Der Lehrer war im Dorfe noch so unbekannt, daß niemand seinen Namen wußte. Eines aber hatte jeder erfahren, nämlich, daß der Lehrer aus Lauterbach sei; ...

Der Lehrer war im Dorfe noch so unbekannt, daß niemand seinen Namen wußte. Eines aber hatte jeder erfahren, nämlich, daß der Lehrer aus Lauterbach sei; hieran heftete sich nun die Spottsucht, man wollte es ihn entgelten lassen, daß er so stolz und zurückgezogen war. Abends, wenn die Burschen wußten, daß der Lehrer zu Hause war, rotteten sie sich vor seinen Fenstern zusammen und sangen unaufhörlich den Lauterbacher. Weil man auch wußte, daß er ein strenger Verteidiger des Vereins gegen Tierquälerei war, wurde ein gewöhnliches Lied zum Draufsetzen oft gesungen, es lautete:

Jetzt ischt das Liadle aus,
Jetzt speir i do e Maus:
Such i ‘rum und find se,
Nem i e Messer und schind se,
Stich ihr d’Augen aus –
No haun i e blinde Maus.


Diese „Gemeinheit“ ärgerte den Lehrer. Er wußte aber noch immer nicht, was alles das zu bedeuten habe, bis sich endlich der Studentle zu den Burschen gesellte; obgleich er verheiratet war, stand er doch bei jedem mutwilligen Streiche obenan. Er brachte nun einen neuen Vers, der oft wiederholt wurde:

Z’ Lauterbach bin ich so stolz geborn,
Stolz, das ist meine Manier;
Ei, wär’ ich doch wieder in Lauterbach,
Da wär’ ich in meinem Revier.

Jetzt merkte der Lehrer, was diese Zusammenrottungen zu bedeuten hatten; in seiner tiefsten Seele trauerte er, daß diese Menschen, denen er doch nur wohlwollte, ihn so mißhandelten. Drinnen trauerte der Lehrer, draußen aber wurde das Gejubel immer lauter. Da raffte er sich auf, er wollte an das Fenster treten und ein Wort der Verständigung sprechen; glücklicherweise fiel aber sein Blick auf die Geige, er nahm sie von der Wand und spielte frischweg die Melodie des ihn verfolgenden Liedes. Drunten horchte man still auf, nur verhaltenes Kichern ließ sich vernehmen; aber der Gesang begann bald wieder, und der Lehrer begleitete ihn mit der Geige, so oft man auch wieder anfing.

Endlich trat er an das Fenster und sagte hinaus: „So, hab’ ich’s recht gemacht?“

„Ja,“ erscholl die allgemeine Antwort, und von diesem Abende an blieb der Lehrer von dem Liede verschont, denn man wußte, daß es ihn nicht mehr ärgere.

Von dieser Zeit an nahm sich indes der Lehrer vor, freundlicher und gesprächsamer gegen die Leute zu sein; er erkannte, daß er nicht nur in der Schule, sondern auch außer derselben Pflichten gegen die Menschen habe, mit denen er gemeinsam lebte.

Die Ausführung dieses Vorsatzes wurde ihm bald treulich belohnt.

Eines Sonntags nach der Mittagskirche ging er durch die am Hügel gelegene Straße, „Bruck“ genannt. Da sah er eine alte Frau vor einem Hause sitzen, sie hatte die Hände ineinander gelegt, und ihr Kopf wackelte; er sagte freundlich: „Guten Tag! Nicht wahr, der Sonnenschein thut Ihnen gut?“

„Dank schön, lieber Mensch,“ erwiderte die Alte, oft mit dem Kopfe nickend.
Der Lehrer blieb stehen.

„Sie haben schon manchen Sommer erlebt,“ sagte er.

„Achtundsiebenzig, es ist ein’ schöne Zeit, siebzig Jahr ein Menschenleben, heißt es in der Schrift. Es ist mir oft, wie wenn mich der Tod vergessen hätt’; nun, unser lieber Herrgott wird mich schon holen, wenn’s Zeit ist, er weiß wohl, ich verlauf’ ihm nicht.“

„Sie können aber doch noch immer gut fort?“

„Nimmer recht – der Krampf – aber das thut gut,“ sie zeigte auf die grauen Fädchen, die sie um die beiden Arme gebunden hatte, an denen die Venen geschwollen waren.

„Was ist denn das?“

„Ei, das hat eine reine Jungfrau gesponnen, des Morgens nüchtern mit ihrem Munde und hat drei Vaterunser dabei gebetet. Wenn man das unbeschrieen um den Arm thut und dabei neunmal das Gebet in unsres Herrgotts heilige drei Nägel sagt, so stillt’s den Krampf, ich muß soviel husten,“ sagte sie, wie zur Entschuldigung ihrer oft unterbrochenen Rede auf ihre Brust deutend.

„Wer hat denn die Fäden gesponnen?“ fragte der Lehrer.

„Ei, mein’ Hedwig, mein Enkele, kennet Ihr denn die nicht? Wer sind Ihr denn?“

„Ich hin der neue Lehrer.“

„Und da kennet Ihr mein’ Hedwig nicht? Sie ist ja eine von den Kirchensängerinnen. Sag mir nur auch ein Mensch, was das für eine Welt ist, da kennt der Lehrer die Kirchensängerinnen nicht mehr. Ich bin auch Kirchensängerin gewesen, man hört mir’s jetzt nimmer an mit meinem Husten; ich bin ein sauberes Mädle gewesen, ja, ich hab’ mich dürfen sehen lassen, und alle Jahre war das Jahressen, da war der Pfarrer und der Schulmeister dabei: o! wie sind da g’spässige Lieder gesungen worden, der bayrische Himmel und so Sachen, das ist jetzt auch nimmer; ja, die alt’ Welt ist eben aus und vorbei.“

„Sie haben wohl Ihr Enkelchen sehr lieb?“

„Es ist ja das jüngst’! O! mein’ Hedwig, die ist doch eine von der alten Welt, die hebt mich und legt mich, und da ist kein unschön Wörtle; ich wollt’s ihr gunnen, daß ich bald sterben thät, sie muß soviel daheimbleiben wegen meiner, und wenn ich gestorben bin, will ich auch recht für sie beten im Himmel.“

„Sie beten wohl recht viel?“

„Ja, was kann ich besseres thun? Mit dem Schaffen ist es aus. Ich kann auch ein Gebet, das die Seelen vom Mond gerad in den Himmel bringt und daß die Seelen gar nicht ins Fegfeuer brauchen. Die heilig’ Mutter Gottes hat einmal zu Gott Vater gesagt: Lieber Mann, ich kann das nimmer hören, wie die armen Seelen im Fegfeuer schreien und heulen, es geht mir durch Mark und Bein, und da hat er gesagt. Nu meinetwegen, du darfst ihnen helfen. Und da ist in dem Tirol einem Mann, der acht Kinder gehabt hat, sein’ Frau gestorben, und da hat er eben ganz schrecklich gejammert, wie man sie auf den Kirchhof tragen hat, und da ist alle Morgen die Mutter Gottes kommen, hat die Kinder gestrählt und gewäschen und die Betten gemacht, und da hat der Mann lang nicht recht gemerkt, wer das thut, und da ist er endlich zum Pfarrer gangen, und da ist der ganz früh mit dem Heilig kommen, und da hat der gesehen, wie die Mutter Gottes zum Fenster ‘naus ist, schneeweiß, und da ist das Gebet auf der Simse gelegen, und da hat man da ein’ Kirch’ hingebaut.“

„Dieses Gebet kennen Sie?“ fragte der Lehrer, sich neben der Alten auf die Bank setzend.

„Ihr müsset nicht so Sie sagen,“ begann die Alte, vertraulicher werdend, „das ist nicht der Brauch.“

„Habt Ihr noch mehr Enkel?“ fragte der Lehrer.

„Noch fünf und auch vierzehn Urenkel, und von meinem Konstantin krieg’ ich auch bald eins. Kennt Ihr meinen Konstantin nicht? Der hat auch gestudiert; er ist ein Wilder, aber ich hab’ nichts über ihn zu klagen, gegen mich ist er alleweil gut.“

Plötzlich kam hinter dem Hause hervor ein Mädchen, dem ein schneeweißes Huhn auf dem Fuße folgte. „Hent Ihr guata Roat, Ahne?“ fragte das Mädchen im Vorübergehen, es schaute kaum eine Weile auf. Der Lehrer war so betroffen, daß er unwillkürlich aufstand und nach der Mütze griff.

„Ist dies Euer Enkelchen?“ fragte er endlich.

„Freilich.“

„Das ist ja prächtig,“ sagte der Lehrer.

„Nicht wahr, es ist ein saubers Mädle? Der alt’ Schmiedjörgli sagt ihm immer, wenn es das Dorf hineinkommt, es wär’ grad’ wie sein’ Ahne. Der Schmiedjörgli ist noch der einzig von denen jungen Bursch, mit denen ich getanzt hab’; jetzt ist es grad, wie wenn wir hundert Stund’ voneinander wären, er sitzt drinnen im Dorf und kann nicht zu mir kommen, und ich nicht zu ihm; wir müssen halt warten, bis wir halbwegs auf dem Kirchhof zusammenkommen, und da treff’ ich die ganz’ alt’ Welt, und im Himmel, da geht’s erst recht an. Mein guter Hansadam muß lange warten, bis ich zu ihm komm’, die Zeit wird ihm lang werden.“

„Euch haben gewiß alle Leut’ im Dorfe gern,“ sagte der Lehrer.

„Wie’s in den Wald ‘neinhallt, hallt’s ‘raus. Wenn man jung ist, möcht’ man gern alle Leut’ auffressen, die einen aus Lieb’ und die andern aus Aerger; wenn man alt ist, da läßt man einem jeden sein Sach’. Ihr glaubet’s gar nicht, was die Leut’ hier so gut sind, Ihr werdet’s auch noch erfahren. Seid Ihr denn auch schon viel in der Welt ‘rumkommen?“

„Fast gar nicht. Mein Vater war auch Schullehrer, er starb, als ich kaum sechs Jahr alt war, bald darauf starb auch meine Mutter; ich wurde nun in das Waisenhaus gebracht, blieb dort, zuerst als Zögling, dann als Inzipient und Hilfslehrer, bis ich diesen Frühling hierher versetzt wurde. Ja, liebe, gute Frau, es ist ein hartes Los, wenn man sich kaum mehr erinnert, daß einen die Hand der Mutter berührt hat.“

Die Hand der alten Frau streifte ihm plötzlich über das Gesicht, es war dem Lehrer in der That, als ob ihn eine höhere Macht berührte, er saß da mit geschlossenen Augen, und die Augäpfel zitterten und bebten, die Wangen glühten; wie erwachend faßte er die Hand der Alten und sagte:

„Nicht wahr, ich darf Euch auch Großmutter heißen?“

„Rechtschaffen gern, du guter, lieber Mensch, es kommt mir auf ein Enkele mehr oder weniger nicht an, und ich will’s probieren und will dir deine Strümpf’ stricken, bring mir auch die zerrissenen.“

Mit einem erhabenen Wohlgefühl saß nun der Lehrer bei der alten Frau, er wollte gar nicht weggehen. Die Vorübergehenden staunten, daß der stolze Mensch sich so vertraulich mit der alten Maurita unterhielt.

Endlich kam ein Mann aus dem Hause, die Augen reibend, sich reckend und streckend.

„Hast ausg’schlafen, Johannesle?“ fragte die Alte.

„Ja, aber mein Kreuz thut mir noch sträflich weh von dem Schneiden.“

„Es wird schon wieder gut, unser Herrgott läßt einem vom Schaffen keinen Schaden zukommen,“ erwiderte die Mutter.

Der Lehrer dachte daran, wie ihm das Bücken der Leute als ein zeremoniöses Gebet vorgekommen war. Nach gegenseitigen Begrüßungen begleitete er nun den Johannesle hinaus in das Feld.

Johannesle liebte eine Unterhaltung, bei der man nichts zu trinken brauchte und die auf diese Weise nichts kostete; er war daher entzückt von der Liebenswürdigkeit und Gescheitheit des Lehrers, denn dieser hörte ihm aufmerksam zu: die Darlegung seines Hauswesens, die Geschichte des Konstantin und noch vieles andre.

Am Abend erzählte Johannesle allen Leuten, der Lehrer sei gar nicht so ohne, er könne nur nicht recht mit der Sprache heraus, er könne den Rank (Mit einem Fuhrwerk geschickt um eine Ecke biegen, nennt man den Rank kriegen.) nicht kriegen.

Der Lehrer aber schrieb, als er nach Hause kam, in sein Taschenbuch: „Die Frömmigkeit allein erhält den Menschen auch noch im Alter liebenswürdig, ja, sie macht heilig und anbetungswert, die Frömmigkeit ist die Kindheit der Seele; wenn fast wieder das Kindischwerden hervortritt, verbreitet sie eine anmutige glorienhafte Milde über das ganze Wesen. Wie hart, herb und häßlich sind genußsüchtige, selbstsüchtige Menschen im Alter, wie erhaben war diese Frau selbst in ihrem Aberglauben!“

Noch etwas andres schrieb der Lehrer in sein Taschenbuch, aber er strich es alsbald wieder aus. In herber Selbstanklage saß er lange einsam, endlich ging er hinaus auf die Straße, sein Herz war so voll, er mußte unter Menschen sein; der Gesang der Burschen, der weithin schallte, durchzitterte seine Brust, und er sagte: „Wohl mir, es ist gekommen, daß der Gesang der Menschen mich noch tiefer faßt, als der Gesang der Vögel; ich höre den brüderlichen Ruf. O Gott! ich liebe euch alle!“

So wandelte er noch lange durch das Dorf, im Herzen traulich zu allen sprechend, aber kein Wort kam über seine Lippen. Ohne zu wissen, wie es gekommen war, stand er plötzlich vor dem Hause Johannesles in der Bruck: alles still ringsum, nur aus der untern Stube, wo die Leibgedingwohnung der Großmutter war, vernahm man eintöniges Murmeln von Gebeten

Erst spät in der Nacht kehrte der Lehrer heim, alles war still, nur hier und dort vernahm man das leise Wispern zweier Liebenden. Als er endlich in seine Stube eintrat, wo niemand war, der ihm auf seine Reden eine Antwort gab, der nach ihm aufschaute und ihm gleichsam sagte: freue dich, du lebst, und ich lebe mit dir – da betete er laut zu Gott: „Herr. laß mich das Herz finden, das mein Herz versteht.“

Am andern Tage wußten die Kinder gar nicht, warum der Lehrer heute so überaus fröhlich dreinsah. In der Zwischenstunde schickte er des Matthesen Hannesle in den Adler und ließ sagen, man brauche ihm das Essen nicht zu schicken, er wolle selbst hinkommen.

Es war mißlich, daß der Lehrer sich mit so hochfliegenden Gedanken dem Leben um ihn her näherte; er konnte sich wohl zurückhalten, seine eigenen Empfindungen den andern mitzuteilen, dem aber konnte er nicht steuern, daß ihm manches Häßliche und Widrige vor die Augen gerückt wurde.

In der Wirtsstube traf er das Bärbele, das in der Schenke stand, im eifrigen Gespräch mit einer andern Frau.

„Gelt,“ sagte Bärbele, „sie haben dir gestern abend den deinen wüst heimbracht, er hat stark auf ein’ Seite geladen gehabt; wenn ich’s gesehen hätt’, daß sie ihm Branntwein ins Bier schütten, ich hätt’ scharf ausgefegt.“

„Ja,“ sagte die Frau, „er war ganz erbärmlich zugerichtet, er war grad wie ein voller Sack.“

„Ja, und du sollst dich noch so schön bedankt haben; was hast denn gesagt? Sie haben so gelacht, es hat gar kein End’ nehmen wollen.“

„Ich hab’ halt gesagt, sag’ ich: Ich dank’ schön, ihr Mannen, vergelt’s Gott. Da haben sie mich gefragt: für was denn? Da hab’ ich gesagt, sag’ ich: Bedankt man sich ja, wenn man einem ein’ Wurst bringt, warum wird man sich nicht für ein’ ganze Sau bedanken?“

Der Lehrer legte die Gabel weg, als er diese Roheit vernahm; bald aber aß er wieder weiter, indem er lächelnd darüber nachdachte, wie das Unglück und die Leidenschaft so oft witzig mache.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 2