noch weithin im Tale der Wilja nachzittert. Langsam steigt ein Turm nach dem andern empor: Zuerst die beiden hellen Spitzen der katholischen Garnisonkirche, dann der rote runde Turm der Kathedrale und gleichzeitig der dreistöckige weiße des Rathauses mit der zierlichen Wetterfahne, die sich gleichsam in den Himmel häkelt. Wie eine echte Wasserstadt wirkt Kowno von dieser Seite fast venetianisch. Hier vom Fluss aus ist die Stadt von den Deutschen genommen worden. An der Stelle, wo heute die Hohenzollernbrücke fest verankert liegt, dort, wo einstmals der größte Teil der russischen Armee Napoleons den Njemen überschritt, haben die Pontons die ersten deutschen Soldaten nach Kowno gebracht. Und vorn an der Kante, die dem deutschen Eck in Koblenz ähnelt, weil an ihr die beiden Flüsse Memel und Wilja zusammenströmen, ist der erste Schuss der 42-Zentimeter-Mörser in die Stadt gefallen. Der erste und zugleich einzige, denn er genügte, die letzten Russen zum schleunigsten Abzug zu bewegen. „Nun wollen wir uns das Ding einmal von der Nähe betrachten!" sagten die deutschen Kanoniere, klopften ihre Pfeifen aus und ruderten nach Kowno herüber. „Du! Ob wir jetzt in die Weltgeschichte kommen?" fragte lächelnd einer den andern mit einem stolzen Siegerblick auf das schöne Bild der Stadt am Memelstrand.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland