Zu Anfang jenes Jahres stürmte es gewaltig

Zu Anfang jenes Jahres stürmte es gewaltig in der ganzen Schweiz, der Sturm wird sich noch nicht ganz gelegt haben, denn es war ein politischer Sturm, der nicht mit Blitz und Donner und Regengüssen bald zu enden pflegt. Mein Aufenthalt in Zürich, damals Vorort, welcher während dem nach Luzern verlegt worden, fiel in die Zeit der häufigen Notenwechsel. Diese papiernen Drohschreiben erregten bei Manchen eine jämmerliche Furcht, Andere blieben ganz indifferent, noch Andere freuten sich herzlich und inniglich der diktatorischen Sprache der fremden Mächte und des heiligen, deutschen Bundes. Die Veranlassung zu jenen Noten gaben, oder sollten deutsche Flüchtlinge geben; — wie Einige glaubten — nur ein Vorwand in die innern, sich freier gestaltenden Verhältnisse der Schweiz hemmend einzugreifen, denn wie könnten — fragten sie — jene wenigen deutschen Flüchtlinge, rechne man auch italienische, polnische und französische hinzu, andern Mächten und dem benachbarten Deutschland Furcht einflößen; sollte sich deren Anzahl auch über hundert erstrecken, was vermöchten diese ohne Anhang, ohne Einigkeit unter sich, ohne Geld, ohne Waffen? Eben so lächerlich erschienen ihnen die Deutungen und Folgerungen aus der Steinhölzligeschichte, die sich nahe bei Bern zugetragen, wo einige Deutsche, meist Arbeiter, sich versammelt, getrunken, sich betrunken, nachher patriotische Lieder gesungen und einen Fetzen, in der Größe eines Taschentuchs, mit den altdeutschen Farben an einen Stock gebunden und gelobt hatten, Deutschland befreien zu wollen. Befürchteten vielleicht die gerüsteten Mächte einen ähnlichen Einfall, wie er in Savoyen stattgefunden hatte? Diese Furcht wäre übertrieben, eben so gut wie der sardinische König unbesorgt vor jenem projektierten Einfall in seine Staaten ruhig hätte schlafen können. Nein, das war es nicht, worauf die Drohungen, Noten und angeblichen Sicherstellungen ihrer Staaten von Seiten der fremden Mächte hinarbeiteten, sie wollten — hieß es — das in der Schweiz immer mehr um sich greifende liberale Prinzip — welchem andern könnte man wohl in einer Republik huldigen? — unterdrücken, die Flüchtlinge ausgeliefert oder ausgewiesen haben, die verjagte Patrizierregierung wieder hervorrufen. Darum die schlecht verhehlte Freude vieler Schweizer ob der Demütigung und schmählichen Behandlung ihres Vaterlandes, sie bliesen und schürten immer mehr die Flammen, hoffend, dass sie über kurz oder lang ihre Sessel wieder einnehmen würden. Wenn es auch dahin nicht kommen wird, so benahm sich doch die jetzige Regierung, mehr die Berner als Züricher, sehr schwach und unpolitisch, sie gab nach, versicherte in Allem zu willfahren, und so kam es, dass jede neue Note strenger und drohender, als die frühere war. Es ist bekannt, dass gegen die Schweiz von Seiten Deutschlands und Österreichs die Sperre verhängt ward, dies goss Öl in das Feuer, viele krochen ganz zu Kreuz, andere brausten auf und wollten energischere Maßregeln ergriffen wissen. Es bildeten sich Vereine und Assoziationen, man wollte, wenn nicht anders möglich, der Gewalt, Gewalt entgegensetzen. Dies taten einige wenige Bürger, die Regierungen taten nichts, sie rüsteten nicht, übten die Milizen nicht, sondern stellten ihre Sache dem Schicksal und dem Herrn der Heerscharen anheim. Doch sie taten etwas! sie verjagten einige unglückliche Deutsche, die teils wohl Unfug getrieben hatten, teils aber unschuldig, wie das Kind im Mutterleibe und gar nicht fähig waren, etwas zu unternehmen und zu leiten, aus ihren Kantonen und resp. aus der Schweiz, ließen sie geschlossen durch Landjäger transportieren und berichteten den fremden Gesandten: „Seht, tun wir nicht Alles, was Ihr verlangt!“

Es mag hier an seiner Stelle sein, etwas über die verschrieenen Handwerkervereine, deren Mittelpunkt Zürich war, zu sagen. Obwohl ich selbst nie in einem war, trotz mehrerer Aufforderungen „deutscher Brüder,“ so kenne ich doch die innere Einrichtung und den Zweck derselben ziemlich genau, ich war sogar als Gast bei einem ihrer Mahle und in einer Versammlung, in welche ich durch Zufall oder geflissentlich durch einen Bekannten, der mich für die „allgemeine Sache“ gewinnen wollte, geriet. Bekanntlich gibt es in der Schweiz sehr viele deutsche Arbeiter, die gesucht sind und gut bezahlt werden. Diese Leute halten als Landsmänner natürlich zusammen, sprechen über ihr Vaterland, vergleichen es wohl auch mit der Schweiz und finden, dass es sich hier besser und freier leben lässt. Es mögen auch überspannte, gebildete und ungebildete Köpfe unter ihnen auftreten, über manche Einrichtungen in ihrer Heimat herziehen und sich vornehmen, alles dort zu ändern, Gewerbefreiheit einzuführen und dann Meister zu werden. Diese Arbeiter, unter denen sich wohl nur sehr wenige oder gar keine politische Flüchtlinge befanden, wurden mit solchen, mit Studenten, Angestellten u. s. w. bekannt, das gleiche Vaterland, die gleiche Sprache führte sie zusammen, überwiegende Bildung und Einsicht machte diese zu Führern und Leitern jener; man kam an denselben Orten zusammen, unterstützte sich im Notfall, besprach sich und beriet das Wohl und Wehe des Vaterlands. Immer naher traten Gleichgesinnte, oder die überzeugt, oder verführt waren, zusammen, ordneten regelmäßige Zusammenkünfte, teilten sich in Sektionen, erwählten Vorsteher, Sprecher, für jede Sektion, ernannten Sekretäre, welche die Korrespondenz führten, und die Kasse unter sich halten, gaben sogar auf gemeinschaftliche Kosten ein Blatt, das „Nordlicht“ heraus, waren aber sonst friedfertig und arbeitsam, sie wollten zwar eine Änderung der Dinge nach ihrem Sinn herbeiführen, aber wollten nicht auch die Zyklopen den Himmel stürmen! Dies der Ursprung, die Einrichtung und der Zweck jener als höchst gefährlich geschilderten Handwerkerassoziationen. Manche der Vorsteher und Lenker hatten gewiss jeglichem Monarchen und legitimen Fürsten äußerst widerwärtige, gefährliche Absichten, aber wie wollten sie solche realisieren mit den wenigen Anhängern, unter denen es Knaben, Feiglinge und Strohköpfe in Masse gab. Der Züricher Verein soll der zahlreichste gewesen sein, und betrug in vier Sektionen nie über achtzig Mitglieder. Zugegeben, dass auch an einigen andern Orten, wie in Winterthur, Stäfa, Bern und vielleicht noch hier oder dort ähnliche Vereine bestanden und die Zahl sämtlicher derartigen „Verschwornen“ einige hundert betragen hätte, was konnte Deutschland, was die fünf gerüsteten Großmächte von diesem unbewaffneten, in Waffen ungeübten Häuflein besorgen? Einem meiner Bekannten, der als der Klügste in diesem Verein die Hauptrolle spielte, teilte ich einst unumwunden mit, dass ich das ganze Beginnen töricht und nutzlos erachtete, an einen Einfall, wie der verunglückte savoyische, an welchem er Teil genommen und sich dessen schämte, sei doch vernünftiger Weise nicht zu denken. „Du Narr,“ — erwiderte er, — „meinst Du das sei unsere Absicht? Dies spiegeln wir bloß den Leutchen vor und machen sie durch Hoffnung auf Plündern und Beute unserm Willen fügsamer, es liegt uns bloß daran, alle diese Arbeiter in ihrem resp. Vaterlande zu verdächtigen, und es dahin zu bringen, dass sie bei ihrer Rückkehr alsbald festgenommen und gesetzt werden, da murrt dann die ganze Verwandtschaft und der Anhang des Eingesteckten, und das gibt wieder eine hübsche Anzahl Unzufriedener und verbreitet immer mehr Hass gegen die Regierungen!“ — Dies war also die eigentliche Absicht! Da sind die armen irregeleiteten Schafe nur doppelt zu bedauern, die sich leiten und gängeln ließen, ohne an die Folgen, ohne an das Lächerliche ihres Vorhabens zu denken. Wie die Handwerkervereine verdienen auch die deutschen Flüchtlinge, die sich zu jener Zeit in Zürich aufhielten und von denen jene ausgingen, einiger Erwähnung. Die Mehrzahl der anwesenden Compatrioten waren gar keine politische Flüchtlinge, sie gaben sich nur dafür aus, um dadurch vielleicht Mitleiden oder Aufsehen zu erregen. Die wirklichen Flüchtlinge waren im Durchschnitt sehr achtbare, hin und wider etwas überspannte Jünglinge und Männer, die entweder den Studien oblagen, sich ihren Unterhalt auf anständig Art verdienten, oder sonst Mittel hatten. Die Pseudoflüchtlinge dagegen waren, mit wenigen Ausnahmen, Tagediebe und Vagabunden, die Schulden oder sonstiger Übeln Verhältnisse halber ihr Vaterland quittiert hatten, und in der Schweiz ein Eldorado zu finden wähnten. Hier gaben sie sich, als Alles fehl schlug, für Verfolgte, Unterdrückte, aus Gefängnissen Entsprungene, für Teilnehmer an dem Frankfurter Überfall und Gott weiß für was aus; aus Not, um von den bemittelteren und Gütigen Landleuten unterstützt zu werden, wurden sie heftige Republikaner, Demagogen und Revolutionärs, man hatte sie mit leichter Mühe und wenigem Geld zu Allem stempeln können. Diese Bande, Gott Lob nicht sehr zahlreich, schadete dem guten Ruf der übrigen deutschen und sonstigen Flüchtlinge, unter denen sich einige reiche Italiener, auch eine junge, hübsche, sehr reiche, unverheiratete italienische Gräfin und mehrere Franzosen, namentlich Seidenarbeiter, befanden, gar sehr: meist waren es Leute ihres Schlags, die später ausgewiesen wurden, oder aus freien Stücken ihr geträumtes Eldorado verließen, um vielleicht an andern Orten den Flüchtling und Liberalen, oder vielleicht auch, je nachdem es besser ging, den Servilen zu spielen. Ein Individuum dieses Gelichters bleibt mir ewig unvergesslich, es war ein Deutscher aus den mittlern Staaten, eine Hünengestalt, weshalb er den Beinamen „Goliath“ erhielt, gewiss aber noch sechs Zoll höher war, als jener wütende Heide, — mit impertinent blonden, langen, ungekämmten, in den Nacken wild herabfallenden Haaren, und einem fuchsroten Knebelbart; der kurze Hals saß etwas schief auf den ungeheueren, vierschrötigen Schultern; ein graues, abgetragenes, altdeutsches Röckchen, viel zu klein und namentlich zu kurz für die Gestalt des dermaligen Besitzers, ging kaum bis über die Hüften; unendlich weite Inexpressibles von grauer Leinwand — der deutsche Jüngling wollte dadurch seine Abhärtung dartun, besaß aber keine anderen Substituten — schlotterten bis auf die gewaltigen Füße, auf welchen die Gestalt bequem im Stehen sterben konnte. Das Ganze deckte ein kleines, abgetragenes, schief auf einem Ohr sitzendes schwarzes Mützchen — dies war die Gestalt und das Äußere des fürchterlichen Goliath, der nichts im Munde führte als „persönliche Freiheit, Tod den Tyrannen und totale Vernichtung.“ Sah man den Riesen an, so befürchtete man, dass er dies verwirklichen könnte und möchte, es war aber ein ausgemachter Feigling, ein früherer studiosus philosophiae, der sich nie unter der Dachtraufe vorgewagt hatte, und wegen zwanzig Thaler Schulden entlaufen und revolutionär geworden war. In Zürich erging es ihm schlecht, nie länger als acht Tage blieb er in demselben Logis, da ihn die Wirtsleute nach Verlauf dieser Frist jedes Mal ausboten. Als er einst bei diesen häufigen Umziehen, was sehr leicht bewerkstelligt war, da der kühne Jüngling alle seine Habe an und auf sich trug, nicht gutwillig weichen wollte, warf ihn sein Wirt, ein stämmiger Küfer, der den Mut seines Gastes kennen mochte, sans façon zum Hause hinaus, der Vertriebene schlug nun sein Nachtlager in den Fleischbanken auf — es war Anfang Februar — und versicherte im tiefsten, erkünstelten Bass, dass seine persönliche Freiheit ihm über Alles gehe. Schon früher hatte ich ihm den freundlichen Rat erteilt, sich unter die Freiwilligen nach Griechenland, oder in die französische Fremdenlegion anwerben zu lassen, da es mit seiner Philosophie doch keinen guten Fortgang haben möchte, denn als Lehrer würden die Kinder und seine Kollegen und Vorgesetzten ihn fürchten. — Diesen Rat musste er später gezwungen befolgen; eine nächtliche Patrouille fand ihn in seinem Nachtquartier, in den Fleischbänken, führte ihn auf die Hauptwache, von wo er andern Tags als Vagabund und ohne alle Existenzmittel über die Grenze transportiert wurde. Er soll sich gen Lindau gewandt haben, um die Scharen des griechischen Königs zu vermehren, gewiss wird er in jeglichem Regiment Flügelmann und seinen Feinden durch seine Gestalt imponieren. Leider wird seine persönliche Freiheit nun öfter mit seinem neuen Stande kollidieren, doch er wird sich darüber trösten, denn oft genug opferte er dieselbe für ein Glas Bier.


In eben jener Zeit verbreitete sich das beunruhigende Gerücht, Deutsche verbunden mit Schweizern und Polen wollten von Frauenfeld aus einen Überfall auf Konstanz unternehmen. Alle Landjäger, deren es in Ermangelung stehenden Militärs eine ziemliche Anzahl hat, waren auf den Füßen, Kuriere wurden abgeschickt, Noten gewechselt, die deutsche Grenze von badischen Truppen besetzt, und Bayern und Hessen zu eben dem Zweck aufgeboten. Den Anlass zu allen diesen Vorkehrungen hatte ein betrunkener Arbeiter in Frauenfeld gegeben: in einer Sonntags- oder Blaumontagsgesellschaft mehrerer Arbeiter hatte ein des süßen Weins oder bittern Branntweins Voller diesen Plan entworfen, der nach ausgeschlafenem Rausch vergessen war. Spione mussten davon gehört und das Aufgeschnappte vergrößert und vermehrt hinterbracht haben. Jetzt ging es gegen alle Fremde, besonders gegen die Arbeiter her, viele Regierungen Deutschlands verboten ihren Landeskindern fürder in der revolutionären und revolutionierten Schweiz zu bleiben, schickten Spione ab, deren Einige entlarvt sind, ordneten eine strengere Sperre an, drohten mit Aufhebung aller Verbindungen und militärischer Einschreitung. Was taten die Schweizer? das Volk, kräftig und frei und auf die Tapferkeit und den Ruhm der Ahnen pochend, rief: „Lasst sie nur kommen, die Kaibe, wir werde sie schon mit unsere Stutzer überkommen!“ Sie bauten auf ihre Fertigkeit im Schießen, die wirklich meisterhaft ist, auf die Gebirge, Schluchten und Engpässe ihres Landes, aber nicht auf ihre Regierungen. Diese verhielten sich mäuschenstill, zuckten die Achseln und wussten keinen Rat. Es war ihnen zwar auf dem Wiener Kongress die ewige Neutralität, Selbstständigkeit und Unverletzbarkeit ihres Gebiets von Sterblichen versichert, aber wie ganz anders lauteten die nunmehrigen Noten. Manchem der Herrn mag recht schwül geworden sein, und er sich von seiner Hoheit weit weggewünscht haben. Aber energische Maßregeln, Übung und Einberufung der zahlreichen, aber nicht sonderlich exerzierten und geregelten Milizen brachte Niemand in Vorschlag, oder wagte es nicht. Einzelne Petitionen, worin Scharen von Bürgern sich zum Dienst des Vaterlands bereit erklärten, Provokationen und vaterländische Vereine blieben unbeachtet oder wurden unterdrückt, die wohlweisen, gestrengen und gnädigen Herren — dies ihr Titel — bauten auf die ewige Garantie der fünf Großmächte.

Die Aristokraten — wir sprechen hier ganz in dem Sinne, wie die Schweizer dieses Wort und die entgegengesetzten Liberalen und Radikalen, zu denen im neuester Zeit noch die Nationalen hinzukommen, nehmen — lachten ins Fäustchen? und sangen Hosiannah, da war vielleicht im Trüben zu fischen, für sie und deren Familien etwas zu machen. Ihr Gang wurde stolzer, zuversichtlicher, sie hielten fester zusammen, gaben Feten und Bälle und verachteten mehr denn je ihre Widersacher, unter denen, wenigstens in Zürich, die reichsten und aufgeklärtesten Bürger und Angestellte sich befanden. Der Aristokratismus der Schweiz begreift nur adelige oder Patrizierfamilien in sich, die oft nichts weniger, als wohlhabend, aber altes, edles Blut in ihren Adern, gewöhnlich Bänder im Knopfloche und, wenigstens die Älteren, Perücken auf den Köpfen haben, damit das Bisschen Hirn nicht noch gefriert. Zu allen Zeiten sonderten sich diese Herren, unter denen es auch feine, gewandte Männer gibt, von den anders Denkenden ab, sie mieden deren Gesellschaften, hatten ihre eigene Kaffeehäuser und Kneipen vor der Stadt, ihre Bälle und Abendunterhaltungen, in denen es sehr steif und ledern zuging, sie nannten diese Absonderung, oder vielmehr abderitische Selbstkastration, Konsequenz; in den Zusammenkünften, Gesellschaften, auf den Bällen und Kaffeehäusern der verhassten Liberalen ging es nämlich viel freier, fröhlicher zu und wurde die Unterhaltung mit mehr Geist, Witz und Leben geführt, als dort.

Einen Einigungspunkt konnten die Herren aus der alten Zeit zu ihrem größten Leidwesen nicht bloß für sich vindizieren und okkupieren, nämlich das seit Kurzem auf Aktien erbaute Theater. Früher wurde zur Bildung und Unterhaltung des Publikums in einem bretternen Hause von peripathetischen Schauspielertruppen bisweilen gespielt, aber da alle größeren, reichern Städte ein Schauspielhaus, wenn auch keine stehende Truppe haben, so durfte Zürich nicht zurückbleiben, es beschloss daher auf Aktien ein solches zu gründen, was in der Tat auch recht leidlich ausgefallen ist, denn, wenn die Schweizer wollen, verstehen sie trefflich zu bauen. Das Haus steht nun zwar, aber mit den Schauspielern und Schauspielerinnen, keinesfalls doch eine Nebensache, sieht es traurig aus. Die Herren Aktionäre wollen ihr schönes Geld nicht weggeworfen, oder was dem Schweizer fast gleich gilt, ohne Zinsen, ohne Prosit großmütig aufgeopfert haben, deshalb muss der jedesmalige Schauspieldirektor von jeder Vorstellung zwei Louisd'or oder Dublonen, wie jene Goldstücke in Helvetien heißen, den Aktionären abgeben. Andere Theater werden von den Städten, oder von dem Staat aus noch bedeutend unterstützt und doch mangeln oft tüchtige Subjekte, eine Züricher Truppe muss aber noch zahlen! Dies ist nicht genug. Die Aktionäre haben einen Ausschuss gebildet, welchen sie Intendanz nennen, der über die Wahl der zu gebenden Stücke, über die Besetzung der Rollen, selbst über die Beibehaltung oder Entfernung der Mitglieder eine entscheidende Stimme hat. Unglücklicher Schauspieldirektor, wogegen hast Du in Zürich anzukämpfen! In der ohnehin teueren Stadt für die Übung Deiner göttlichen Kunst die hübschen Dublonen abgeben, Dich von ehrsamen und ehrbaren Philistern, von denen wenigstens noch keiner gestohlen hat und dabei ertappt worden, die aber von nichts weniger als von Thaliens Kunst verstehen, belehren, raten, Deine hohen Ansichten durchkreuzen, die Verteilung der Rollen verwerfen, Deine Anordnungen missbilligen lassen — ist das nicht zu viel für einen Sterblichen, besonders aber für einen Schauspieldirektor, der ohnehin mit so vielen Schikanen und Intrigen, mit so viel schlechten Menschen zu kämpfen und vollauf zu tun hat! Der eine Herr Intendant will ein „ächt nationales Schweizerstück,“ der andere ein „Singstückle,“ der dritte „ein lustiges,“ der vierte sogar ein „antinationales und illiberales“ aufgeführt wissen, da ist Zank und Verdruss in allen Ecken. Dies war aber noch nicht Alles, was auf den unglücklichen Direktor einstürmte, sein eigenes Personale, seine Untergebenen, vom ersten Helden bis zum untersten Kulissenschieber und Lampenputzer, von der prima Donna bis zur abgelebtesten Statistin, bereiteten ihm noch drückendere, peinlichere Sorgen. Die Gage dieser Helden und Heldinnen, Statisten, Coulissisten u. s. w. war im Durchschnitt äußerst gering, die Mehrzahl konnte mit dem Ausgesetzten gar nicht leben und bekanntlich wollen diese freien Künstler nicht bloß leben, denn dazu gehört in der Tat wenig, sondern gut leben: die natürliche Folge war, dass die Schauspieler, selbst das weibliche Personale, Schulden machten und bei Nacht und Nebel Zürich und den andern Tags laut jammernden Direktor verließen. Wöchentlich absentierten sich Einige auf diese Weise, weshalb oft angezeigte Stücke nicht aufgeführt und die Stellen der Durchgebrannten nicht leicht ersetzt werden konnten. Es wurde dieser Unfug so arg, dass die löbliche Polizei vor den Wohnungen der Künstler und Künstlerinnen Posten aufstellte, sich täglich zu wiederholten Malen von deren Anwesenheit und der ihrer Effekten überzeugte und einst bei der ersten Sängerin, die erklärte, dem würdigen Beispiel vieler Vorangegangenen folgen zu wollen, sechsunddreißig Stunden Wache stehen musste, bis sie das Vögelein glücklich ins Theater, wo es für den Abend die Hauptrolle auszufüllen hatte, transportiert hatte. Die weggeflogenen Vögel fanden leicht in der Schweiz, oder im südlichen Deutschland Schutz und Aufnahme; in ersteren war die Theatermanie um jene Zeit arg, jede Stadt wollte ein Schauspiel und musste also auch Schauspieler haben, eine treffliche Aussicht für jene Zugvögel.

Das Theater in Zürich hätte sich unter solchen Umstanden gar nicht halten können und würden die Herren Aktionäre schwerlich einen Direktor mit dem benötigten Personale gefunden haben, wenn nicht auch hier das Schauspielhaus als etwas Neues, von den Spießbürgern nie Gesehenes mit ungeheuerem Zudrang frequentiert wäre. Sehr oft waren schon Nachmittags keine Billete für den Abend mehr zu erhalten, von drei Uhr an drängte, schimpfte und schlug sich die Menge, absonderlich der Pöbel, für einen Platz auf dem Paradiese vor der Kasse und dem Eingange. In jeder Gesellschaft, in der ganzen Stadt hörte man fast von nichts Anderem, als von dem Theater, von diesem und jenem Stück, von diesem Schauspieler oder jener Schauspielerin sprechen. Das weibliche Personal, nichts weniger als vorzüglich und reizend, meistens ausgediente Damen, machte noch mehr furore als das männliche, es war etwas Neues und daher piquant. Junge und alte Männer, Jünglinge und schöne Kaufmannsdiener wurden plötzlich Dramatiker und Sänger, sie nahmen bei den Actricen Privatunterricht im Singen und in schönen Stellungen, welches löbliche Bemühen oft Ärgernis und Anstoß gegeben hat.

Besonders nahm ein Stück Schauspieler und Zuschauer sehr in Anspruch, es war ein vaterländisches, welches in Zürich vor mehreren Jahrhunderten gespielt hatte und von Hrn. Spindler, aus Dankbarkeit, dass man ihm zur Bearbeitung des Stoffes zu einem Roman Archive und Bibliotheken offen gestellt hatte, der Stadt und vornämlich dem Theater, oder unmittelbar dem Schauspieldirektor geschenkt war. Es hieß nach dem Helden: Hans Waldmann, eine bekannte geschichtliche Person, der Sieger bei Murten und lange Zeit rühmlicher Stadtschultheiß und Bürgermeister von Zürich. Das Sujet passt trefflich für die Bühne, wie für den Roman, bleibt aber immer nur ein Lokalstück. Jener Waldmann, ein freisinniger, kräftiger, stolzer Mann aus dem Volke verdarb es mit den Patriziern, die er übersah und deren Frauen er verführte, weshalb er lange in dem Wellenberg gefangen gehalten, und endlich enthauptet ward. Diese Prozedur geschieht auf der Bühne mit demselben Schwert, mit welchem jener Held, dessen Wert erst später erkannt, vom Leben zum Tode befördert wurde; das Zeughaus liefert Waffen, Kleidungen usw. und so wurde dieses Stück einige Male recht brav gegeben; an öfteren Wiederholungen war die Intendanz verhindert, weil sich kurz hinter einander zu viele Helden auf oben angegebene Weise entfernt hatten.—.

Für diejenigen aber, die in fremden Ländern und Städten die Merkwürdigkeiten sehen wollen, müssen doch auch die Wunder und Seltenheiten, welche Zürich in sich schließt, angegeben werden. Da befinden wir uns aber in nicht geringer Verlegenheit, denn wir müßten deren erdichten, indem wir unerachtet eines zweimonatlichen Aufenthalts und darüber, in Zürich selbst gar nichts Sehenswertes gefunden haben, und dennoch hierauf eifrig ausgegangen sind, gelesen und uns befragt haben. Den Dom habe ich nur von Außen gesehen, das Zeughaus von Innen, einige Bibliotheken, eine Duodezgemäldegalerie und ein Museum ebenfalls, weiß aber nichts darüber zu berichten und rate Niemandem sich die Mühe zu geben, diese Anstalten zu besichtigen. Dagegen gehe der Fremde vor die Tore, oder auf die Katze, — ein festes hohes Werk, welches der prachtvollen Ausficht halber, die man von ihm genießt, stehen bleiben soll, — innerhalb der Stadt, oder vielmehr in den Wällen nahe am Sihltore, er gehe an beide Ufer des Sees, besteige die benachbarten Höhen rechts und links, befahre den See und scheue die halbe Stunde bis auf die Wies, ein neues Gasthaus nebst Bädern im Westen der Stadt, in der Mitte eines Berges, nicht. Dann wird er reichlich für das, was er in der Stadt vermisste, entschädigt sein; herrliche Aussichten auf die riesigen, stets mit Schnee und Eis gekrönten Alpen; der reizende See mit den lieblichen Ufern, freundlichen Landhäusern und Dörfern, dieses frische Grün neben dem klaren Wasserspiegel, überall üppige Fruchtbarkeit erhöht durch den Fleiß der Bebauer, Weinberge und Obstpflanzungen, mit Wald gekrönte, sanft aufsteigende Hügel: Alles vereinigt sich dem Auge um dem Gefühl die lieblichsten Bilder darzubieten. Leider konnte ich diese bezaubernden Gegenden und Fernsichten nicht in ihrer vollen Schöne bewundern, ich sah sie im Winter, mit Schnee bedeckt und erstorben; nur in der letzten Zeit meines Aufenthalts schmolz die höher strebende Sonne den Schnee in der Ebene, auf den Hügeln und bis zur Hälfte der Gebirge. So konnte ich nur halb das genießen, was der Reisende in den Sommermonaten ganz genießt, hatte dafür aber ganz das, was jener nie zu seiner Zeit findet: ein Wintergemälde, welches auch seine Reize und Schönheiten darbot. Wenn die Sonne über den leuchtenden See, über die beschneiten Fluren und Höhen und Gebirge mit diamantenem Glanze, der das Auge blendete, hinzog, die düstere Stadt und die freundlich umgebenden Dörfer und Hauser wie Oasen aus dem Schneefelde hervorblickten, die Höhen der Gebirge vergoldet, die Täler von ihnen dunkel beschattet waren: diese Ruhe, diese feierliche Stille, die ganze Natur im Winterschlaf, — auch dieses Gemälde hatte etwas Anziehendes, etwas Erhebendes. Um vieles schöner gestaltete sich Alles am Abend beim Untergang der Sonne; zu dieser Zeit sollte man auf der Wies sein, um die Aussicht über den See und die hinter diesem sich auftürmenden Gebirgsmassen vor sich zu haben, sollte das Alpenglühen von diesem Standpunkte aus bewundern. Es ist unbeschreiblich! Die Sonne, eine feurige Kugel, ohne ihren Strahlenglanz vom Tage, steigt langsam und zögernd nieder, als wollte sie das Schauspiel, welches sie hervorgezaubert, selbst recht lange genießen; die Gebirge im Osten glühen von dem feurigen Glanze der Scheidenden, die Gipfel schwimmen in Feuer, die Mitte starrt in Schnee und Eis, die Füße prangen in neuem, frischem Grün. Der See bricht in seinen kräuselnden Wellen das letzte Flimmern des Tageslichts in tausend verschiedenartigen Farben, ein reiner Himmel deckt das Ganze, wie die liebende Mutter mit dem Gewande das schlafende Kind.

Und hat man sich an diesen Naturszenen satt gesehen, ist aber von der Wanderung, von dem Steigen ermüdet, hungrig und durstig, so findet man in jedem Hause freundliche Aufnahme, ein Schöppchen Wein, wohl auch einen Imbiss, denn die Leute sind gut und zuvorkommend und bedienen und erquicken den Wandrer gern — für sein Geld! Fast jedes Haus ist ein Wirtshaus, gewöhnlich nur eine Kneipe, Pintenschenke von den Zürichern getauft. Man findet in der nächsten Umgebung der Stadt deren gegen hundert, die Zahl derjenigen innerhalb derselben ist unzahlbar, wie Sand am Meere. Seit der letzten unblutigen Staatsumwälzung litten auch die früher drückenden Bestimmungen der Gewerbefreiheit eine große Änderung, von nun an durfte jeder seinen selbsterzeugten Wein nicht nur nicht selbst trinken, sondern auch ausschenken. Jeder wurde alsbald Wirt, und hatte er nur einen Weinberg von sechs Rebstöcken; ging das Ausschenken gut, so konnte er überall Wein haben, da die Reben um Zürich, am See, zwar keine sonderliche Qualität, aber eine ungemeine Quantität liefern; fanden sich keine Gäste ein, so steckte er das Geschäft auf und nahm den grünen Busch von oder über der Haustüre wieder ab. In der Schweiz schämt sich Niemand eines Gewerbes, sagte ich früher, dass jeder Wirt wurde, so war dies nicht übertrieben, Tagelöhner, Bauern, Handwerker, Rentiers und Präsidenten schenken Wein, alle höchsteigenhändig. Und eine höhere Würde als die eines Präsidenten gibt es in Helvetien nicht, obwohl man unter den Präsidenten wohl unterscheiden muss. Da gibt es Präsidenten des großen und kleinen Rats, des Ober- oder Apellationsgerichts, einen Präsidenten jeglicher Behörde, jeglichen Untergerichts, jeder Stadt, jeder Dorfbehörde. Dem zu Folge gibt es im Kanton Zürich gewiss drei Mal mehr Präsidenten auf ungefähr 200.000 Einwohner, als im Königreich Preußen auf 13 Millionen. Und jeder Präsident dünkt sich nichts Geringes, mancher macht sogar ein saures Gesicht, wenn man in später Nacht ihn noch inkommodiert und mit: „Hr. Präsident, noch ein Schöppchen,“ aus dem Schlummer stört und in den kalten Keller hinunterjagt.

Die Titelsucht der Schweizer wird oft lächerlich, doch scheint sie im Abnehmen zu sein. Besonders fallt dem Fremden die Menge der obern Offiziere auf, die in jedem kleinen Kanton zu treffen sind, man sollte glauben das ganze Aufgebot bestände nur aus Obristen, Majors und Hauptleuten. Einen geringern Grad, als den letztern, habe ich nie nennen hören, dagegen Hr. Obrist und Hr. Major beinahe jeden Mann mit einem Schnurrbart. Es ist dies erklärlich, einmal dienten viele Schweizer in fremdem Solde, bekleideten sie dort auch nicht den jetzigen Rang, so avancierten sie nach ihrem oder ihrer Freunde Gutdünken par ancienneté fort, legten sich auch wohl statt des Lieutenants- den Majortitel bei; dann bedarf die Schweiz für ihre zahlreiche Miliz (jeder Schweizer gehört zu ihr, außer wenn er physisch verhindert, zu jung oder zu alt wäre) zahlreicher Offiziere, man sagte mir, dass der Kanton Zürich auf 200.000 Einwohner 20.000 Mann Milizen stelle. Diese Milizen sind nicht in Regimenter, sondern nur in Bataillons eingeteilt, jedes von ihnen, nicht so zahlreich als ein Deutsches, hat einen Obristlieutenant oder Obrist und einen Major, der aber nur den Titel ohne Mittel hat; rechnet man zu dieser nicht unbeträchtlichen Menge Stabsoffiziere jene aus fremden Diensten, aus Frankreich, Holland, Neapel, Rom und aus Napoleons Zeiten, so wird man erklärlich finden, dass fast der dritte Mann, dem man begegnet, ein Obrist oder Major ist, der oft mit gravitätischem Schritt und im Bewusstsein seines Ranges mit seinen schönen glatten Ochsen den Dünger auf sein Land fährt. Beatus ille, qui procul negotiis, paterna rura bobus exercet suis!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schweizerskizzen