Die Glocke läutete hell; ihre Töne zerflossen sanft in dem lichten Mittag; die Menschen kehrten von ihrer Arbeit heim. ...

Die Glocke läutete hell; ihre Töne zerflossen sanft in dem lichten Mittag; die Menschen kehrten von ihrer Arbeit heim. Die Männer gingen mit der Mütze in der Hand von den Feldern auf die Straße; die Stimme Gottes hatte sie gerufen, das harte Feldgerät aus der Hand zu legen, heimzukehren und sich zu stärken am Gebete und an irdischer Speise. Ein junger, schlank gewachsener Mann war die Straße von der Stadt heraufgekommen. Er war städtisch gekleidet und hatte einen braun marmorierten Ziegenhainer Stock, in den viele Namen eingeschnitten waren, in der Hand. Als er nun das Dorf so vor sich ausgebreitet sah, blieb er stehen, horchte hin nach dem Geläute und schaute umher in den Wald der blühenden Obstbäume, die das Dorf umdrängten. Er grüßte die Leute, die vom Felde herüber kamen, mit einer besondern Freundlichkeit, ja, als ob er sie kenne. Die Leute dankten herzlich und schauten sich alle nochmals nach ihm um, sie meinten, das müsse einer aus dem Dorfe sein, der aus der Fremde heimkehre; er hatte sie ja so durchdringend angeschaut, und doch kannten sie ihn nicht.

Als die letzten Töne der Glocke verklungen waren, als alles auf dem Felde stille, kein Mensch mehr zu sehen war und nur die Lerchen hoch in der Luft jubelten, da setzte sich der Fremdling an den Wegrain, schaute noch lange hinüber nach dem Dorfe, zog endlich eine Brieftasche heraus, und oft wieder um sich blickend, schrieb er hinein:


„Griechen und Römer! Wie hoch schallten eure Triumphe, wie schmetterten eure Kriegstrompeten, aber nur das Christentum grub das Erz aus den dunklen Schachten der Erde, ließ es hoch in den Lüften schweben und weithin seinen Klang ausgießen, zur Anbetung, zur Freude und zur Trauer. Wie herrlich mögen die Harfen und Pauken im Tempel zu Jerusalem geklungen haben; aber nicht mehr ein Tempel steht auf der Erde, tausende hieß das Christentum erstehen allerorten.. – Mir war’s vorhin, als ob die Glocken erschallten zum Einzuge in meinen neuen Bestimmungsort, als ob die Stimme Gottes mir Willkommen zuriefe. Wohl saht ihr euch verwundert nach mir um, ihr guten Menschen, ihr wußtet nicht, was wir einander werden sollen. O, könnt’ ich die Seelen dieser Menschen ganz in meine Gewalt bekommen, ich wollte sie frei machen von ihrem trägen Aberwitze und sie kosten lassen die reinen Freuden des Geistes. – Da wandeln sie aber hin, und gleich dem Tiere, das vor ihnen hergeht, sehnen sie sich nach nichts als nach dem Futter für ihren Mund . . . Das also ist der Ort, wo mein erneutes Leben beginnt; diese Schluchten und Ackerflächen, mit welchen Gedanken wird mein Auge auf ihnen weilen? O, die Erde ist überall schön und freudespendend, wo es Blumen gibt. Und wenn die Menschen mich nicht verstehen, verstehst du mich doch, o ewige Natur, und lächelst mir freundlich zu, wenn ich deinen stillen Offenbarungen lausche . . . Da stehen die Bäume in ihrer Blütenpracht, und drinnen im Dorfe hör’ ich das Jauchzen der Kinder, in deren Herzen ich den Lichtstrahl der Bildung werfen soll . . .“

Der Schreibende hielt inne; seinen Stock betrachtend, sagte er leise vor sich hin: „Nach allen Gauen hin seid ihr zerstreut, ihr Genossen meiner Jugend; nichts als eure Namen hier sind mir geblieben, und mit ihnen betrete ich die Schwelle meines neuen Lebens, ihr alle begleitet mich im Geiste. Ich sende euch einen Herzensgruß hinaus in den Frühling, möge er euch wiedertönen aus dem Munde der Vögel in den Lüften und eure Seele erquicken!“

Rasch stand er auf und schritt durch das Dorf.

Wir wissen nun, daß wir den neuen Schullehrer in dem jungen Manne kennen gelernt. Er fragte nach dem Schultheiß, man wies ihn in das Haus des Buchmaiers.

Der Buchmaier saß mit seinem zahlreichen Hausgesinde bei Tische, als der Fremde eintrat. Nach herzlichem Willkomm wurde er eingeladen, sich zu Tische zu setzen; der Lehrer dankte.

„Ei was?“ sagte der Buchmaier, der sich alsbald wieder gesetzt hatte, da er sich beim Essen durchaus nicht stören ließ, „rucket ein bißle zusammen, ihr da. Hurtig, Agnes, hol einen Teller. Da setzet Euch her, Herr Lehrer. Bei uns geht’s nicht wie bei den Horbern, die sagen immer: wäret Ihr bälder kommen; wer bei uns zur Essenszeit kommt, muß mithalten. Wo Ihr jetzt hinkommt, kriegt Ihr doch nichts mehr, und da ist gekocht; Ihr müsset halt fürlieb nehmen mit dem, was da ist. Ihr kommt gerade zu einem rechten Schwarzwälderessen: gerührte Knöpfle und Hutzeln.“

Agnes hatte einen Teller gebracht, und der Lehrer, um nicht grob zu erscheinen, sich zu Tische gesetzt.

„Da, mein’ Agnes,“ sagte der Buchmaier, nachdem er einen gehäuften Teller voll herausgeschöpft, „die kriegt Ihr in die Sonntagsschul’.“

„O, Sie werden wenig mehr zu lernen haben,“ sagte der Lehrer, um doch etwas vorzubringen. Das Mädchen heftete den Blick scheu auf den Teller.

„Wie! Agnes, red auch, du hast ja sonst dein Maul bei dir; sag, kannst du alles?“

„Jo, mit deam Lease do käm’ ich schaun no furt, herrentgege mit em Schreiba, do will’s halt nimmei reacht gaun, d’ Fingere weant oam härt, wemmer d’ gahnz Woch’ so schaffe muaß.“

All die Schönheit des Mädchens verschwand plötzlich vor den Augen des Lehrers, da er diese harte, in groben Lauten vorgebrachte Rede hörte.

Nachdem abgespeist und gebetet war, stellte sich einer der Knechte, der bei Tische nicht weit vom Buchmaier gesessen hatte, vor seinen Herrn hin, und indem er sein Messer einsteckte, sagte er:

„I will gaun mit de Gäul’ naun alloan naus?“

„Ja, ich komm’ bald nach. Nimm einen Buben mit, der dir den Fuchs führt, der will sich nicht recht eingewöhnen.“

„Schätz’ wohl, i krieg ihn schaun z’reacht,“ sagte der Knecht und ging mit schweren Schritten von dannen. Der Lehrer schüttelte den Kopf.

Agnes deckte schnell ab, denn sie eilte, um in der Küche ihre Bemerkungen über den Ankömmling mit den Mägden auszutauschen.

„Ein nett’ s Bürschle,“ sagte die Legat, die älteste Magd und Vertraute der Agnes, „er hat dich anguckt, ich hab’ nicht recht gewußt, will er dir ein Tätzle oder ein Schmützle geben. Was meinst, wär’ das nicht ein Mann für dich? Er ist noch ledig.“

„Lieber möcht’ ich ledig bleiben, bis die Kuh einen Batzen gilt, eh’ ich den nähm’.“

„Hast recht,“ sagte eine andere Magd, „der thät’ dich auch mit zwei Händ’ ins Maul stecken; hast nicht gesehen, der hat ja das Messer in die recht’ und die Gabel in die link’ Hand genomme und mit zwei Händ’ gessen, das hat man sein Lebtag von keinem ehrlichen Menschen gesehen.“

„Ja,“ sagte eine dritte, „der ist auch noch nicht über seines Vaters Miste ‘nauskommen, der hat ja die Knöpfle mit dem Messer verschnitten, statt daß man’s verreißt; da sind sie ganz talkig worden. O du Talk! geschieht dir recht, daß du hast so dran würgen müssen.“

Während draußen beim Spülen die Mädchen den Lehrer auch nicht ungewaschen ließen, nicht sowohl aus Bosheit, als weil man einmal so begonnen hatte, war drinnen in der Stube die Unterredung des Buchmaiers auch keine sehr erfreuliche.

„Der Sprach’ nach,“ begann er, „scheinet Ihr aus dem Unterland gebürtig?“

„Eigentlich nicht, ich bin aus dem Taubergrund.“

„Nu, wir nehmen das nicht so genau, was halt unter Böblingen ist, heißen wir das Unterland; wie heißt denn der Ort?“

Der Lehrer stockte ein wenig, legte beide Hände auf die Brust und sagte endlich, sich verbeugend: „Lauterbach.“

Der Buchmaier stieß ein schallendes Gelächter aus, der Lehrer sah ernst drein; endlich sagte ersterer:

„Nichts für ungut, Lauterbach weiß ja jed Kind, das ist ja in dem Lied. Warum habt Ihr denn nicht recht mit ‘raus wollen? Das ist ja kein’ Schand. Nu, Ihr könnet mir jetzt g’wiß die Wahrheit sagen, warum ist jetzt grad Lauterbach in dem Lied?“

„Wer kann das wissen? Es hat wahrscheinlich gar keinen Grund; solche dumme Lieder werden von einfältigen Menschen gemacht, die diesen und jenen Ort nehmen, weil er ihnen gerade in das Metrum, ich wollte sagen, in das Versmaß paßt.“

„Ei, das Lied ist gar nicht so dumm, und es hat ein’ recht lustige Weisung, ich hör’s rechtschaffen gern singen.“

„Sie erlauben, daß ich entgegengesetzter Ansicht bin.“

„Was ist da viel zu erlauben? Wenn ich’s auch nicht erlauben thät, wäret Ihr’s doch; nur frei heraus und saget mir einmal: warum?“.

„Ich meine: welcher Gedanke, ja nur welcher Sinn liegt in dem Lied:

Zu Lauterbach hab’ ich mein’ Strumpf verloren,
Ohne Strumpf geh’ ich nicht heim,
Jetzt geh’ ich halt wieder gen Lauterbach,
Kauf mir ein’ Strumpf zu mein eim.

Das ist nichts als barer Unsinn, und das nennen Sie lustig? Wie kann ein Lied lustig sein, wenn gar kein Gedanke darin ist? Ist die Gedankenlosigkeit Lustigkeit?“

„Ja, es mag jetzt sein, wie es will, lustig ist es doch; es paßt: halt so grad, wenn man“ – der Buchmaier konnte sich hier nicht mehr recht ausdrücken, er schnalzte nur mit den beiden Händen; dann fuhr er fort: „ich will sagen, wenn man so recht darüber ‘naus ist. Wir haben hier einen: den Jörgli, von dem müsset Ihr’s einmal hören, dann saget Ihr auch: es gibt nichts Lustigeres. Ein Spaßvogel hat mir einmal berichtet. es müss’ nicht ›Strumpf, es müss’ Schuh‹ heißen, und deswegen sei von Lauterbach die Red’, weil dort auf allen Gassen Schlappen rumliegen. Aber was geht uns jetzt das Lied an? Wir wollen was andres reden. Habt Ihr hier herum auch Bekannte?“

„Keinen Menschen.“

„Nun, Ihr werdet schon gute Freund’ bei uns finden; die Leut’ sind zwar hier herum ein bißle grob; es ist nicht so, aber es sieht so aus. Ein bißle spöttisch, das ist wahr, das sind sie, es ist aber nicht bös gemeint, man muß nur tüchtig heimzahlen; und wenn man mit ihnen umzugehen weiß, kann man’s um einen Finger wickeln.“

„Ich werde gewiß allen Menschen mit Liebe entgegenkommen.“

„Ja, was ich hab’ sagen wollen, nun müsset Ihr auch die Gemeinderäte und den Bürgerausschuß begrüßen, Ihr müsset sie besuchen; und noch eins, gehet auch zum alten Schullehrer, der jetzt schon fünfundzwanzig Jahr in Ruhestand versetzt ist; er ist ein braver Mann, und es thut ihm wohl. Er ist noch von der alten Welt, aber auch grundgut. Ich bin auch noch bei ihm in die Schul’ gangen, freilich weiß ich auch wenig genug. Der letzte Schullehrer hat’s mit ihm verdorben, weil er ihn nicht besucht hat; und wenn Ihr ihm einen besondern Gefallen thun wollet, lasset ihn als einmal am Sonntag Orgel spielen. Jetzt will ich Euch Euer’ Wohnung zeigen, Eure Sachen sind schon gestern angekommen.“

Mißvergnügten Antlitzes ging der Lehrer neben dem Buchmaier durch das Dorf. Er war mit so hohen, überschwenglichen Gedanken hier angekommen und war auf eine so rauhe, harte Wirklichkeit gestoßen. Oft hörte er hinter sich sagen: das ist g’wiß der neu’ Schullehrer. Bei der Krone begegnete den beiden der uns wohlbekannte Matthes; er war nun im Bürgerausschuß. Der Buchmaier stellte ihm den neuen Lehrer vor. Einige hatten dies gehört, und nun verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Matthes schloß sich den beiden an.

So groß war die hinneigende Liebe der Kinder, in deren Herzen der Lehrer einzudringen gedachte, daß sie davonliefen, als sie ihn von ferne sahen. Hie und da blieb aber auch einer der beherzten Knaben stehen und nickte freundlich, ohne die Kappe abzuziehen, aus dem einfachen Grunde, weil er keine auf hatte.

Nicht weit von dem Schulhause stand ein hübscher Knabe von sechs bis sieben Jahren. „Komm her, Hannesle,“ rief Matthes, „gucket, Herr Lehrer, der ist mein. Nehmet ihn nur recht dazwischen, er kann lernen, aber er mag oft nicht. Gib dem Herrn eine Hand, der ist jetzt dein Herr Lehrer, den mußt du gern haben. Wie sagt man zu einem Fremden?“

„Grüß Gott,“ sagte der Knabe, herzhaft die Hand reichend.

Das Antlitz des Lehrers war wie verklärt, dieser Gruß aus Kindes Munde that ihm gar wohl. Er war jetzt wieder in seinem Paradiese, das unschuldvolle Gemüt eines Kindes wendete sich ihm zu. Er beugte sich zu dem Knaben nieder und küßte ihn.

„Willst du mich lieb haben?“ fragte er dann. Hannesle sah seinen Vater an.

„Willst du den Herrn Lehrer gern haben?“ fragte der Matthes.

Der Knabe nickte bejahend mit dem Kopf, er konnte nicht mehr reden, denn die Thränen standen ihm in den Augen.

Die drei Männer gingen fort; der Knabe sprang eilends, ohne sich umzusehen, nach Hause.
Der Buchmaier und Matthes zeigten nun dem Lehrer seine Wohnung.

„Da gehört bald ein Weib ‘rein,“ sagte Matthes, „ein Schullehrer muß eine Frau haben. Wir haben jetzt zum erstenmal einen ledigen; nun, wir haben hier Staatsmädle, Ihr müsset Euch einmal umgucken. Das Best’ ist, Ihr nehmet eine aus dem Ort; wenn man nicht aus dem Ort ist und nicht ‘rein heiratet, bleibt man halt wildfremd. Hab’ ich recht oder nicht, Vetter?“

„Vielleicht hat der Herr Lehrer schon eine ausgesucht,“ entgegnete der Buchmaier, „und sie mag her sein, wo sie will, sie soll bei uns gut aufgehoben sein.“

„Ja, wir halten ihr einen Gegenritt,“ sagte Matthes, indem er dachte: der Buchmaier ist doch gescheiter als du. Der Lehrer aber sagte:

„Ich hin noch durchaus ledig, ich kann schon noch eine geraume Zeit zusehen.“ Innerlich dachte er: lieber eine Aeffin, als so eine vierschrötige Bäuerin zur Frau.

„Jetzt müsset Ihr mich verexkusieren,“ sagte der Buchmaier, „ich muß ins Feld; ich hab’ da einen Gaul im Handel und muß sehen, wie der im Zug ist. Nun, wir sehen uns ja heut abend. B’hüt’s Gott dieweil. Gehst mit, Matthes?“

„Ja, b’hüt’s Gott, Herr Lehrer, und wenn Euch die Zeit zu lang wird, so nehmet’s doppelt.“

Der Lehrer verstand diese nicht sehr geschickte Redensart des Matthes, die von dem Bilde eines zu langen Fadens genommen ist, nicht ganz.

Nachdem hinter den Fortgegangenen die Thüre schon zu war, drückte der Lehrer nochmals an derselben, gleichsam um sich zu vergewissern, daß er jetzt allein sei. Er fühlte sich sehr beklommen und konnte sich doch nicht recht sagen, warum. Endlich fiel ihm die Lauterbacher Geschichte wieder ein. Er sah darin eine grobe und rohe Begegnung, alle ihm sonst erwiesene Freundlichkeit haftete nicht an ihm.

So sind die Menschen! Wenn sie sich in gereizter Stimmung befinden, behalten sie immer nur das eine im Sinne, was sie verletzte, und übersehen alles andre noch so Liebreiche.

Erst saß der Lehrer lange still, dann erhob er sich, seine Sachen auszupacken. Es heimelte ihn wiederum an, da die gewohnten Gegenstände um ihn her lagen. Bald versank er indes abermals in stilles Brüten, und er dachte bei sich: da bist du nun wie in eine Wildnis versetzt: was dich erfreut und betrübt, ist für diese Menschen gar nicht vorhanden; dein Schultheiß ist eben nichts als ein Bauernschulz. noch stolz auf seine Hoheit. Wohl mag der Geist auch in diesen Menschen schlummern, aber er ist verschüttet. Ich will all meine Kraft zusammenhalten, um mich gegen das Verbauern zu wahren. Tagtäglich will ich mein ganzes Sein aufwühlen, ich will frei bleiben von dem Einflusse meiner Umgebung. Ich habe Lehrer gesehen, die mit dem freien Geiste der Zeit erfüllt in ihr Amt traten, und nach einigen Jahren versanken sie ganz in den Schlendrian, sie waren zu Bauern geworden, selbst ihr Aeußeres war nachlässig und schlapp. – Er schrieb auf ein Zettelchen: Memento! und steckte es an den Spiegel.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 2