Die stumme Sünde

Naheliegend ist der Gedanke, dass es sich bei dieser Generalgeißelung um die Bestrafung uneingestandener sexueller Vergehen der Schüler gehandelt haben mag, wenn dies auch niemals deutlich ausgesprochen ist. ,,Dass aber jene Lehrermönche sich über die möglichen üblen Folgen der Prügelstrafe in sexualpsychologischer Hinsicht klar waren, zeigen die Gebote, dass Schläge nur auf die Hände oder den Rücken gegeben werden durften, und dass die Knaben dabei nicht betastet werden sollten. Es besteht wohl kein Zweifel, dass bei einer Prügelstrafe seitens des Lehrers sexuelle Motive in Frage kommen können, und dass bei Kindern sexuelle Anomalien durch die körperliche Züchtigung hervorgerufen werden können . . ." 3).

Wehe dem Schüler, der sich bei einer Sünde dieser Art hätte ertappen lassen. Dennoch waren sie sehr verbreitet in den Klöstern. Bruder Berthold von Regensburg sprach außer von der roten noch von der geheimen Sünde, die Luther und Eberlin von Günzberg die stumme Sünde nannten. Auch Bruder Johannes Pauli berührt einmal dieses Thema, das er in direkte Verbindung mit den Klöstern bringt, die er, der Mönch, genau kannte. Er versichert, dass, männliche Jungfrauen in den Klöstern völlig fehlen. „Man hat sie vieleicht wol funden, die nie kein frawen hetten gehabt, sie waren darumb nit iunckfrawen. Es mag ein dochter ir iunckfrawschaft wol verlieren an ein man, vnd ein man an ein fraw, dis gehört in di beicht. Es müssen nit al wegen zwei sein, wan man dotsünd vollbringt" 4). Die Absicht, die ,,stumme Sünde" nicht aufkommen zu lassen, oder auszurotten, zeitigte scharfe Maßregeln. Eigene Wächter, die Cirkatoren, wie wir sie später in den Bursen wiederfinden werden, hatten ständig über die Schüler zu wachen. Außerdem war gezwungenermaßen ein Schüler der Spion des andern. Schließlich kam es so weit, dass jeder Zögling einen eigenen Aufpasser hatte, gegen den sich aber ein gewisses Misstrauen richtete, das sich in besonderen Vorschriften kund tat. So sollte der Aufseher vermeiden mit dem Schüler allein zu sein „propter bonum testimonium“. Bei den Cluniacensern standen dem Schüler sogar zwei Aufseher zur Seite, die nicht nur den Knaben, sondern gegenseitig sich selbst zu bewachen hatten.


Wie weitgehend diese Bewachung war, geht schon daraus hervor, dass jeder Knabe, wenn er gezwungen war, eines natürlichen Bedürfnisses wegen sich nachts vom Bette zu erheben, stets seinen Aufseher wecken musste, dieser aber noch einen Lehrer oder einen anderen der Schüler, die nun beide den Knaben auf den Abtritt führen mussten. Solche Maßregeln ruft allein nur die Erfahrung hervor, und sie wusste schon damals, dass klösterliche Askese stets bereit ist, in das Gegenteil umzuschlagen. Denn „wenn die Askese den Körper schwächte, so schwächte sie auch die Nerven, die überdies durch die beständige Beschäftigung mit übersinnlichen Dingen und Wiederholung von Erzählungen visionärer Zustände in unnatürliche Erregung versetzt wurden. So war der Boden bereitet für natürliche und unnatürliche Gelüste, und Onanie war an der Tages- und Nachtordnung. Zu diesem sozusagen „natürlichen“ Laster kamen in ebenso großem Umfange die sogenannten „unnatürlichen“, die Verbrechen „wider die Natur“, von denen auch die Goliardenlieder Andeutungen enthalten" 5).

3) Heinr. Gerdes, Geschichte des Deutschen Volkes und seiner Kultur zur Zeit der Karolingischen und sächsischen Könige. Leipzig 1891, S. 685 f.

4) Max Bauer, Liebesleben in der deutschen Vergangenheit. Berlin 1924, S. 110.

5) Dr. Oskar F. Scheuer, Das Liebesleben des deutschen Studenten im Wandel der Zeiten. Bonn 1920,8.9 f.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sittengeschichte des deutschen Studententums
002 Aus dem Studentenleben (3)

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003 Der Schulmeister

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