7. Das Kloster. - Jahre gingen vorüber, man merkte es kaum. ...

7. Das Kloster. - Jahre gingen vorüber, man merkte es kaum. Konstantin und Peter hatten im Herbste ihre Prüfung bestanden und waren nun bestimmt, in das Kloster zu Rottweil einzutreten; ein Ereignis aber, von dem man noch lange redete, hielt den Peter im Dorfe fest.

Das zweite Gras war im Schloßgarten abgemäht, die Zeitlose, bei uns Dirnenblume genannt, weil sie so schamlos ohne alle Blätterverhüllung erscheint, stand einsam unter dem bereiften Grase; die Kühe weideten jetzt hier frei, und die Kinder tummelten sich überall und machten auf vereinzelte, an den Bäumen hängen gebliebene Aepfel und Birnen Jagd, gegen die sie mit Stöcken und Steinen auszogen.


Peter saß auf dem Wadelbirnenbaum an der Schloßmauer, nicht weit von dem Eckturme; eine goldgelbe Birne war das Ziel seines hohen Strebens, der mutwillige Konstantin aber wollte ihm die Beute wegschnappen und warf mit einem Steine danach. Da schrie Peter: „mein Aug’, mein Aug’!“ und stürzte samt dem Aste, auf dem er gesessen, vom Baume; das Blut quoll ihm aus dem Auge, Konstantin stand neben ihm, weinte und schrie aus vollem Halse um Hilfe.

Das Mauritzele, das die Kühe hütete, kam herbei. Es sah den blutenden Knaben, nahm ihn schnell auf die Schulter und trug ihn nach Haus; Konstantin ging hintendrein, alle andern Kinder gesellten sich dazu. Der Zug vergrößerte sich stets, bis man vor Hansjörgs Haus kam; dieser richtete eben einen Wagen her, und als er sein Kind so blutend fand und ohnmächtig sah, schlug er die Hände über dem Kopfe zusammen. Peter schlug das eine Auge auf, das andre aber blutete immer stärker.

„Wer hat dir das gethan?“ fragte Hansjörg mit geballter Faust, bald sein jammerndes Kind, bald den zitternden Konstantin betrachtend.

„Ich bin vom Baum gefallen,“ sagte Peter, auch das gesunde Auge zudrückend, „ach Gott, ach Gott, mein Aug’ lauft aus.“

Kaum hatte Konstantin das gehört, sprang er schnell fort nach Horb zu dem jungen Erath, der jetzt das Amt seines verstorbenen Vaters bekleidete. Mit namenloser Angst lief Konstantin vor dem Hause des Wundarztes hin und her, der über Feld gegangen war; er hielt sich immer mit der Hand ein Auge zu, um sich das Unglück Peters recht zu vergegenwärtigen. Weinend und stöhnend biß er sich die Lippen blutig, er wollte als ein Missethäter in die weite Welt entfliehen, und doch wollte er ausharren, um zu retten, was zu retten war; schnell entlehnte er ein gesatteltes Pferd, und endlich kam der Ersehnte, er ritt rasch davon, aber Konstantin lief noch schneller ohne auszuschnaufen den Berg hinan. Der Wundarzt erklärte das Auge für unrettbar verloren. Konstantin schloß seine beiden Augen; es war ihm, als ob plötzlich Nacht und Blindheit über ihn hereinbreche; Hansjörg aber sah mit thränenschweren Blicken vor sich hin und hielt krampfhaft den Stumpffinger an seiner rechten Hand. Er sah es als eine schwere Strafe Gottes an, der dafür, weil er einst mutwillig sich selber verletzt, jetzt seinem Kinde das Auge nahm. Mild und liebreich behandelte er den unschuldigen Peter, der für ihn so Hartes erdulden mußte. Die Mutter aber, das uns wohlbekannte Kätherle, war nicht so demutvoll, sie sagte ganz offen, daß das gewiß der vermaledeite Konstantin gethan habe; sie jagte ihn aus dem Hause und schwur, daß sie ihm das Genick breche, wenn er noch einmal über die Schwelle käme.

Peter beharrte bei seiner Aussage, und Konstantin verlebte die qualvollsten Tage; er rannte immer im Feld umher, wie von einem bösen Geiste getrieben, und wo er einen Stein sah, da erzitterte sein Herz. „Kain! Kain!“ rief er oft und wünschte, daß er auch in die Wüste entfliehen könnte, aber er kehrte immer wieder nach Hause zurück.

Nach drei Tagen endlich wagte er es, seinen Kameraden zu besuchen. Er duckte sich und war bereit, die härtesten Schläge auszuhalten; aber der Zorn der Mutter hatte sich gelegt, es geschah ihm nichts.

Ivo saß am Bette des Kranken, dessen Hand haltend. Konstantin schob den Ivo beiseite und faßte die Hand Peters, ohne ein Wort zu reden, sein Atem zitterte, endlich sagte er:

„Geh du fort, Ivo, ich bleib’ da, wir haben miteinander zu reden.“

„Nein, laß ihn da, der Ivo darf alles wissen,“ sagte der Halbgeblendete.

„Peter,“ sagte Konstantin, „in der untersten Höll’ kann man nicht mehr ausstehen, als ich ausgestanden hab’. Ich hab’ unsern Herrgott oft darum gebeten, er soll mir mein Aug’ nehmen und das deinige erhalten; ich hab’ mir, wo ich allein gewesen bin, immer ein Aug’ zugehalten, ich will nicht mehr haben als du; gelt, lieber, guter, herziger Peter, du verzeihst mir?“

Konstantin weinte bitterlich, und der Kranke beschwor ihn, doch ja stille zu sein, sonst würden es seine Eltern merken; auch Ivo tröstete den Unglücklichen; schnell aber erhob sich in diesem seine alte Natur, und er sagte:

„Ich wollt’, es thät mir einer ein Aug’ ausstechen, dann bräucht’ ich auch kein Pfarrer zu werden, hinter die Bücher hocken und ein Katzengesicht machen, wenn die andern Leute fröhlich sind; sei froh, daß du nur ein Aug’ hast, du brauchst nicht Pfarrer zu werden. Aber wart nur, der letzt’ hat noch nicht gepfiffen.“

Ivo faltete die Hände und sah den wilden Knaben kummervoll an.

In der That konnte nun auch Peter nicht mehr Geistlicher werden, denn geschrieben steht 3. B. M. K. 22, V. 20: „Wenn du dem Herrn ein Ganzopfer darbringst, so soll es vollständig sein, es darf keinen Fehler haben.“

Ein Geistlicher darf keinen Leibesfehler haben.

Noch in der letzten Stunde, als schon der Wagen vor dem Hause stand und Konstantin von Peter Abschied nahm, sagte er: „Ich wollt’, daß der Wagen umstürzen und ich einen Fuß brechen thät’. B’hüt dich Gott, Peter, und gräm dich nicht zu arg über dein verlorenes Aug’.“

Auf Ivo hatten die Worte Konstantins, die sein innerstes Widerstreben gegen den geistlichen Stand bekundeten, einen tiefen Eindruck gemacht. Oft, wenn er so einsam seines Weges nach der Schule ging, sagte er leise vor sich hin: „Sei froh, daß du nur ein Aug’ hast, du brauchst nicht Pfarrer zu werden,“ und er hielt wechselsweise ein Auge zu, um sich zu versichern, daß er nicht in dem Fall sei; den Konstantin konnte er gar nicht begreifen, und doch betete er eine Zeitlang für ihn in der Kirche.

Indes war auch die Zeit herangenaht, da Ivo nach erstandener Prüfung in das Kloster zu Ehingen abreisen sollte.

Im elterlichen Hause wurde die Aussteuer herbeigeschafft, als ob er verheiratet würde. Eine Weile freute sich Ivo mit den neuen Kleidern, aber bald überwog das Gefühl des Abschiedes, und eine zitternde Bangigkeit breitete sich über sein ganzes Wesen aus; doch war er froh, daß seine Mutter mit Nazi und dem Falben ihn noch begleiten wollten. Nachdem er von dem Kaplan, von den Kameraden in Horb und von der Frau Hanklerin Abschied genommen, begann er schon drei Tage vor der Abreise seinen Rundgang durch das Dorf. Alles wünschte ihm von Herzen Glück, denn jedes wollte ihm wohl und pries die Eltern eines so schönen und trefflichen Knaben glücklich. Hier und dort erhielt er auch ein Geschenk, ein Sacktuch, ein Paar Hosenträger, einen Beutel und sogar etwas Geld; letzteres scheute sich zwar Ivo anzunehmen, denn als Kind reicher Eltern schien es ihm fast beleidigend, aber er dachte wieder: die Geistlichen müssen Geschenke annehmen, und freute sich kindisch mit den neuen Sechskreuzerstücken. Der Rundgang durch das Dorf war schneller beendigt, als Ivo gedacht hatte. Er ließ sich nun vor den Häusern, in denen er bereits Abschied genommen, nicht mehr sehen; denn es liegt eine unangenehme Empfindung darin, Leuten, denen man bereits feierlich und auf lange Lebewohl gesagt, wieder so bald danach unter die Augen zu treten, es ist, als ob ein tiefes Gefühl dadurch verwischt würde, und als ob man eine übernommene Schuld noch nicht getilgt habe. Ivo blieb daher fast wie ein Gefangener zu Hause, verweilte bei seinen Tauben, nahm von ihnen und all den stillen Plätzchen feierlichen Abschied.

Am Abend vor der Abreise ging er in das Haus der Emmerenz, um Ade zu sagen. Emmerenz brachte ihm etwas in ein Papier gewickelt und sagte: „Da, nimm’s, es ist eins von meinen Geitle.“ Obgleich Ivo keinen Widerspruch machte, sagte sie doch: „Nein, du mußt’s nehmen. Weißt du noch, wie ich’s von der Hohlgasse ‘reingetrieben hab’? Da sind sie klein und wunzig gewesen, und du hast ja auch Futter für’s gesammelt; nein, nimm’s nur, das könnet ihr morgen auf dem Weg verzehren.“

In der einen Hand hielt Ivo die gebratene Ente, die andre reichte er Emmerenz und ihren Eltern zum Abschiede. Mit schwerem Herzen ging er dann nach Hause. Hier war alles in großer Geschäftigkeit, man wollte heute nacht um ein Uhr fort, damit man noch „zeitlich“ nach Ehingen käme. Auf der Ofenbank saß ein Waisenknabe aus Ahldorf, der ebenfalls in das Kloster eintreten sollte; neben ihm lag in einem blauen Kissenüberzuge sein Bündel. Ivo vergaß seinen eigenen Schmerz über dem Mitleid mit dem Waisenknaben, den niemand begleitete, der, allein und verlassen, auf gute Leute bauen mußte. Da er keinen andern Trost bei der Hand hatte, hielt er ihm die Ente unter die Nase und sagte: „Guck, das essen wir morgen miteinander. Gelt, du ißt doch auch gerne ein gut’s Schlegele oder ein Stückle von der Brust?“ Er sah hierbei ganz fröhlich aus, und um dem Fremden die volle Gewißheit seines Anteils zu geben, sagte er: „Da hast’s, kannst’s in deinen Bündel thun.“ Die Mutter wehrte dies ab, weil sonst die Kleider beschmutzt würden.

Man ging früh ins Bette. Der Waisenknabe, Bartholomä genannt, schlief in Nazis Bett, da dieser aufbleiben mußte, um den Gaul zu füttern und dafür zu sorgen, daß man nicht verschlafe.

Als Ivo schon zu Bette lag, kam die Mutter nochmals, leisen Schrittes. Sie hielt die Hand vor das Licht an der Oellampe, die sie trug, um den etwa Schlafenden nicht zu stören; Ivo aber wachte noch, und die Mutter sagte, indem sie behutsam die Decke unter seinem Kinn festlegte, und dann mit der Hand über seinen Kopf fuhr: „Bet auch recht, dann schlafst du gut. Gut Nacht.“

Ivo weinte bitterlich, als seine Mutter fort war. Wie eine Lichtgestalt war sie verschwunden, und er lag wieder in dichter Finsternis. Es war ihm, als wäre er schon fern in ödem, fremdem Haus; dann dachte er wieder, daß morgen seine Mutter nicht mehr zu ihm käme, und er schluchzte in die Kissen hinein. Er dachte an Emmerenz und an alle Leute im Dorfe, er hatte sie alle so lieb, er konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie es denn machen würden, wenn er nicht zu Hause wäre, ob denn noch alles gerade so fortginge wie gestern; er meinte, alle Leute müßten ihn so entbehren, wie er sich nach ihnen sehnte; in das Leben aller müßte sein Weggehen so tief eingreifen. wie in das seinige; er weinte um sich und um die andern, und seine Thränen flossen unaufhaltsam. Endlich raffte er sich auf, faltete die Hände und betete laut, mit einer Inbrunst, als ob er Gott und alle Heiligen leibhaftig an sein Herz drücke; dann schlief er sanft ein.

Blinzelnd schlug Ivo um sich, als Nazi mit dem Lichte kam, er wollte nichts vom Aufstehen wissen, Nazi aber sagte mit betrübter Miene: „Ich kann dir nicht helfen, steh auf, du mußt jetzt lernen aufstehen, wie’s die Leut’ befehlen.“

Noch in der Stube taumelte Ivo wie schlaftrunken umher. Erst der erweckende Kaffee brachte ihn zur vollen Besinnung.

Alles im Hause war auf den Beinen, Ivo nahm von seinen Geschwistern weinend Abschied. Der Bartel saß bei Nazi auf dem vordern, mit dem Hafersack gepolsterten Brette, die Mutter war schon auf den Wagen gestiegen, Joseph, der älteste Bruder, hielt den Falben am Zügel. Da hob Valentin seinen Sohn in die Höhe und küßte ihn, es war das erste Mal in seinem Leben, daß er ihm dieses Liebeszeichen gab, Ivo umschlang ihn laut wehklagend, Valentin war sichtbar gerührt, aber er war noch Mann genug und hob Ivo auf das Wägelchen, reichte ihm die Hand und sagte mit stockender Stimme: „B’hüt di Gott, Ivo, sei brav.“

Die Mutter hüllte Ivo zu sich in den Mantel ihres Mannes, der Falb zog an, und fort ging es durch das Dorf, das still und dunkel war; nur hier und dort brannte ein traurig Licht bei einem Kranken und schwebten trübe Schatten der Wartenden an den Fenstern vorüber. Kein Lebewohl sagten die trauten Menschen, die hinter all den stillen Mauern wohnten; nur der Nachtwächter hielt an der Leimengrube mitten in seinem Rufe inne und sagte: „Glück auf den Weg.“

Fast eine Stunde lang fuhren die vier so fort, man hörte nichts als den Hufschlag des Pferdes und das Rasseln des Wagens. Ivo lag an dem Herzen seiner Mutter und hielt sie fest umschlungen.

Jetzt wickelte er sich plötzlich aus der warmen Verhüllung und sagte: „Bartel, hast du auch einen Mantel?“

„Ja, der Nazi hat mir die Roßdeck’ geben.“

Ivo legte sich wieder still an das warme Herz seiner Mutter, und von Trauer und Müdigkeit überwältigt, schlief er ein.

Seliges Los der Kindheit, deren Wehe noch die stille Nacht des Schlummers in Vergessenheit einwiegt!

Der Weg ging fast immer durch den Wald, zuerst bis Mühringen, dann durch das liebliche Eyachthälchen und den Badeort Imnau. Ivo sah von alle dem nichts. Erst als man die Haigerlocher Steige hinanfuhr, erwachte er und schreckte zusammen, als er da unten die Stadt von den senkrecht steilen Bergen umdrängt sah; es kam ihm alles wie ein Wunder vor.

Es tagte, und die Kälte wurde eine Weile empfindlicher; denn es ist, wie wenn beim Aufgang der Sonne die kalte Nacht sich von der Erde erhöbe und mit verstärkter letzter Kraft die irdischen Geschöpfe anhauche. In Hechingen im Rößle kehrte man ein. Ein junges Mädchen stand unter der Thüre des Wirtshauses.

Ivo mochte an Emmerenz denken, denn er sagte: „Mutter, essen wir jetzt das Geitle?“

„Nein, in Gamertingen machen wir Mittag, und da lassen wir uns auch ein Süpple dazu kochen.“

Der sonnenhelle Tag im schönen Killerthale, die wechselnden Gegenstände, das fremde Leben der rauhen Alb heiterten Ivo auf, und als er eine große Rinderherde auf der Weide sah, sagte er zu Nazi: „Versorg nur auch meinen Stromel gut!“

„Da ist nicht mehr viel zu versorgen, dein Vater hat ihn an den Buchmaier verkauft, der wird ihn dieser Tage holen und ins Joch eingewöhnen.“

Ivo kannte den Fortgang im Schicksale der Tiere zu gut, um hierüber eine Betrübnis zu empfinden; er sagte daher nur: „Beim Buchmaier hat er’s gut, der ist rechtschaffen gegen Mensch und Vieh, der wird ihm nicht zu viel zumuten. Er spannt ja auch die Ochsen nicht ins Doppeljoch, da hat jeder sein besonderes, das plagt sie nicht so arg, da können sie sich doch regen.“

Die Sonne neigte sich schon zum Untergehen, als man in das Donauthal kam. Nazi schien besonders aufgeräumt. Er erzählte mit zurückgewendetem Kopfe allerlei drollige Streiche von dem nahe gelegenen Munderkingen, dem man das Gleiche nacherzählt, was man sonst den Schildbürgern aufbürdet; Ivo lachte aus voller Seele und sagte einmal: „Ich wollt’, wir könnten ein ganz Jahr lang so miteinander in der Welt herumfahren.“

Das hatte aber jetzt ein Ende, denn man war vor Ehingen angelangt.

Ivo fuhr zusammen und faßte die Hand seiner Mutter fest.

Man stellte in der Traube, nicht weit von dem Kloster, ein.

Kaum hatten sich unsre Reisenden an einen Tisch gesetzt, als es zur Vesper läutete; die Mutter stand auf, winkte den beiden Knaben und ging mit ihnen zur Kirche.

Es liegt eine tiefe Macht in der allverbreiteten Sichtbarkeit der katholischen Kirche: wohin du wanderst und wo du dich niederlässest, überall stehen hohe Tempel offen für deinen Glauben, deine Hoffnung, deinen Gott, überall kniet die Gemeinde, andächtig nach denselben Heiligtümern ausschauend, dieselben Worte im Munde, dieselben Zeichen führend, überall bist du unter Brüdern und Kindern des einen heiligen, sichtbaren Vaters zu Rom.

Der katholische Glaube in seiner strengen ungeteilten Einheit und Allverbreitung zeigt dir überall Säulen und Hallen, getragen vom Namen deines Herrn, und im Hause deines Gottes findest du überall dein Heimathaus und den gleichen Eingang zu deiner ewigen Urständ.

So lag die Mutter Christine mit den beiden Knaben im andächtigen Gebete vor dem Altar. Sie wußten nicht mehr, daß ihre Heimat weit weg sei, die Hand des Herrn hatte den von fern her Kommenden eine selige Heimat auferbaut.

Fest und innig, gottvertrauend, nahm die Mutter ihren Sohn an die eine, den Waisenknaben an die andre Hand und ging mit ihnen zum Kloster.

Hier war überall ein buntes Hin- und Herrennen, Trachten aus allen katholischen Gegenden des Landes waren hier zu schauen.

Nachdem der Famulus am Eingange des Klosters die Zeugnisse eingesehen und wieder zurückgegeben, wurden die drei zum Direktor geführt. Dieser war ein alter, grämlich aussehender Mann, er sagte auf alle Reden der Mutter Christine nur: „Gut, gut, schon recht.“ Er hatte heute schon gar viel anhören müssen, daß man es ihm nicht verübeln konnte, wenn er wortkarg war.

Ivo zupfte seine Mutter am Rocke, und sie bat nun, daß der „Herr Hochwürden“ erlauben möchten, daß ihr Sohn noch heute nacht mit ihr im Wirtshause schlafe.

Nach einer Weile sagte der Mann: „Meinetwegen, aber morgen früh vor der Kirche muß er da sein.“

Bartel nahm einen sehr wortreichen Abschied von der Frau Christine. Der arme Knabe war es gewöhnt, oft guten Leuten zu danken, und er konnte es so meistermäßig wie eine Litanei. Er folgte willig dem Famulus in sein Zimmer.

Ivo sprang und hüpfte fröhlich, da er nun noch bei seiner Mutter bleiben durfte, und er plauderte mit ihr noch lange in die Nacht hinein.

Ein klarer Sonntag im eigentlichen Sinne des Wortes leuchtete des andern Morgens. Schon eine Stunde vor der Kirche ging Ivo an der Hand seiner Mutter nach dem Kloster, der Nazi ging hinterdrein mit dem Gepäcke und dem Bündel für Bartholomä.

Die Mutter half Ivo nun seine Sachen in den bereit stehenden Schrank einräumen und zählte ihm alles vor; oft blickte sie aber traurig umher, da sie sah, daß zwölf Knaben hier in einer Stube hausen mußten.

Es läutete auf der Klosterkirche. Mutter und Sohn trennten sich, denn dieser mußte sich zu seinen Kameraden gesellen.

Nach der Kirche ging die Mutter zur Frau Speisemeisterin, das war noch eine Frau, mit der konnte man doch eher reden. Sie bat sie, ihrem Ivo doch mitunter etwas zwischen der Zeit zu geben, der Bub vergesse sonst daran, sie wolle ja gern alles doppelt vergelten.

Ivo durfte noch eine Weile vor dem Essen zu seiner Mutter ins Wirtshaus. Auch der Frau Traubenwirtin legte die sorgsame Mutter ihren Sohn ans Herz, sie solle ihm immer geben, was er wolle, alles pünktlich aufschreiben, und es werde richtig bezahlt werden. Die geschäftige Wirtin versprach alles, obgleich sie wohl wußte, daß sie nichts für ihn thun konnte.

Bei Tische aß Ivo mit gutem Appetit, er wußte ja, daß seine Mutter bei ihm war; nach dem Essen aber ging er betrübt zur Traube zurück, denn jetzt kam der schwerste Abschied. Er ging in den Stall zu Nazi, der eben den Falb aufschirrte.

„Gelt, Nazi,“ sagte er, „du bleibst mir auch ein guter Freund?“

„Kannst darauf schwören, wie aufs Evangelium,“ erwiderte dieser, dem Pferde das Kummet über den Kopf schiebend; er kehrte sich nicht um, denn er wollte seine Rührung verbergen.

„Und du grüßest mir auch alle Leut’, die nach mir fragen?“

„Ja, ja, g’wiß, gräm dich nur nicht so, daß du jetzt nimmer daheim bist; das ist noch ein fröhlich Abschiednehmen, wenn man so zurückdenken kann, daß daheim Leut’ sind, die einen von Herzen gern haben und denen man nichts Leids gethan hat.“ – Die Stimme Nazis stockte, die Kehle war ihm wie vertrocknet, und es drückte ihn im Halse; Ivo merkte von alle dem nichts, denn er fragte: „Und die Tauben, gelt, die gibst nicht weg, bis ich wieder komm’?“

„Kein Federle kommt weg. Geh jetzt aber ‘nein zu deiner Mutter, wir müssen fort, sonst ist morgen der Tag auch hin. Sei nur fröhlich und laß dich’s nicht zu arg keien (Keien, so viel als verdrießen), das Ehingen ist ja auch nicht aus der Welt. Huuf Falb.“ Er führte das Pferd an das Wägelchen, und Ivo ging zu seiner Mutter.

Als er sie so jämmerlich weinen sah, unterdrückte er seinen Schmerz und sagte:

„Müsset nicht so jammern, das Ehingen ist ja nicht aus der Welt, und bis Ostern komm’ ich wieder, da wollen wir aber lustig sein, hui!“

Schmerzlich preßte die Mutter ihre Lippen zwischen die Zähne, dann beugte sie sich zu Ivo nieder, umfaßte ihn und küßte ihn und „Bleib fromm und gut,“ das waren die letzten Worte, die sie hervorschluchzte; dann stieg sie auf den Wagen, der Falb zog an, das Tier schaute sich nochmals um, als wollte es auch von Ivo Abschied nehmen, der Nazi winkte noch einmal mit dem Kopfe, und fort rasselten sie.

Ivo stand da, die Hände ineinander gelegt, gesenkten Hauptes. Als er den thränenschweren Blick emporrichtete und nichts von seinen Lieben mehr sah, da trieb es ihn mit zauberischer Gewalt, er rannte dem Wägelchen nach vor die Stadt, und da sah er es von ferne auf der weißen Straße dahineilen. Er blieb stehen und kehrte dann in die Stadt zurück: da waren alle Menschen so froh und zu Hause, nur er war fremd und traurig. Draußen aber auf dem Wägelchen nahm die Mutter ihr „Nuster (Von Pater noster, so viel als Rosenkranz)“ in die Hand und betete: „Liebe heilige Mutter Gottes! Du weißt, was Mutterliebe ist, du hast es in Schmerzen und Freuden empfunden. Beschütze mein Kind, es ist mein Herzblättchen. Und wenn ich eine Sünde damit thue, daß ich ihn so lieb hab’, laß die Schuld mich entgelten und nicht ihn!“ Als Ivo in das Kloster zurückkam, mußte er sogleich wieder in die Mittagskirche; aber er konnte diesmal keine Andacht finden, er war zu abgemattet, sein Herz zitterte zu sehr. Er war zum erstenmal in der Kirche, ohne zu wissen, daß er darinnen sei; gedankenlos sang, gedankenlos hörte er.

Schon in diesem einzigen Umstande liegt ein Ergebnis der nunmehr eintretenden Lebensweise; die eigene Willensbestimmung trat zurück, Befehl und Gesetz herrschte.

So ward nun das Leben unsres Ivo ein gesetzmäßiges strenges Einerlei, und wenn wir den Verlauf eines Tages kennen, kennen wir die andern alle.

Die Knaben schliefen in großen Sälen unter Aufsicht eines Repetenten.

Morgens halb sechs Uhr wurde geläutet; der Famulus kam, zündete die an der Decke hängende Laterne an, und nun mußte alles in die Kirche zum Gebet; dann ging es zum gemeinsamen Frühstück, worauf die Privatarbeit begann, bis um acht Uhr, da der Unterricht seinen Anfang nahm; von diesem ging es zum gemeinsamen Tische, nach welchem man eine Stunde „Recreation“ hatte, d. h. unter Aufsicht spazieren ging. Nach dem hierauf mehrstündig fortgesetzten Unterrichte durften die Knaben eine Weile im Hofe spielen, aber auch hier fehlte das offene Auge des Aufsehers nicht. Wie schon der beschränkte Raum die Unfreiheit anzeigte, so war diese auch inmitten des „freien“ Spiels; nirgends eine selbstgeschaffene, ungebundene Freude, und vor allem nie ein still in sich gehegtes Alleinsein.

Zu Hause war Ivo wie das Kleinod der Familie gehalten worden: wenn er in der Stube bei seinen Büchern saß, sorgte die Mutter behutsam, daß sich kein Lärm und kein Geräusch in seiner Nähe finde, fast niemand durfte die Stube betreten, und es war, als ob drinnen ein Heiliger geheimnisvolle Wunder vollführe; hier aber, wenn es nach dem Nachtessen nochmals zur Privatarbeit ging, regte sich bald da, bald dort einer und pisperte, wenn auch nur leise; Ivo konnte sich nicht enthalten, darauf hinzuhorchen, und er arbeitete lässig.

Wer es weiß, welch unergründliche Macht oft die Seele durchdringt, die einsam mit sich in ihren eigenen Gedanken sich spiegelt, oder fremde Gedanken in sich aufnimmt; wer jenen lautlosen Geistesverkehr kennt, der sich still ausbreitet, wie die Blume sich geräuschlos entfaltet, der wird den Schmerz Ivos mit empfinden, daß er nun gar nicht mehr allein war. Er gehörte nicht mehr sich selber, er gehörte unaufhörlich einer Genossenschaft an.

Um neun Uhr läutete es wieder zum allgemeinen Gebet, worauf alles sich zur Ruhe begeben mußte.

Erst jetzt wurde Ivo sich selber wiedergegeben, und er flüchtete sich in Gedanken zu den Seinigen, bis der Schlaf alles zudeckte.

So kam sich Ivo in den ersten Tagen wie verkauft vor, denn nirgends war mehr freier Wille, alles Verordnung und Gebot; eine grausame Erfahrung stand vor seiner Seele: die Unerbittlichkeit des Gesetzes.

Es ist eine folgerechte Anordnung jeglichen äußerlich fest bestimmten Kirchentums, daß es schon frühe seinen Zöglingen die Fruchtbarkeit des freien Willens ausschneidet und all ihr Thun und Denken in die unbeugsamen Gesetze einjocht.

Die höchste Aufgabe der Bildung ist aber die Erziehung zur Pflicht, zur Erfüllung des Gesetzes, das wir in der Erkenntnis finden.

Voll Trübsal ging Ivo umher, und es bedurfte nur eines harten Wortes, um die Tränen aus seinen Augen hervorzulocken. Das merkten sich einige lose Kameraden, und sie neckten ihn auf allerlei Weise. Es waren mitunter rohe, häßliche Gesellen, die, aus einem niedrigen Hauswesen gekommen, sich bei der guten Kost und der Fürsorge für alles behaglich fühlten. Sie merkten, daß Ivo ekel sei, und sprachen bei Tische allerlei ekelerregende Dinge, so daß Ivo oft ohne einen Bissen zu essen aufstand.

Die Vorsorge der Mutter bei der Speisemeisterin kam ihm jetzt sehr zu statten.

Das Vielregieren erzeugt überall ein Umgehen des Gesetzes, das die Wächter ohne strenge Ahndung geschehen lassen müssen, und so hatten mehrere Knaben außer dem, was sich wie durch eine geheime Ueberlieferung forterbte, bald allerlei Schliche und Winkelzüge zu größerer Freiheit ersonnen; Ivo aber nahm keinen Teil daran, ebensowenig wie an den geheimen Possen, die man mitunter den Lehrern und Aufsehern spielte – er war still und allein.

Der erste Brief an seine Eltern mag uns seine Lage zeigen; er lautete:

„Liebe Eltern und Geschwister!

„Ich wollte nicht eher schreiben, als bis ich mich hier eingewöhnt hatte. Ach! ich habe in diesen drei Wochen so viel erlebt, daß ich wähnte, ich würde sterben. Wahrlich! wenn ich mich nicht geschämt hätte, wäre ich wahrhaftig wieder heimgelaufen. Ich dachte oft daran: es ging mir, wie unsrer Algäuerin, die fraß auch nichts, bis sie sich an das andre Vieh gewöhnt hatte. Wir haben hier gutes Essen, jeden Tag außer Freitag Fleisch, und am Sonntag auch Wein. Die Frau Speisemeisterin that mir viel Gutes; zu der Tranbenwirtin darf ich nicht hingehen, da der Besuch von Wirtshäusern uns unerlaubt ist. Ach! wir sind überhaupt sehr streng gehalten – – Wir dürfen nicht einmal allein spazieren gehen, mittags eine halbe Stunde. O! wenn ich nur auch als Flügel hätte, daß ich zu Euch hinfliegen könnte. Am liebsten ist mir’s, wenn wir auf den Weg spazieren gehen, wo wir herein gefahren sind, da denke ich an die grüne Zukunft – – wo ich auch diesen Weg in die Vakanz gehe. Es ist hier auch (Hier war „frigor ad“ durchstrichen) sehr kalt. Schicke mir doch ein wollenes Unterwams, liebe Mutter, vorn auf der Brust grün ausgeschlagen. Es friert mich hier viel mehr, als da ich nach Horb ging; da konnte ich machen, was ich wollte, hier bin ich gar nicht mein eigen. Ach! mir ist der Kopf oft so schwer vom Weinen, daß ich wähne, ich würde krank werden. Liebe Mutter, betrübe Dich aber nicht zu sehr, es wird schon besser gehen, und ich befinde mich auch sonst recht wohl; ich muß aber doch mein Herz vor Dir ausschütten. Ich will gewiß recht fleißig sein, da wird mit Gottes Hilfe alles gut gehen; ich vertraue auf ihn, auf unsern Heiland, auf die heilige Mutter Gottes und auf alle Heiligen, es hielten es ja auch schon andre vor mir aus. Seid also recht vergnügt, habt einander recht lieb! Denn wenn man fort ist, da fühlt man’s, wie lieb man sich haben soll, während man bei einander ist; ich wäre jetzt gewiß nie streitig oder unzufrieden, und das liebe Gretle würde mich nicht mehr zanken. Lebet wohl, grüßet mir alle gute Freunde, ich bin Euer lieber Sohn
Ivo Bock.

Postscriptum. Liebe Mutter! Es kam auch ein neuer Repetent an, nämlich des Schneider Christles Gregor, er hat aber nicht seine Schwester, sondern eine fremde Person bei sich. Macht, daß der Schneider Christle an ihn schreibe, er solle sich um mich annehmen.

Lieber Nazi, ich grüße Dich von Herzen, ich denke auch recht oft an Dich. Man sieht hier fast lauter blaues Algäuer Vieh, und wenn ich einen Bauer auf dem Feld arbeiten sehe, möchte ich immer gerade hin springen und ihm helfen. Der Speisemeister hat auch Tauben, aber er thut sie alle ab auf den Winter! – Der Bartel wohnt nicht mit mir auf einer Stube, er ist sehr zufrieden, er hat es nie besser gehabt; er hat auch keine so liebe, gute Mutter und auch keinen so Vater, wie ich. Wenn ich nur einen rechtschaffenen Kameraden hier hätte –

Man darf hier auch Besuche abends in Familien machen, es gehen viele dahin, aber ich kenne niemand hier. Ach Gott! wenn ich in Nordstetten wäre – –

Verzeihet mein schlechtes Schreiben. Ach Gott! wenn ich bei Euch wäre! Es liegt mir noch vieles auf dem Herzen, ich will aber jetzt schließen, es läutet zum Schlafengehen. Denket auch recht oft an mich!“

Dieser Brief machte einen gewaltigen Eindruck im elterlichen Hause, die Mutter steckte ihn in ihre Tasche und las ihn so oft, bis er in Stücke zerfiel; immer aber, wenn sie an Worte kam, wie: „ich dachte, ich that, ich konnte,“ schaute sie ein wenig vom Blatte auf, ihr Kind war ihr hierin so fremd, dann aber besann sie sich wieder, daß der Brief eben von einem „G’studierten“ sei, und daß der Pfarrer in der Predigt ja auch so spreche. Ein besonderes Kreuz waren dann noch die vielen Gedankenstriche, die konnten so gar vieles enthalten.

Der Nazi erbot sich alsbald, eine ganze Nacht hindurch nach Ehingen zu laufen, und dem Ivo die gewünschten Sachen und Nachricht zu bringen.

Das Walpurgle, die schöne Näherin, wurde nun ins Haus genommen, die Mutter gab ihr das Beste zu essen und zu trinken; es war ihr, als ob das dem Wämschen zu gut käme, und dann sagte sie oft: „Spar nur nichts, es ist für meinen Ivo.“

Weihnachten war nicht fern, und so wurde für Ivo Hutzelbrot gebacken, das mit Kirschwasser geknetet und mit Hutzeln (Gedörrte Birnen und Apfelschnitten) und Nüssen angefüllt war; dieses, nebst vielem Obst, einigem Geld und andern Sachen wurde in einen Sack gepackt, und spät am Abend ging Nazi damit durch das Dorf hinaus.

Ivo wollte seinen Augen kaum trauen, als er auf dem Mittagsspaziergange den Nazi mit einem Zwerchsacke daher kommen sah; als aber Nazi winkte, sprang er ihm entgegen und fiel ihm um den Hals. Viele Knaben kam herbei und standen verwundert umher.

„Bock,“ fragte einer, „ist das dein Bruder?“

Ivo nickte, er wollte nicht sagen, daß der Nazi nur Knecht sei.

„Da muß dein Vater ein steinalter Bock sein,“ sagte ein andrer Knabe. Alle lachten. Der Clemens Bauer aber, ein Knabe aus dem Hohenlohischen, sagte: „Pfui, schämt euch, ihr Neidhammel; ihr solltet euch mit freuen, daß er so eine Freud’ hat.“ Er lief nun schnell zu dem Repetenten, der als Aufseher mitging, und Ivo erhielt durch ihn die Erlaubnis, allein mit Nazi heimzukehren.

Ein seliges Entzücken leuchtete aus dem Antlitze unsres Ivo, das war ein rechtschaffener Bub; der Gedanke dämmerte durch seine Seele, daß er durch seinen Nazi auch zu einem Freunde kommen werde.

An der Hand des alten Freundes ging er nun zurück, seines Redens und seiner Freude war kein Ende. Als nun gar noch die Sachen ausgepackt wurden, jauchzte er hoch auf. Er legte sogleich etwas zurück für den guten Klemens, aber auch einem jeden seiner Stubenkameraden teilte er bei ihrer Rückkehr etwas mit.

Nazi hatte auch einen Brief an des Schneider Christles Gregor mitgebracht, Ivo trug ihn sogleich hin, und Gregor bat ihn, öfter zu kommen und ihm alle seine Anliegen mitzuteilen.

Abends durfte Ivo zu Nazi ins Wirtshaus, sie konnten gar nicht fertig werden mit Reden und Fragen. Als es zum Gebet läutete, ging Nazi noch mit bis an das Kloster.

Wie von einer freundlichen Hand getragen, fast schwebend ging Ivo die Klostertreppe hinauf, er fühlte sich jetzt weit mehr hier zu Hause, da sein ganzes Nordstetten zu ihm hergekommen war, indem es ihm seinen liebsten Gesandten geschickt hatte; auch hatte er jetzt einen Gönner und einen Freund, alles das durch den lieben, guten Nazi.

Von nun an war das Leben unsers Ivo durch Fleiß, Heiterkeit und Freundschaft gehoben. Seine Mutter ließ, wie man sagt, keinen Vogel vorbeifliegen, ohne ihm etwas an ihren Sohn mitzugeben. Und wie es diesem in seinem Schranke fast nie an etwas Besonderem fehlte, so hatte er auch stets in seinem Herzensschreine irgend eine heimliche Freude. Alles um ihn her gewann ein schöneres Leben, wozu vornehmlich auch die Ermunterung des Klemens beitrug. Dennoch schlossen sich die beiden nicht so rasch aneinander an, wie man hätte vermuten sollen; es bedurfte hierzu eines außerordentlichen Ereignisses. Die andern Knaben aber, als sie sahen, daß Ivo bei dem Repetenten Haible, so hieß Gregor, viel galt, ließen ihn fortan ungekränkt und bewarben sich sogar um seine Gunst.

Eine besondere Freude gewann auch Ivo durch Erlernung der Musik.

Man richtete ein möglichst vollständiges Orchester für die Kirchenfeierlichkeiten ein, Ivo wählte das Waldhorn und gelangte bald zu einer ziemlichen Fertigkeit.

Der Direktor wollte einst den Knaben, die ein bloßes Kasernenleben führten, wieder etwas Familienhäuslichkeit zu kosten geben. Er lud daher in der Religionsstunde die zwölf Ersten, zu denen auch Ivo gehörte, auf einen Abend zu sich ein. Diese Eröffnung wurde als Befehl angesehen, und nach der Reihenfolge ihrer Plätze in der Klasse traten die Knaben, ein jeder sich vielmal verbeugend, abends ein.

Der Direktor lebte mit seiner alten Schwester zusammen. Es wurde nun Thee bereitet, und die Scholaren griffen schüchtern zu.

Dem guten alten Manne selber war das Familienleben schon längst abhanden gekommen. Statt daher die Knaben nach ihrer Heimat und dergleichen zu fragen, sprach er mit ihnen von den Büchern und dem Studium. Nur einmal, als er einen lustigen Spaß aus seiner Jugend erzählte, wie nämlich zwei Blätter in seiner Bibel zusammengeklebt waren und er sich nicht zu helfen wußte, lief ein halblautes Kichern durch die Reihe der Knaben. Der Direktor aber knüpfte sogleich die Lehre daran, daß, wenn man etwas in der Bibel nicht recht verstehe, einem noch irgendwo ein Blatt zugeklebt sei.

Als es neun Uhr läutete, sagte er: „So, jetzt zum Nachtgebet.“ Alles stand auf und betete, dann sagte er: „Gute Nacht,“ und die Knaben trollten sich fort. Sie hatten wenig Familienleben bei dem Direktor gehabt.

So verging für Ivo der Winter. Oft war er auch sehr betrübt, wenn er die Knaben aus der Stadt Schlitten fahren oder Schneeballen werfen sah. Als aber draußen der Schnee schmolz und die ersten Triebe sich in der Natur regten, da zitterte sein Herz mit den Pulsen, die draußen die Erde belebten; es drängte auch ihn hinaus in die freie, sonnige Heimat.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1