Aus der Jungenzeit

Es ist ein alter Erfahrungssatz, dass fröhliche Erlebnisse dauernder in der Erinnerung haften als traurige. Dass so kurz die Trauer, ist eine Wohltat für die Sterblichen. Wer freilich die schöne Erde nur als ein Jammertal betrachtet, der würde es lieber sehen wenn es umgekehrt, wenn lang die Trauer, kurz die Freude wäre. Wenn es nach den Wünschen der Nachfolger des Heraklit ginge, dann würde das lustige Volk der Seefahrer bald aussterben. Aber weil Ungemach, Entbehrung, Strapazen und Gefahren so schnell vergessen werden und die guten Tage des Seelebens sich in den Vordergrund drängen, deshalb ist so leicht kein Mangel an Aspiranten zu befürchten.

Ein lustiges Leben habe ich immer lieber geführt als ein trauriges. Deshalb bewahre ich Allem was dem Spaß, dem Scherz auch nur entfernt ähnlich sieht gern ein treues Gedächtnis, und lieb ist es mir wenn ich es mitunter auffrischen kann, Die für zerbrochene Teller und Schüsseln erhaltenen Püffe, die Scheltworte wenn eine neue Arbeit zu langsam ging, — der Bootsmann rief dann: hast du denn Haifischfell an den Fingern? — die Ängste beim Einscheren von Bramleesegelfallen, und besonders beim Ausführen der Spieren, die Sehnsucht nach einem siebenstündigen Schlaf, das Schlafen in durchnässten Kleidern. — Dies und manches Andere sei der Vergessenheit übergeben. Die täglich wiederkehrenden Freuden waren die drei Mahlzeiten. Begreiflich gab es dabei gewisse Abstufungen. Saerdammer- oder Kummertag mit seiner blauen Grütze, die freilich in der Kajüte mit Pflaumen statt sauren Zwetschen vermischt war, gefiel mir nicht halb so gut wie der Sonntag und der Donnerstag, die Sackkuchentage. Ein Schiffsjunge hat gewiss ein eben so gutes Recht materiellen Genüssen zu huldigen wie der Minister; freilich existieren Unterschiede zwischen beiden, der Erstere macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, und gesteht es gern, dass Essen und Trinken ein Hauptvergnügen ist; deshalb bekommt es ihm auch wohl so gut, ungeachtet des massenhaften Konsums dessen er tagtäglich sich befleißigt, zum Erstaunen der älteren Schiffsgenossen, die denn auch mit allerlei nicht sehr zarten Anspielungen sehr freigiebig sind, wovon der Vergleich mit dem Reiher und seinem durchgehenden Darm der salonfähigste sein dürfte; doch darüber will ich mir kein Urtheil erlauben. Als ich in späteren Jahren den Voltair'schen Ausspruch von der Verfeinerung der Sprache und gleichzeitiger Verschlimmerung der Sitten las, und wie die Schamhaftigkeit aus dem Herzen gewichen und auf die Lippen geflohen sei, fiel mir die unter den Matrosen verlebte Zeit ein. Wie derb waren ihre Ausdrücke und wie gesund waren sie im Innern! Auch glaubte ich noch immer, dass die Lehrzeit in den meisten andern Berufsarten dem Jüngling gefahrvoller ist, als die im Schiffsdienst verlebte. Denn: Arbeit ist des Blutes Balsam, so heißt's im Cid; und Arbeit mit den Knochen ist gewiss die heilsamste, weshalb auch die allgemeine Wehrpflicht so segensreich wirkt. Die Späße die wir mit unseres gleichen oder mit den damals noch sehr sporadisch vorkommenden Passagieren uns erlaubten, waren wenn auch nicht ästhetischer so doch durchaus harmloser Natur, ja manche eignen sich sogar zum Wiedererzählen. — Einst hatten wir einen Missionar an Bord, einen jungen Mann der sehr gern Pudding aß, aber jedes mal Magendrücken davon trug. Er sei des Puddings Freund, aber der Pudding sei sein Feind. Er konnte die eigene Esslust nicht bezwingen, doch hielt er uns die schönsten die Enthaltsamkeit von allen irdischen Genüssen predigenden Vorträge. Der Teufel spielte bei ihm eine Hauptrolle, und stand bei ihm in großem Ansehen. Es war sehr natürlich, dass wir gerne unseren Übermut an dem frommen Eiferer ausließen. In einer mondhellen warmen Nacht lag der „Pastor“ auf dem einen Hühnerhock an der Kajütskappe, und der Kochsmaat auf dem andern, der Steuermann schwärzte diesem das Gesicht mit dem Russ der Nachthauslampe: „Junge schläfst Du?“ — Nein.“ — „Dann wecke den Pastor, es sei nicht gut im Mondschein zu liegen.“ Der schlaftrunkene Kochsmaat taumelt auf den Ärmsten zu, der Mond wirft ein helles Licht auf sein schwarzes Angesicht. — Der gute Pastor, von der unheimlichen Erscheinung in vielleicht süßen Träumen gestört, fährt mit dem Schrei: der Teufel! der Teufel! auf, und verschwindet Hals über Kopf in der Kajüte. Er wollte sich auch am hellen Tage die Teufelserscheinung nicht ausreden lassen. Möglich, dass sein Zeugnis nicht ohne Einfluss auf die Bestrebungen der Neuzeit geblieben ist.


Einen andern Kajütpassagier, dessen tägliche Frage eine Zeitlang die nach dem Passieren des Wendekreises des Krebses gewesen war, wurde eines schönen Tages der leibhaftige Wendekreis mit Hilfe des Fernrohrs gezeigt. „Ja, wahrhaftig ich sehe alle sechs Beine und ein Stück des Kreises, fein wie ein Haar“ rief der erstaunte Anfänger in der Geographie aus. Speckesser, der von der Manipulation nichts wusste, erblickte durch das Glas eine Schaluppe mit sechs Riemen. Er hatte schon viele Male den Wendekreis des Krebses durchschnitten, war sogar auf jener Seite der Linie gewesen, hatte aber nie etwas davon gesehen, er glaubte auch nicht, dass es zu Wasser möglich sei. Auf dem Lande — das sei vielleicht was anders — das wolle er nicht bestreiten.

Nachts auf der Wache, wenn es nichts zu tun gab, hörte ich gern den Erzählungen der Matrosen zu. Mitunter kam auch die Rede auf Erlebnisse und überstandene Gefahren. Davon hörte ich am liebsten erzählen. Aber für gewöhnlich drehte die Unterhaltung der Unverheirateten sich um die vor der Abfahrt gehabten Tanzvergnügungen im Heimatdorf. Dieser war zweimal, jener dreimal auf Musik gewesen. Der eine hatte so viel verzehrt, der andre so viel. Der Grad des gehabten Plaisirs wurde nach dem ausgegebenen Gelde berechnet, wovon immer ein guter Teil durch das „Traktieren“ draufgegangen war. Mitunter waren arge Prügeleien, wobei leere Flaschen und Stuhlbeine als Waffen und Geschosse dienten, das Ende des Plaisirs und kein unerheblicher Teil desselben gewesen. Die Verheirateten sprachen dann von ernsteren Dingen. Der eine lobte seine Frau, die jedes mal während seiner Abwesenheit drei Paar wollene und ein Paar haarene Handschuhe gestrickt hatte: der andere rühmte sich selbst, wie er während der Reise alle seine Sachen durch Stopfen und Flicken so in Ordnung halte, dass seine Frau wenn er zu Haus komme wenig für ihn zu tun habe. Die meisten unserer Leute waren immer vom Lande, und das Gespräch hatte begreiflicherweise oft die ländlichen Beschäftigungen, Kartoffelpflanzen und Hocken, und Arbeiten wie sie im Haushalt des Hintersassen, in unserer Gegend Köther auch wohl Anbauergenannt vorzufallen pflegen, zum Thema. Was für eine Bewandtnis es mit dem Plaggenmähn habe, konnte ich erst durch vieles Fragen herauskriegen: es ist das Abhauen der oberen Schicht der Heide, welche mit auf den Düngerhaufen gelegt wird. — Interessanter waren natürlich die wenn auch nur kurz erwähnten Erlebnisse auf früheren Reisen. An den Erzählungen eines Unfalls wurde gewöhnlich eine bündige und kernige Kritik der Handlungsweise des Kapitäns geknüpft. Da hieß es denn bald: der Alte war ein Schafskopf — er hatte „das Jack“ an, hatte „in den Tran getreten“ war „sternevoll“ mit welchen Kunstausdrücken der Zustand der Trunkenheit bezeichnet wurde; oder er wurde mit den Worten: er war ein rechter „Seekerl“ von aller Schuld freigesprochen. Ein Kapitän hatte durch Einsegeln bei Nacht wozu keine Notwendigkeit vorgelegen, sein Schiff verloren. Er wurde als ein „Ausholer“ und die Nachtarbeit ebenfalls verurteilt. Letztere ist überhaupt bei den Seefahrern nicht beliebt; es gibt ja Ausnahmen wofür der Matrose gewöhnlich ein drastisches Witzwort bei der Hand hat: aber im Allgemeinen ist das Arbeiten bei Nacht ebenso wie die Sonntagsarbeit verpönt. Auf letztere ruhe kein Segen, gewöhnlich werde etwas dabei versehen, oder wenn sie vorgenommen werde um einen guten Wind zu benutzen, so helfe das doch zu gar nichts. Meist immer drehe er sich noch kurz vor dem Fertigwerden. Einige Kapitäne hatten es nach dem damaligen Glauben vieler Matrosen ganz in der Hand sich einen günstigen Wind zu verschaffen. Gewöhnlich war dann aber ein schwarzer Hund oder eine schwarze Katze an Bord. Die Erzählung von Einem der durch das Drehen seines dreieckigen Huts den Wind beim Hinaufsegeln eines vielfach gekrümmten Reviers beständig günstig wehen ließ, wurde freilich als ein Märchen belacht; aber so ein kleines Bündnis mit „unserm Maat (dem Teufel) sei gewiss möglich, davon habe man doch augenfällige Beweise selbst erlebt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Seebilder