Aus den Lehrjahren als Junge

Für die zweite Reise war ich als wirklicher Kajütenwächter angenommen. Ich musste also mit zum Mastern und aus den Händen des würdigen Wasserschouts, nachdem uns die Musterrolle vorgelesen worden, mein Handgeld empfangen. Viele Jahre später erinnerte ich mich noch des seltsamen Eindrucks den das Vorlesen der Schiffsartikel, namentlich die Erwähnung des von dem Fall der Verstümmelung handelnden Titels des Seerechts, auf mich machte. Das Wenigste verstand ich von dem Ganzen, manches kam mir vor, wie Beschwörungsformeln, die ich aus Märchen kannte. Am besten begriff ich das, was von gesalzenem und geräuchertem Speck, und Fleisch und Brod gesagt wurde, welches alles mit derselben ernsthaften Miene und demselben feierlichen Ausdruck vorgelesen wurde, als der Artikel von der Verstümmelung. Von dem Handgelde durfte ich einen Teil nach eigenem Belieben verwenden, ich konnte noch ein Paar Tage zu Hause bleiben, und nun ging es Nachmittags mit früheren Schulkameraden, die noch nicht in der Lehre waren oder die Erlaubnis bekommen konnten in die Vorstadt zu der von uns frequentierten Kegelbahn, wo ich meine Freunde traktieren und mit meiner neuen blauen Jacke mit den Perlmutterknöpfen renommieren konnte.

Als ich an Bord kam, waren erst wenig Leute an Bord, der Obersteuermann, der Bootsmann, ein paar Matrosen und der Koch. Letzterer war mir noch unbekannt. Es war ein langer spindeldürrer Gesell, der Sohn eines Leichterschiffers der in unserer Nachbarschaft wohnte, wodurch wir denn bald gut miteinander bekannt wurden. Die übrigen hatten schon mehrere Reisen mit dem Triton gemacht. Damals fuhren meistens die Leute längere Zeit mit demselben Kapitän. Es gab noch nicht so viele Schiffe. Wenn abgemustert wurde, fragte der Kapitän oder der Steuermann die tüchtigen Leute, ob sie dächten nächste Reise wieder mitzugehen. Das Wort musste ihnen gegönnt werden, denn gefragt oder gar gebeten hätte keiner, das ging gegen die Ehre.


Nun wurde das Schiff wieder aufgetakelt, und da es noch wenig „zu putzen, zu polieren und blank zu machen“ gab, so musste ich zu meiner großen Freude den Matrosen helfen, wenn sie die Wanten kleideten, und wenn meine Hände dabei teerig geworden, so bildete ich mir nicht wenig ein. Auch lernte ich manche Schiffsausdrücke kennen, die mir auf der ersten Reise nicht vorgekommen. Dass Matten gespickt werden mussten, war mir sehr auffallend, als ich aber mit dem vom Koch geholten Speck ankam, wurde ich tüchtig ausgelacht. Was der Lenz mit dem Pumpen zu schaffen habe, wollte mir gar nicht in den Kopf, es ging mir so wie zuerst mit dem Ruf: Besahn schoot an! als wir noch auf der Rhede vor Anker lagen und gar keine Besahn beigesetzt hatten.

Nach und nach, so wie die Arbeit weiter vorschritt, kamen die übrigen Leute an Bord. Georg war Leichtmatrose geworden, Gustav war zu Hause geblieben um die Steuermannskunst zu erlernen, in seine Stelle war ein Kapitänssohn gekommen, der die letzte Reise als Matrose machen und dann die Schule besuchen wollte. Von diesem habe ich manches gelernt, denn er konnte mir das Wie und Warum erklären. Die andern hatten nur einen Grund, der hieß: alldoch! und der brachte mich nichts weiter. Weshalb sollte das Bramleesegel mit der Raa hinter dem Bramsegel stehen? alldoch! weshalb jetzt auf einmal vor demselben? alldoch! daraus konnte der Henker klug werden; Gerhard aber war Theoretiker genug um mir diese Abweichungen erklären zu können.

In die Zeit der Auftakelung für die neue Reise fiel der Dingskirchner Markt. Durch Erzählungen hatte ich einen hohen Begriff davon bekommen. Die Reminiszenzen der Matrosen von der Heimat und von „Plaisir“ im Allgemeinen gipfelten in den Erlebnissen zu Dingskirchen. Eine viel erzählte Anekdote Hess den Schulknaben die drei hohen Feste als Pfingsten, Dingskirchner Markt und „Vollbauchsabend“ nennen. Das letzte fällt kurz vor Weihnachten, und mag Ähnlichkeit mit der Wurstelsuppe im Oberlande haben. Meine Phantasie malte sich die hohen Genüsse, die jener Jahrmarkt bot mit so glänzenden Farben aus, dass meine Bitten, mich mitfahren zu lassen, beim Steuermann gnädiges Gehör fanden, und ich des gesetzten Bootsmanns Obhut anvertraut wurde. Es war längere Zeit mehr Regen gefallen als sonst in dieser Jahreszeit üblich war; als wir mit der Schaluppe wegfuhren, war es trocken aber windig und kühl; am Lande angelangt, mussten wir eine gute Stunde durch den aufgeweichten Kleiboden stelzen, dann waren wir aber auch im Mittelpunkte der großen Herrlichkeit angelangt. Ich habe jetzt nur noch eine ziemlich dunkle Erinnerung von einem Gewirre von Spickaalen, Honigkuchen, rotbackigen und rotarmigen Bauerdirnen, Grog, kalt oder heisa, hartgekochten Eiern, unter Zeltdächern von ungehobelten mit Blei bedeckten Brettern, improvisierten Tanzböden, Schinkenbutterbrot, Buden mit Mützen, Spielzeug und Schuhwaren. Eierbier, Heu- und Schilfwiesen, in deren Lee geruht wurde, vielen Stuhlwagen der meist wohlhabenden, ja reichen Bauern eines nach Meilen messenden Umkreises, Bauerfrauen und Töchter in schweren seidenen Kleidern; von einem Geschwirre der verschiedenartigsten Töne von Menschen und Vieh, von Musikbanden, grölenden Bauerburschen, kreischenden Mädchen, singenden Matrosen, wiehernden Pferden, quiekenden Schweinen, brüllendem Rindvieh, Kindertrommeln und Pfeifen, welche zu einem Konzerte sich vereinigten; und von einem Gedränge sonder gleichen, mochte man sich in der Hauptstraße des Orts bewegen, oder in einem der Wirtshäuser und Tanzlokale sein. Auch erinnere ich mich noch, dass wir Alle, der Bootsmann, Gerhard, der Koch, Speckesser und ich sehr viel Plaisir hatten und fast immer lachten, ich weiß aber nicht mehr worüber. Ein Haupt-Plaisir war das Traktieren Bekannter, und das Traktiertwerden; es war rührend, ein wie edler Wettstreit dabei vorherrschte; Jeder wollte traktieren, denn die Summe des Vergnügens wurde bemessen nach der Summe des ausgegebenen Geldes. Ich erinnere mich auch noch, dass endlich das Vergnügen überstanden und die lustige Gesellschaft kurz vor Tagesanbruch wieder an Bord angekommen war, dass der schwarze Kaffee besser schmeckte als nachher die Arbeit, dass der Koch, wie der Bootsmann nicht mit Unrecht bemerkte, vieräugig aussah, und dass Speckesser gefragt wurde, ob ihm auch die Haare weh täten; Redensarten die mir neu waren, und deshalb wohl im Gedächtnisse hafteten. Als ich in spätem Jahren in irgend einem Buche las, wie ein Türke nach einem Balle erstaunt gefragt habe, ob man denn im Leben zweimal tanze, ist mir der Dingskirchner Markt eingefallen, den ich damals zum ersten und letzten Male besucht habe.

Es ist überhaupt mit dem „Plaisir“ eine eigene Sache. Wir Jungen drängten uns immer zu, wenn zu irgend welchem Zwecke eine Tour mit dem Boot ans Land gemacht werden musste. Die Arbeit dabei war meist schwerer, als diejenige die wir an Bord hätten thun müssen. Nicht immer konnte es so eingerichtet werden, dass jedes mal der Strom günstig war. Und dann war am Lande, wie z. B. beim Wasserholen, die Arbeit auch oft nass genug. Aber es hatte einen eigentümlichen Reiz, etwas Anheimelndes, eine viertel- oder halbe Stunde in der Wirtsstube, also doch unter Dach und Fach, in einer von anmutigen Gerüchen, die an geräucherte Mettwurst, Hahn und Schinken, weiches Schwarzbrot und dergl. Freudebringer erinnerten, durchzogenen Atmosphäre sitzen zu dürfen. Einmal habe ich aber auch einen tüchtigen Schrecken auf einer Landtour gehabt. Ich sollte Kamillentee von der Apotheke holen. Arglos stelle ich mich an das auf der Hausflur befindliche Schiebfenster und klopfe an. Es wird geöffnet und ich sehe gerade aus, wie man doch zu sagen pflegt, zwischen zwei Beinen durch. Ich glaubte zu einem Riesen gekommen zu sein. Dass zur Stube eine mehrere Stufen hohe Treppe führte, bemerkte ich erst später. Wenn man aber ein Gesicht oder mindestens doch eine Weste zu erblicken erwartet, und nun plötzlich zwischen zwei Säulen hindurch gleichsam ins Unendliche starrt, ist ein Schrecken erklärlich.

Ich will gerade nicht behaupten, dass mir die Lehrjahre unnütz gewesen sind, das sind sie gewiss nicht gewesen. Aber ich meine in einer kurzen Zeit und auf eine bessere Weise hätte ich alles lernen können, zumal ich den Vorteil hatte, am Wasser groß geworden zu sein und mich immer viel mit Bootfahren befasst habe. Für die große Mehrzahl der Schiffsjungen wird es wohl immer so bleiben. An Hänseln und gelegentlichen Püffen und Knüpfen fehlt es dabei nicht. Der Bootsmann sagte: Junge Hunde müssen beißen lernen. Wenn ich jetzt aber die vortreffliche Einrichtung der Deutschen Seemannsschule in Hamburg mit meiner Lehrzeit vergleiche, so muss ich die jungen Leute, die dort für ihren Beruf auf rationelle Weise vorbereitet werden, im höchsten Grade beneiden. Wie vielen Unannehmlichkeiten gehen sie aus dem Wege! Wie viele Püffe sind ihnen erspart! Wie viel gründlicher lernen sie alle Handgriffe und die zum Matrosenhandwerke gehörigen Fertigkeiten! Sie kommen so vorbereitet an Bord, dass sie nur noch die Seekrankheit überstehen und sich Seebeine anschaffen, auch das Steuern eines großen Schiffs lernen müssen, sonst könnten sie sich für Vollmatrosen ausgeben; ja manche Vollmatrosen der Neuzeit verstehen nicht so viel von ihrem Handwerke wie die in der Seemannsschule gewesenen jungen Leute.

Was soll ich nun noch Einzelnes aus der Lehrzeit herausgreifen? Die Wahl schwankt unter dem Erlernen der einzelnen Arbeiten, dem Bramleesegelfallen - Einscheren, dem Spieren-Ausführen (Letzteres wurde mir mit meinem kleinen Körper schwer, und hat mir in der ersten Zeit Angstschweiss genug ausgepresst), oder den Späßen mit dem Kochsmaat, den Leichtmatrosen, und mit dem großen Schiffshunde, oder dem was aus Matrosenerzählungen von eignen und fremden Erlebnissen haften geblieben, oder den Scherzen, die Kapitän und Steuerleute mit sporadisch vorkommenden Kajütspassagieren sich erlaubten, oder den zwischen diesen über die mannigfaltigsten Dinge geführten Gesprächen und Debatten; doch mag aufs geradewohl aus dem bunten Allerlei Einiges herausgegriffen werden.

Wir hatten im Spätsommer in der Loire eine Ladung Balken aus der Ostsee entlöscht, und lagen geballastet segelfertig um über einen Kohlenhafen Englands nach der Heimat zurückzukehren, und dann dem Schiff die gehörige Winterruhe zu gönnen, als eine Gegenordre, des Correspondent Rheders das Schiff nach einem Französischen Hafen des Mittelmeeres dirigierte. Unter der Besatzung, Kapitän nicht ausgenommen, brachte diese neue Bestimmung großen Missmut hervor, denn Niemand war weiter als bis nach Bordeaux gewesen! — Mir machte die Aussicht, die Säulen des Herkules zu passieren, eine große Freude, die ich indes nicht laut werden lassen durfte, denn ich war der Kochsmaat des Schiffes und machte meine erste Seereise. — (Beiläufig, vor 80 Jahren.)

Am schwersten betroffen fühlte sich indes der alte Daniel, ein baumlanger Matrose der alten Schule, er hatte sich ein Viertel Anker Rotwein im Löschplatze gekauft und diesen für ein im Winter zu Hause zu feierndes Familienfest bestimmt und nun war durch die Weiterreise die Heimkehr ins Unbestimmte hinausgeschoben. Das Fässchen wurde in der Koje unter dem Kopfkissen aufbewahrt und in den ersten Tagen, nach unserer Abreise, hatte ich denn oft Gelegenheit zu sehen, wie sorgfältig er seinen Schatz untersuchte, und bei aller Begierde davon zu trinken nicht wagte, den Anfang damit zu machen, weil er nur zu gut wusste, dass er an seinem als Koch und Zimmermann an Bord befindlichen Schwager einen unberufenen fleißigen Mittrinker haben würde. Mehrere Tage hatte der arme Daniel seinen Weindurst aus der erwähnten Furcht bemeistert, als er mir eines Abends während ich mich mit ihm allein im Roof befand, das Versprechen abzwang ihm seinen Wein bewachen zu helfen, denn er müsse ihn austrinken, weil er sonst verderben würde. Daniel versicherte mir hoch und teuer, dass er mich nicht verraten wolle, wenn ich ihm über die Eingriffe des Schwagers in sein Eigentumsrecht eine Mitteilung zu machen hätte. Ich gab das Versprechen nur ungern, und nahm mir fest vor, den Koch nicht zu verraten, ich hatte schon so viel Erfahrung, dass ich wusste ich würde schlecht bei einer Verräterei wegkommen.

Was Daniel erwartet hatte geschah. Der Koch hatte mich, der ich ja viel im Roof beschäftigt war, bereits mehrmals gefragt, ob sein Schwager schon das Fass angebrochen habe, und meine Antwort hatte immer darin bestanden, dass ich es nicht wisse. Er hatte dann, wenn er sich sicher wusste, das Fässchen herausgeholt und damit geschüttelt, es aber immer noch voll gefunden, bis er dann eines Tages bei diesem Schütteln entdeckte, dass Daniel bereits mehrere gute Züge gemacht haben müsse. Mit großer Geschicklichkeit und ohne Geräusch öffnete er nun den Spund und sog wohl eine gute halbe Flasche in sich hinein, denn er wusste sich vor Daniel, welcher am Ruder stand, sicher. Kaum hatte aber der Koch nachdem er den Rand des Spundloches sorgfältig trocken gewischt, das Fässchen weggestaut, auch in das Kopfkissen die gehörige Bucht gedrückt, den Roof verlassen, als Daniel erschien, der sich vom Kajütswächter hatte ablösen lassen, die lange Anwesenheit seines Schwagers im Roof hatte ihn beunruhigt und nachdem er mich vergeblich scharf inquiriert, stärkte er sich für die ausgestandene Angst durch einige herzhafte Züge, nahm dann ein Stückchen Brandholz, maß den leeren Raum zwischen Spundloch und Oberfläche des Weins, schnitt einen Kerb in das Holz und verbarg dasselbe.

Sehr bald kam der arme Daniel zu der festen Überzeugung, dass er einen Helfer bei seinem Wein habe und wendete nun ein recht sinnreiches Mittel an, den Täter zu entlarven. Er rechnete dabei auf die im Roof herrschende Dunkelheit, und die Eile mit der sein Helfer immer zu Werke gehen musste. Nachdem Daniel wieder erst einmal tüchtig getrunken, nahm er ein Stück Holzkohle und rieb mit demselben die ganze Fläche des Fässchens um das Spundloch herum tüchtig ein setzte den Spund auf und legte es an seine Stelle.

Nach einer halben Stunde ungefähr wurde das Bramsegel aufgegeit, und Daniel erhielt die Ordre eine aufgetrennte Naht in demselben zuzunähen. Kaum saß er auf der Raa, als der Koch im Roof erschien, das Fässchen hervorholte, den Spund entfernte, sich auf eine der Kisten setzte, den Tabak aus der Backe nahm, diesen sorgfältig vor sich niederlegte und nun einen langen Zug tat. Ich sah im Geiste die Szene, die sich später ereignen musste. Was Daniel bezweckt hatte, war geschehen, die Nasenspitze, die Lippen und eine Backe des Kochs waren prächtig geschwärzt und als er die nassen Lippen mit dem Handrücken abwischte, verbesserte er den Abdruck beinahe bis zum rechten Ohr hinauf.

Aus dem Roof hinaustretend wollte er sich noch den Anschein größter Unbefangenheit dadurch zu geben suchen, dass er vor der niedrigen Tür stehen blieb, um mir eine Anweisung in Betreff der auf dem Feuer befindlichen Erbsen zu geben. Ich hatte große Mühe ernst zu bleiben, verbarg aber mein Gesicht im Spintje, in welchem ich mir eine Beschäftigung machte. Das schlechte Gewissen musste den Koch doch wohl plagen, denn ehe er sich von der Rooftüre entfernte, schielte er nach seinem auf der Bram-Raa sitzenden Schwager, wobei er diesem das Gesicht etwas zuwenden musste, aber nicht wenig durch den grimmigen Zuruf: „na warte Spitzbube“ erschreckt wurde.

Die Frage des in der Nähe befindlichen Steuermanns, wo er mit seinem Gesicht gewesen, trieb den Koch zurück in den Roof, wo ihn der Spiegel belehrte dass er sich hatte fangen lassen.

Nachmittags prügelten sich beide Schwager, und Abends musste der Koch Daniels Ruderturn nehmen, weil dieser wegen Hinfälligkeit, da er den Rest seines Weins mit einem Male ausgetrunken hatte, unfähig dazu war.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Seebilder