6. Die lateinische Schule. - Eine Lebensveränderung trennte Ivo bald von seinem Jugendfreunde. ...
6. Die lateinische Schule. - Eine Lebensveränderung trennte Ivo bald von seinem Jugendfreunde.
Die Zeit war gekommen, in der Ivo seinen ersten Schritt aus dem elterlichen Hause und zu seinem Berufe thun mußte. Auch äußerlich ging zu diesem Zwecke eine Aenderung mit ihm vor; statt der kurzen Jacke hatte man ihm einen langen, blauen Rock machen lassen, und da man wohl voraussehen konnte, daß er ihn verwachsen würde, war er nach allen Richtungen überflüssig weit.
Als nun Ivo so standesmäßig gekleidet mit seiner Mutter nach Horb ging, schlotterte der sonst so behende Knabe in den großen Stiefeln mühselig einher; er hob stets seine Hände empor, um auch seinen abstehenden Rock mitzunehmen.
Valentin nahm sich wenig mehr um die Bestimmung seines Sohnes an. Er hatte den Pfarrersgedanken genugsam ausgekostet, es war ihm jetzt fast gleich, ob sein Sohn Pfarrer oder Bauer würde; überhaupt war ihm, wo es drauf und dran kam, etwas Außergewöhnliches zu thun, jede Mühe zu viel.
Die Mutter Christine aber war eine fromme und entschlossene Frau, sie ließ einen einmal erfaßten Gedanken nicht mehr so leicht wieder los.
Der Kaplan wohnte neben der Stadtkirche. Mutter und Sohn gingen nun zuerst in die Kirche, knieten vor dem Altare nieder und beteten inbrünstig drei Vaterunser. Mit ähnlichen Gefühlen, wie einst Hanna ihren Sohn Samuel dem Hohenpriester im Tempel zu Jerusalem brachte, war die Seele der Mutter Christine erfüllt. Sie hatte zwar das Alte Testament nie gelesen und kannte die Geschichte von Hanna und Samuel nicht, aber in ihrem Geiste lebten jene alten Empfindungen rein und neu wieder auf. Mit einem von Wehmut und Liebe strahlenden Blicke schaute sie auf zur heiligen Mutter Gottes, die so hochbegnadigt war, den unter dem Herzen zu tragen, der da ist das Heil der Welt, und sie bat sie, ihren Sohn zu beschützen und anzunehmen als Diener der heiligen Kirche. Die Hände fest auf ihren Busen drückend, betrachtete Christine ihren Sohn, als sie mit ihm die Kirche verließ.
In der Kaplanei stellte sie ihr Körbchen in die Küche und gab der Köchin Eier und Butter; darauf wurde sie gemeldet, und mit kleinen Schritten, nach jedem Tritte sich verbeugend, ging sie in die geöffnete Stube des Kaplans. Dieser war ein gutmütiger Mann, der, seine fleischigen Hände stets in- und auseinander wickelnd, mit salbungsvollen Mienen und Gebärden die Ankömmlinge traktierte. Die Mutter horchte so aufmerksam zu wie bei einer Predigt, und als nun Ivo ermahnt wurde, recht fleißig zu sein, weinte er laut auf, er wußte nicht, warum, aber sein Herz war so voll, er konnte nicht anders; der gute Mann tröstete und streichelte ihn, und still beruhigt verließen die beiden das Haus.
Nun ging es zu einer alten Witfrau, die neben dem Staffelbäck wohnte; im Vorbeigehen hatte Ivo eine Fastenbrezel erhalten, und am Ofen sitzend, den Leckerbissen verzehrend, hörte Ivo die Unterhandlung mit der Frau Hanklerin. Benannte Frau war eine Butter- und Eierhändlerin, die in alter Geschäftsverbindung mit der Frau Christine stand. Es wurde nun ausgemacht, daß sich Ivo künftig hier im Hause über Mittag aufhalten, daß ihm die Frau Hanklerin etwas kochen und dafür ein Gewisses an Eiern, Butter und Mehl erhalten solle.
Zu Hause angekommen, warf Ivo schnell den weiten Rock ab, schlenkerte die Stiefel von den Füßen und eilte in den Stall zum Nazi; dieser fuhr sich mit der Hand über die Augen, als er hörte, daß Ivo nun Student sei.
Andern Tages war es unserm jungen Freunde schwer zu Mute, als er zum erstenmal in die lateinische Schule sollte. Er wurde früh aufgeweckt, mußte sich schön anziehen, und damit ihm der Abschied nicht zu schwer sei, begleitete ihn die Mutter bis vor das Dorf auf die Hochbur. Dort gab sie ihm noch ein Stückchen in Papier gewickeltes gebraten Fleisch und sagte ihm, das solle er heute mittag verzehren; dann gab sie ihm noch zwei Kreuzer, für alle Gefahren, damit er sich etwas kaufen könne.
Die Leser kennen längst den Weg nach Horb, da sie ihn schon oft gegangen; aber neben dem kaum halbstündigen Schlangenweg, der sich am steilen Berge hinanzieht, gibt es noch einen näheren Fußsteig von der Hochbur aus links durch den Wald; diesen schlug Ivo ein, und in wenigen Minuten sprang er – denn man kann hier nicht gehen, sondern bloß springen – bis hinab zur Horber Ziegelhütte. Sein Herz pochte schnell, und seine Thränen flossen reichlich, denn er empfand es wohl, daß er ein neues Leben beginne.
An der Ziegelhütte machte er Halt, trocknete seine Thränen und schaute nach dem Braten; er roch daran und genoß einen angenehmen Duft. Er wickelte das Papier auseinander, das Fleisch lachte ihn an, es war zum Küssen, er spielte Versucherles, und kurz – nach einer Weile hatte er nichts mehr als das leere Papier. Gestärkt und ganz wohlgemut ging er nach der lateinischen Schule.
Hier musterten die Knaben den neuen Ankömmling ganz unverhohlen; sie machten sich besonders über seine weiten Kleider lustig.
„Wie heißt du?“ fragte einer.
„Ivo Bock.“
„Das ist der Ivo Bock
Mit dem Familienrock,“
sagte ein Knabe mit einem schön gestickten Hemdkragen. In Ivos Antlitz verriet sich jenes Zucken, das dem Weinen vorausgeht. Als nun aber mehrere auf ihn zukamen und ihn zerren wollten, schlug er mit wütender Kraft mit beiden Fäusten um sich. Der Reimschmied aber mit dem gestickten Kragen kam auf ihn zu und sagte: „Sei zufrieden, es darf dir niemand was thun, ich helf’ dir.“
„Ist das dein Ernst, oder willst du mich noch mehr foppen?“ fragte Ivo mit bewegter Stimme, indem er noch immer seine Fäuste ballte.
„Mein voller Ernst, da hast du meine Hand drauf.“
„Meinetwegen,“ sagte Ivo, und seine Faust löste sich zu friedlichem Händedruck auf.
Es ist wohl möglich, daß das Stadtkind unsern Ivo anfangs noch weiter zu necken oder ihn mit hoher Gönnerschaft zu schützen gedachte; die sichere Haltung Ivos mochte aber allem diesem eine andre Wendung gehen.
Die Ankunft des Kaplans brachte plötzlich Stille unter die Versammelten. Der Unterricht war der gewöhnliche, wenn man mensa zu deklinieren beginnt. Als die Schule zu Ende war, begleitete der Knabe mit dem gestickten Kragen nebst seinem jüngeren Bruder unsern Ivo bis zur Frau Hanklerin; es waren des Oberamtmanns Söhne, deren Gesellschaft er hatte. Wir können nun schon beruhigter seinem Schicksale in der Stadt entgegensehen.
Bei der Frau Hanklerin waren alle Thüren verschlossen. Ivo setzte sich auf die Hausschwelle, ihrer harrend. Trübe Gedanken stiegen in seiner Seele auf, sie waren zunächst nur alltäglichen Ursprungs, ihn hungerte. Er gedachte, wie sie jetzt zu Hause sich alle um den Tisch setzen und er allein hier hungernd und verlassen draußen in der Welt stehe, kein Mensch sich um ihn kümmere; da liefen die Leute alle so rasch vorbei, und keiner schaute nach ihm um, alle gingen zu dampfenden Schüsseln, die ihrer harrten, nur er saß da, als ob er vom Himmel gefallen wäre und keine Heimat hätte.
„Jedem Stückle Vieh,“ sagte er, „steckt man zur Zeit sein Futter auf, nur um mich bekümmert sich niemand; zwar hab’ ich zwei Kreuzer im Sack, aber ich darf das Geld doch nicht jetzt schon angreifen.“
Immer schrecklicher ward es ihm, so da draußen in der fremden Welt zu sein, ein unnennbares Heimweh preßte seine Brust; rasch richtete er sich auf, und in großen Sätzen sprang er auf und davon, der Heimat zu. Als er um die Ecke bog, begegnete ihm die Frau Hanklerin. Sie entschuldigte sich viel tausendmal, sie habe ihn vergessen und sei aufgehalten worden.
„Komm mit,“ war der tröstliche Schluß ihrer Rede, „ich koch’ dir ein Rübelessüpple und schmelz’ dir’s recht gut, deiner Mutter zulieb; dein’ Mutter ist eine brave Frau, und wenn du einmal Hajrle bist und ich gestorben bin, mußt du auch eine Mess’ für mich lesen, gelt, das thust du?“
Ivo war ganz glückselig, daß jemand von seiner Mutter sprach; es war ihm, als wäre er tausend Stunden weit und schon zehn Jahre von Haus weg: das Latein, der Braten, der Familienrock, die Händel, der neue Kamerad, die Flucht – er hatte heute schon so viel erlebt, mehr als sonst in einem halben Jahre. Er ließ sich nun das Essen gut schmecken, aber es war ihm doch nicht wohl bei der fremden Frau; ein stilles Gefühl dämmerte in ihm, daß er dem Boden seines Daseins, dem elterlichen Hause, entrückt war. Ein junger Waldbaum, der schützenden Genossenschaft, dem still ruhenden festen Erdreiche entzogen, auf rasselnden Wagen dahingerollt, um auf ferner Anhöhe einsam einzuwurzeln – wenn er reden könnte, er müßte herzdurchbohrende Jammertöne ausstoßen. Ivo fühlte ein schweres Drücken auf seiner Herzgrube.
Der Nachmittagsunterricht ging leichter, da kam Deutsch vor, da konnte Ivo auch ein Wort mitsprechen. Auf dem Heimwege gesellte er sich zu seinen zwei Ortskindern, zu des Johannesles Konstantin und zu des Hansjörgs Peter; Konstantin sagte, der jüngste der Studenten müsse den älteren immer die Bücher tragen, und Ivo ließ sich die schwere Bürde ohne Widerrede aufladen.
Oben an der Steige aber sahen sie die Mutter Christine, die ihrem Sohne entgegengegangen war; die Bücher wurden ihm abgenommen. Ivo sprang jubelnd seiner Mutter entgegen, aber mitten drin hielt er ein, er schämte sich vor den großen Burschen, seiner Mutter um den Hals zu fallen, und duldete selbst ihre Liebkosungen nur ungern.
Die Mützen auf die Seite gerückt, mit ihren Büchern unterm Arme stolzierend, gingen die beiden größeren Studenten durch das Dorf.
Ivo hatte nun seiner Mutter und zu Hause dem Nazi gar viel zu erzählen, als ob er über dem Meere gewesen wäre. Er kam sich auch als was Rechtes vor, da man für ihn besonders gekocht hatte und ihm besonders auftrug. Selbst das Gretle, das ihm fast nie ein gutes Wort gab, war jetzt freundlicher gegen ihn; er kam ja aus der Fremde.
So wanderte nun Ivo von Tag zu Tag in die lateinische Schule.
Um dieselbe Zeit war auch mit dem Muckele eine große Veränderung vorgegangen, es stand nicht mehr so fröhlich im Stalle, denn es war zum Zugtiere gezähmt worden. Ivo glaubte, das Tier leide durch seine Entfernung vom Hause, und er war sehr betrübt.
In der lateinischen Schule aber ging alles vortrefflich.
Wie Ivo schnell in den zu weit angemessenen Rock hineinwuchs, so erfüllte er auch bald alle seine neuen Verhältnisse und fühlte sich behaglich darin.
Die innige Beziehung zu Nazi litt sehr, denn sie konnten nicht mehr so alles miteinander teilen; die genauen Berichte hörten auch nach und nach auf, es gab immer seltener etwas Wichtiges zu erzählen, und Ivo setzte sich, wenn er nach Hause kam, meist still hinter seine Bücher. Dagegen trat die Frau Hanklerin in ein freundschaftliches Verhältnis. Sie sagte immer: „Man könne sich mit Ivo ausschwatzen wie mit einem Alten.“ Sie erzählte ihm viel von ihrem verstorbenen Mann, und Ivo half ihr sorgen und raten, wenn der vierteljährige Hauszins zu bezahlen war.
Mit des Oberamtmanns Kindern stand Ivo in beneideter Freundschaft.
Und Emmerenz? Sie war jetzt neun Jahre alt, ging in die Schule und diente in den Freistunden als Kindsmagd bei dem Schullehrer.
In einem Lebensalter, in welchem sonst die Kinder nur mit der Puppe spielen, hatte Emmerenz eine lebendige anspruchsvolle Puppe zu versorgen; aber sie that es meist mit kindlicher Lust und Spielerei. Nur wenn Valentin nicht zu Hause war, durfte sie mit ihrem Kind bei ihm „ause laufen,“ d. h. Besuchmachen, sonst war sie „unwert (Unwillkommen).“
Der Zimmermann konnte das Kindergeschrei nicht leiden. Er ward überhaupt immer krittlicher und unzufriedener. Ivo sah nun zwar die Emmerenz hin und wieder, aber die beiden Kinder hatten eine gewisse Scheu voreinander, besonders Ivo bedachte ernstlich, daß es sich für ihn, als künftigen Geistlichen, nicht schicke, so vertraut mit einem Mädchen zu sein. Er ging oft mit seinen Büchern an Emmerenz vorbei, ohne sie zu grüßen.
Auch sonst sah sich Ivo vielfach von seinen alten Lieblingssachen hinweggedrängt. Wenn er zu Hause war und nach alter Gewohnheit in den Stall ging, um dem Nazi zu helfen, den Stier, die Algäuerin und den Falb zu füttern, da jagte ihn oft sein Vater hinaus mit den Worten: „Fort, du hast nichts im Stall zu schaffen, gang du zu deinen Büchern und lern was Rechts, du mußt Hajrle werden. Meinst du, man gibt das Heidengeld umsonst aus? Marschier dich.“
Mit schwerem Herzen sah Ivo, wie die andern Knaben die Pferde zur Schwemme ritten, oder stolz auf dem Sattelgaul an einem garbenvollen Wagen saßen. Mancher schwere Seufzer entstieg seiner Brust, während er die Heldenthaten des Miltiades übersetzte; ihm wäre es draußen im Schießmauernfeld beim „Zakkern“ viel wohler gewesen, als hier auf dem Schlachtfelde bei Marathon. Er sprang oft vom Stuhle auf und schlug um sich, gleich als erfüllte er damit sein innerstes Streben.
Auch das entfremdete Ivo vom elterlichen Hause, daß er hier mitten unter den Seinigen seinen Geist mit Dingen erfüllte, um die sich sonst niemand bekümmerte; er konnte mit keinem davon sprechen, auch mit dem Nazi nicht. So war er mitten in seinem Hause ein fremder Mensch, mit ganz andern Gedanken als die übrigen.
Der Nazi aber dachte darüber nach, wie er dem oft so betrübten Knaben eine rechte Freude machen könne. Ivo hatte ihm oft mit Entzücken erzählt, welch einen schönen Taubenschlag des Oberamtmanns Buben hätten, und nun zimmerte Nazi in seinen Freistunden den verfallenen Taubenschlag zurecht, kaufte für sein eigen Geld fünf Paar Tauben und Wicken zum Futter. Ivo fiel dem Knechte um den Hals, als er ihn eines Morgens, ohne ein Wort zu reden, auf die „Bühne Speicher. „führte und ihm alles Vorbereitete schenkte.
Man mußte nun Ivo sehen, wie er des Sonntagmorgens hemdärmelig unter dem Nußbaume stand, die Arme auf der Brust übereinander geschlagen, mit seliger Spannung hinaufschauend nach den lieben Tierchen auf dem Dache, die ihre Morgengespräche hielten, ihre Verbeugungen machten und endlich lustig aufflatterten hinaus ins Feld. Von den Besitztümern, die er fassen konnte, die mit ihm auf der Erde wandelten, war er nun an solche gekommen, die er nur noch mit liebenden Blicken begleiten durfte; nur durch den unsichtbaren Gedanken besaß er sie, fassen und liebkosen durfte er sie nicht, sie flatterten dahin frei in die Luft, und nur mit den Banden des seligsten Vertrauens hielt er sie fest.
Kann man dies nicht als ein Sinnbild der Lebenswendung ansehen, die das Schicksal Ivos genommen?
Da stand er dann in dem sonnenhellen Morgen unter dem Nußbaume, den Blick liebend nach oben gewandt. Er pfiff den Tierchen auf dem Dache, sie kamen zu ihm hernieder, tänzelten vor seinen Füßen und pickten das Futter auf, das er ihnen hinwarf, aber er durfte sich nicht rühren, um seine Freude auszudrücken, still mußte er sie in seiner Seele hegen, wenn er nicht alle plötzlich aufscheuchen wollte, und so summte er au den Baum gelehnt oft das Lied, das ihn Nazi gelehrt:
Alles, was auf Erden schwebet,
Gleichet keiner Taube nicht.
Tauben, das sind schöne Tier’,
Tauben, die gefallen mir,
Tauben, die gefallen mir.
Morgens fruh um halber achte
Steig’ ich vor mein Bett heraus,
Schau, was meine Tauben machen,
Ob sie schlafen oder wachen,
Ob sie noch bei Leben sein.
Morgens fruh um halber neune,
Fliegen sie nach Nahrung aus,
Da wird mir’s ganz angst und wehe,
Weil ich keine Tauben sehe,
Keine in dem Schlag mehr seh’.
Abends spat dann kommen sie wieder,
Fremde haben sie mitgebracht;
Sperr’ ich sie fein sauber ein,
Daß sie möchten sicher sein
Vor dem Marder in der Nacht.
Wenn Ivo dann in die Kirche kam, war seine Seele so voll Liebe und kindlichen Zutrauens, daß er fast immer: „Guten Morgen, Gott!“ sagte. Mit einem heimischen Wohlgefühle ging er dann in die Sakristei, kleidete sich als Ministrant an und verrichtete beim Hochamt seine Obliegenheiten.
Eine tiefinnige Gottesfurcht, getragen von einer glutvollen Liebe zur Mutter Gottes und besonders zu dem lieben herzigen Christkindchen, wohnte in der Seele Ivos. Mit besonderer Freude dachte er daran, daß auch der Heiland eines Zimmermanns Sohn gewesen und sich auf den Balken seines Vaters sonnte.
Von allen heiligen Tagen war Ivo der Palmsonntag der liebste; er machte fast noch mehr Eindruck auf ihn als der Karfreitag. Schon Wochen vorher stellte man Weiden, Pappeln und andre Zweige ins Wasser, damit sie grünen; mit den in Büschel gebundenen frühgrünen Reisern umstanden dann die Kinder den Altar zum Andenken an den palmenbegrüßten Einzug Christi in Jerusalem. Die Sträuße wurden mit Weihwasser besprengt und dann im Stalle aufgehängt, damit den Tieren kein Schaden geschehen konnte. Zu Hause war den ganzen Tag alles so ernst und feierlich, man hörte kein lautes Wort, selbst vom Vater nicht; ein jedes behandelte das andre freundlich und liebreich, so daß Ivo ganz glückselig war.
Schon frühe machte sich indes auch in religiösen Dingen ein gewisser Geist des Nachdenkens bei ihm geltend. Der Kaplan erklärte einst, daß der heilige Petrus deshalb den Schlüssel trage, weil er den Seligen die Himmelsthüre öffne. „Ei, wie denn?“ fragte Ivo, „wo sitzt denn der?“
„Am Himmelsthor.“
„Ei, da kommt ja der gar nicht in den Himmel, wenn der da sitzen muß, um den andern aufzumachen?“
Der Kaplan sah Ivo betroffen an und schwieg eine Weile, dann aber sagte er mit vergnüglichem Lächeln: „Der findet eben seine himmlische Seligkeit darin, andern die Thore des ewigen Heils aufzumachen. Das ist die höchste Tugend, sich an der Glückseligkeit andrer zu freuen und für sie zu arbeiten; das ist der hohe Beruf des heiligen Vaters zu Rom, der den Schlüssel Petri auf Erden hat, sowie aller derer, die von ihm und seinen Bischöfen geweiht sind.“
Ivo war das schon recht, doch begriff er es nicht ganz, und es that ihm bei alledem leid, daß der gute Petrus so immer an der Thüre sitzen muß.
Eine schwere Sorge lud der Kaplan dem Ivo auf, als er einst den Kindern einschärfte, man müsse sich jeden Tag fragen: was hast du heute gelernt oder Gutes gethan?
Ivo nahm das buchstäblich genau und war oft sehr übel daran, wenn er nichts Rechtes auffinden konnte. Er wälzte sich dann verzweiflungsvoll in seinem Bette umher.
Es geht mit dem Wachstum des Geistes, wie mit jedem natürlichen Wachstume: ein Tier, eine Pflanze wächst, ohne daß man es eigentlich im wahren Sinn des Wortes sieht. Man sieht stets nur das Gewachsene, nie das Wachsen.
Wir werden sehen, daß Ivo an Geist zunahm, obgleich er sich keine genaue Rechenschaft davon geben konnte.
Dagegen hatte der Kaplan eine weise und nachahmungswerte Einrichtung in seiner Schule. Er setzte die Knaben nicht nach ihrer Fähigkeit und Geschicklichkeit, sondern nach ihrem Fleiße und ihrer Pünktlichkeit; erst nach diesen sollten jene den Ausschlag geben, „denn,“ sagte er, „Fleiß und Ordnung kann sich jeder angewöhnen; das Angeeignete ist die höhere Tugend, Fähigkeit und Geschick aber sind nur überkommene Naturgaben.“ So zwang er die Befähigten zur Emsigkeit und verlieh den Minderbegabten Mut und Zuversicht.
Ivo, der mit entschiedener Begabung eine große Gewissenhaftigkeit vereinigte, war bald einer der ersten, und der Oberamtmann sah es gern, daß seine Knaben ihn ins Haus zogen.
Wir kennen den Oberamtmann Rellings noch von dem Befehlerles her. Ivo hatte zu Hause auch oft von seiner Härte erzählen gehört; wie erstaunte er nun, daß er einen freundlichen, gütigen Mann in ihm fand, der mit seinen Kindern spielte und ihnen allerlei Freude bereitete.
So ist es eben. Man wird Hunderte von Menschen treffen, die in Bezug auf das Allgemeine die freisinnigsten Ansichten verfolgen, daß alle Menschen gleich seien u. s. w.; zu Hause aber quälen sie ihr Gesinde, ja sogar Frau und Kinder, wie echte eigenwillige Tyrannen; dagegen wird man andre, besonders Beamte finden, die jeden Menschen, der kein Beamter ist, wie einen Sklaven und Landläufer ansehen und danach behandeln; in ihren vier Wänden sind sie aber die besten Hausväter.
So wohl sich nun Ivo in der Stadt fühlte, so empfand er doch jeden Sonntagabend, wenn es zu Nacht läutete, einen stillen Schmerz; diese Töne verkündeten ihm: morgen ist’s Montag, und da geht’s wieder fort aus dem elterlichen Hause, von der Mutter, vom Nazi und den Tauben. Nach und nach lernte er auch auf seinem täglichen Gange die darin liegenden Freuden ziehen. Er ging stets allein, denn er wich gern dem Konstantin aus, der ihn auf alle Weise neckte.
Im Sommer ging er stets singend seinen Weg; im Herbste hatte er immer die besondere Freude, daß seine Mutter und Schwester einige Tage in des Staffelnbäcks Mühle mahlten; er ging dann mittags nicht zur Frau Hanklerin, sondern aß mit den Seinigen in der dröhnenden Mühlstube zu Mittag. Der Winter bot ihm die meisten Freuden. Nazi, der allerlei Handwerk verstand, hatte mit einem alten eisernen Reifen den Bergschlitten beschlagen. Auf der Hochbur setzte sich dann Ivo auf sein leichtes Fahrzeug, und wie ein Pfeil fuhr er die Straße hinab bis vor die Neckarbrücke. Zähneklappernd sagte er oft im Fahren seinen Spruch oder seine Regel aus der Syntax vor sich hin. Freilich mußte dann Ivo auch des Abends seinen Schlitten wieder an einem Seile den Berg hinaufziehen, aber er that das gern, und meist fand sich auch ein Wagen, an den er sein kleines Fuhrwerk anhängen durfte; nur äußerst selten widerstand ein zäher Fuhrmann seinem freundlichen Bitten.
Ivo versah auch Botendienste für das halbe Dorf: für den einen trug er Garn in die Farbe, für den andern einen Brief auf die Post, für einen dritten fragte er nach, ob kein Brief für ihn da sei. Beim Nachhausegehen hatte er oft einige Stränge Seide, Brustthee, Blutegel in einem Glase, auch Hoffmannstropfen und allerlei, was ihm die Leute aufgetragen, in seinem Schulranzen. Daher war er im ganzen Dorfe sehr beliebt, während Peter und Konstantin solche Botendienste stolz abwiesen.
Großes Aufsehen erregte es im ganzen Dorfe, als des Sonntagsnachmittags im Herbste die beiden Söhne des Oberamtmanns mit ihren roten Mützen den Ivo besuchten.
Die Mutter Christine sah zum Fenster hinaus und hörte, wie die Knaben den blinden Koanradle nach Ivos Haus fragten; und obgleich alles im Zimmer wohlaufgeräumt war, geriet sie doch in große Angst. In ihrer Hast legte sie den Schemel auf das Bett und stellte ein Paar Stiefel, die im Winkel standen, gerade vorn unter den Tisch. Sie hörte den Besuch die Treppe heraufpoltern und machte gar verlegen, aber doch mit sichtbarer Freude den „jungen Herren“ die Thüre auf und hieß sie willkommen; dann rief sie der Emmerenz zum Fenster hinaus, sie solle den Ivo aufsuchen und auch den Vater, sie sollten schnell heimkommen, es sei Besuch da.
Abermals wischte sie mit ihrer weißen Sonntagsschürze beide Stühle ab und nötigte die Knaben zum Sitzen. Sie entschuldigte sich, daß alles so unordentlich aussehe; „so ist es halt bei Bauersleuten,“ schloß sie und heftete beschämt den Blick auf den Boden, der doch so rein gewaschen war, daß die Rippen aus den Brettern heraussahen.
Der blinde Koanradle machte eben die Thüre auf, um zu sehen, was es gäbe, und dafür, daß er den Knaben das Haus gezeigt, an der Aufwartung, etwa an einem guten „Schäle“ Kaffee teilzunehmen; die Mutter Christine schob ihn aber, ohne viele Umstände zu machen, wieder zur Thüre hinaus und sagte: „Komm ein andermal.“
Gute Frau! Du warst sonst so groß in deiner religiösen Kraft, und vor diesen Setzlingen der Herren der Erde bist du so klein und demütig. Freilich bist du in der Furcht des Herrn und fast noch mehr in der Furcht „der Herren“ auferzogen und alt geworden.
Der älteste der Oberamtmannssöhne hatte sich unterdessen mit vieler Zuversicht in der Stube umgesehen; auf die Stubenthür deutend, fragte er nun: „Warum ist denn das Hufeisen da angenagelt?“
Ernst die Hände zusammenlegend und den Kopf niederbeugend, sagte die Mutter: „Das wisset ihr nicht? Das ist von deswegen: Wenn man mittags zwischen elf und zwölf ein Hufeisen findet, es unbeschrieen einsteckt und an die Thür nagelt, kann kein böser Geist, kein Teufel und kein’ Hex herein.“ –
Die Knaben schauten verwundert drein.
Ivo kam und bald nach ihm der Vater, er zog die Mütze ab und hieß die „jungen Herren“ willkommen; dann sagte er, sich die Hände reibend: „Wie? Weib, hast denn gar nichts im Haus? Hol auch was zum Aufwarten.“
Die Mutter hatte nur darauf geharrt, bis sie abkommen konnte; sie ging nun, das Schönste und Beste zusammen zu suchen. Die Emmerenz war so gescheit gewesen und hatte sich in der Küche eingestellt, da man vielleicht noch ihrer bedürfe, denn das Gretle war mit seinem Schatz spazieren; auch hatte wohl Emmerenz noch den geheimen Grund, die vornehmen Kameraden des Ivo noch einmal zu sehen, denn auch ihr that es wohl, daß er so hoch in Ehren stand.
Noch viele Nachbarfrauen hatten sich, von dem Besuche angelockt, in der Küche eingefunden, die Mutter verließ sie mit freundlichen Entschuldigungen und trug eine große Schüssel voll rotbackiger Aepfel, „Breitlinge“ genannt, in die Stube. Die Emmerenz trug auf einem blanken Zinnteller zwei Gläschen voll Kirschenwasser.
Die Knaben mußten essen und sogar von dem Branntwein trinken, dann stopfte ihnen die Mutter noch alle Taschen voll Obst. Zuletzt gab sie dem Kleinen noch besonders einen schönen Apfel zum „Gruß an die Frau Mutter, und sie solle ihn auf den Kommod stellen.“
Die Knaben gingen endlich fort. Valentin nickte freundlich, als sie ihn baten, daß der Ivo mit dürfe; die Mutter rückte ihm noch den Hemdkragen zurecht und putzte ihm noch alle Fiserchen von seinem blauen Rocke weg. Ivo hörte zu seiner Freude, daß er bald einen neuen bekäme.
Mit den Frauen, die hinter der halb vorgezogenen Küchenthür gewartet hatten, ging nun Christine auf die Straße und sah vergnügt den dreien nach, die Valentin noch bis zum Adler begleitete. Die Schultheißin sah zum Fenster heraus, und Christine rief ihr hinauf: „Das sind des Oberamtmanns Buben. Sie holen meinen Ivo ‘naus zu ihrem Vater in das Schäpfle (Name eines Wirtshauses. Schapf nennt man ein Gefäß, mit dem man Wasser schöpft), er sieht’s gern, daß sie Kameradschaft mit ihm haben, er ist gar gescheit und beliebt.“
Es darf auch nicht verschwiegen werden, daß sogar Ivo mit einem gewissen Stolze Hand in Hand mit den Knaben durch das Dorf ging. Er freute sich, daß alle Leute zu den Fenstern heraussahen. und er sagte allen mit großer Selbstzufriedenheit: „Guten Tag.“
Wer wird ihm das verdenken in einem Lande, wo des Kindes Vorstellung schon von der Allmacht der Beamten fabelt, wo ihr Dasein und ihre Wirksamkeit in ein majestätisches Dunkel gehüllt ist, wo groß und klein jeden Landreiter und Schreiber demütig grüßt, weil man weiß, wie man in ihre Hand gegeben ist, wenn die Thüre des geheimen Gerichtes hinter einem in die Klinke fallt?
Der Schäpfleswirt grüßte Ivo ebenfalls sehr freundlich und rieb dabei nach seiner Gewohnheit die Hände, als ob es ihn friere. Ivo durfte nun in das „Herrenstüble“ an den durch einen Bretterverschlag abgesonderten Tisch, wo der Kameralverwalter und der Oberamtmann saßen.
Zwei Kaufleute aus Horb standen etwas zaghaft unter dem Eingange in die Herrenkammer. Endlich sagte der eine: „Nun, Herr Stadtrat, was wollen wir denn trinken?“
„Was Sie wollen, Herr Stadtrat,“ erwiderte der Angeredete.
Jetzt war’s heraus, die beiden Männer waren gestern zu dieser Würde gewählt worden; sie gehörten nun auch an den Herrentisch und nahmen mit tiefen Bücklingen Platz. Der Oberamtmann sah seinen Kollegen an und lächelte höhnisch.
Ivo war seelenvergnügt in dieser Gesellschaft, aber er sollte bald eine Züchtigung für seine Eitelkeit erfahren. Die Kinder erzählten, was sie von Ivos Mutter über die Wirksamkeit des Hufeisens gehört hatten. Der Oberamtmann, der sich gern in religiösen Dingen als freidenkend zeigte, weil das nicht gegen ein ausdrückliches Verbot im Gesetze war, sondern sogar zur Bildung gehörte, sagte: „Was dummes Zeug! Das ist ein hirnloser Aberglaube. Laßt euch von einem einfältigen Bauernweib nichts aufbinden; ich hab’s euch schon oft gesagt, es gibt keinen Teufel und keine Heiligen, oder Heilige, die will ich noch hingehen lassen.“
Ivo zitterte auf seinem Stuhle. Es schnitt ihm tief durch die Seele, wie man hier von seiner Mutter sprach. und noch dazu so gottlos. Er wünschte sich, daß nie solche Kameraden zu ihm gekommen wären. Gegen den Oberamtmann aber faßte er einen gründlichen Haß, er sah ihn grimmig an. Dieser schien nichts davon zu verspüren, er war sehr herablassend und freundlich gegen die zwei neuen Stadträte, welche, ganz entzückt von so viel Güte, den Mund nicht zubringen konnten.
Unserm Ivo ward es aber erst wieder leicht, als alle die „Herrenleute“ weggingen; und so bös war er, daß er sich damit freute, dem Oberamtmann keine gute Nacht gewünscht zu haben.
Die Zeit war gekommen, in der Ivo seinen ersten Schritt aus dem elterlichen Hause und zu seinem Berufe thun mußte. Auch äußerlich ging zu diesem Zwecke eine Aenderung mit ihm vor; statt der kurzen Jacke hatte man ihm einen langen, blauen Rock machen lassen, und da man wohl voraussehen konnte, daß er ihn verwachsen würde, war er nach allen Richtungen überflüssig weit.
Als nun Ivo so standesmäßig gekleidet mit seiner Mutter nach Horb ging, schlotterte der sonst so behende Knabe in den großen Stiefeln mühselig einher; er hob stets seine Hände empor, um auch seinen abstehenden Rock mitzunehmen.
Valentin nahm sich wenig mehr um die Bestimmung seines Sohnes an. Er hatte den Pfarrersgedanken genugsam ausgekostet, es war ihm jetzt fast gleich, ob sein Sohn Pfarrer oder Bauer würde; überhaupt war ihm, wo es drauf und dran kam, etwas Außergewöhnliches zu thun, jede Mühe zu viel.
Die Mutter Christine aber war eine fromme und entschlossene Frau, sie ließ einen einmal erfaßten Gedanken nicht mehr so leicht wieder los.
Der Kaplan wohnte neben der Stadtkirche. Mutter und Sohn gingen nun zuerst in die Kirche, knieten vor dem Altare nieder und beteten inbrünstig drei Vaterunser. Mit ähnlichen Gefühlen, wie einst Hanna ihren Sohn Samuel dem Hohenpriester im Tempel zu Jerusalem brachte, war die Seele der Mutter Christine erfüllt. Sie hatte zwar das Alte Testament nie gelesen und kannte die Geschichte von Hanna und Samuel nicht, aber in ihrem Geiste lebten jene alten Empfindungen rein und neu wieder auf. Mit einem von Wehmut und Liebe strahlenden Blicke schaute sie auf zur heiligen Mutter Gottes, die so hochbegnadigt war, den unter dem Herzen zu tragen, der da ist das Heil der Welt, und sie bat sie, ihren Sohn zu beschützen und anzunehmen als Diener der heiligen Kirche. Die Hände fest auf ihren Busen drückend, betrachtete Christine ihren Sohn, als sie mit ihm die Kirche verließ.
In der Kaplanei stellte sie ihr Körbchen in die Küche und gab der Köchin Eier und Butter; darauf wurde sie gemeldet, und mit kleinen Schritten, nach jedem Tritte sich verbeugend, ging sie in die geöffnete Stube des Kaplans. Dieser war ein gutmütiger Mann, der, seine fleischigen Hände stets in- und auseinander wickelnd, mit salbungsvollen Mienen und Gebärden die Ankömmlinge traktierte. Die Mutter horchte so aufmerksam zu wie bei einer Predigt, und als nun Ivo ermahnt wurde, recht fleißig zu sein, weinte er laut auf, er wußte nicht, warum, aber sein Herz war so voll, er konnte nicht anders; der gute Mann tröstete und streichelte ihn, und still beruhigt verließen die beiden das Haus.
Nun ging es zu einer alten Witfrau, die neben dem Staffelbäck wohnte; im Vorbeigehen hatte Ivo eine Fastenbrezel erhalten, und am Ofen sitzend, den Leckerbissen verzehrend, hörte Ivo die Unterhandlung mit der Frau Hanklerin. Benannte Frau war eine Butter- und Eierhändlerin, die in alter Geschäftsverbindung mit der Frau Christine stand. Es wurde nun ausgemacht, daß sich Ivo künftig hier im Hause über Mittag aufhalten, daß ihm die Frau Hanklerin etwas kochen und dafür ein Gewisses an Eiern, Butter und Mehl erhalten solle.
Zu Hause angekommen, warf Ivo schnell den weiten Rock ab, schlenkerte die Stiefel von den Füßen und eilte in den Stall zum Nazi; dieser fuhr sich mit der Hand über die Augen, als er hörte, daß Ivo nun Student sei.
Andern Tages war es unserm jungen Freunde schwer zu Mute, als er zum erstenmal in die lateinische Schule sollte. Er wurde früh aufgeweckt, mußte sich schön anziehen, und damit ihm der Abschied nicht zu schwer sei, begleitete ihn die Mutter bis vor das Dorf auf die Hochbur. Dort gab sie ihm noch ein Stückchen in Papier gewickeltes gebraten Fleisch und sagte ihm, das solle er heute mittag verzehren; dann gab sie ihm noch zwei Kreuzer, für alle Gefahren, damit er sich etwas kaufen könne.
Die Leser kennen längst den Weg nach Horb, da sie ihn schon oft gegangen; aber neben dem kaum halbstündigen Schlangenweg, der sich am steilen Berge hinanzieht, gibt es noch einen näheren Fußsteig von der Hochbur aus links durch den Wald; diesen schlug Ivo ein, und in wenigen Minuten sprang er – denn man kann hier nicht gehen, sondern bloß springen – bis hinab zur Horber Ziegelhütte. Sein Herz pochte schnell, und seine Thränen flossen reichlich, denn er empfand es wohl, daß er ein neues Leben beginne.
An der Ziegelhütte machte er Halt, trocknete seine Thränen und schaute nach dem Braten; er roch daran und genoß einen angenehmen Duft. Er wickelte das Papier auseinander, das Fleisch lachte ihn an, es war zum Küssen, er spielte Versucherles, und kurz – nach einer Weile hatte er nichts mehr als das leere Papier. Gestärkt und ganz wohlgemut ging er nach der lateinischen Schule.
Hier musterten die Knaben den neuen Ankömmling ganz unverhohlen; sie machten sich besonders über seine weiten Kleider lustig.
„Wie heißt du?“ fragte einer.
„Ivo Bock.“
„Das ist der Ivo Bock
Mit dem Familienrock,“
sagte ein Knabe mit einem schön gestickten Hemdkragen. In Ivos Antlitz verriet sich jenes Zucken, das dem Weinen vorausgeht. Als nun aber mehrere auf ihn zukamen und ihn zerren wollten, schlug er mit wütender Kraft mit beiden Fäusten um sich. Der Reimschmied aber mit dem gestickten Kragen kam auf ihn zu und sagte: „Sei zufrieden, es darf dir niemand was thun, ich helf’ dir.“
„Ist das dein Ernst, oder willst du mich noch mehr foppen?“ fragte Ivo mit bewegter Stimme, indem er noch immer seine Fäuste ballte.
„Mein voller Ernst, da hast du meine Hand drauf.“
„Meinetwegen,“ sagte Ivo, und seine Faust löste sich zu friedlichem Händedruck auf.
Es ist wohl möglich, daß das Stadtkind unsern Ivo anfangs noch weiter zu necken oder ihn mit hoher Gönnerschaft zu schützen gedachte; die sichere Haltung Ivos mochte aber allem diesem eine andre Wendung gehen.
Die Ankunft des Kaplans brachte plötzlich Stille unter die Versammelten. Der Unterricht war der gewöhnliche, wenn man mensa zu deklinieren beginnt. Als die Schule zu Ende war, begleitete der Knabe mit dem gestickten Kragen nebst seinem jüngeren Bruder unsern Ivo bis zur Frau Hanklerin; es waren des Oberamtmanns Söhne, deren Gesellschaft er hatte. Wir können nun schon beruhigter seinem Schicksale in der Stadt entgegensehen.
Bei der Frau Hanklerin waren alle Thüren verschlossen. Ivo setzte sich auf die Hausschwelle, ihrer harrend. Trübe Gedanken stiegen in seiner Seele auf, sie waren zunächst nur alltäglichen Ursprungs, ihn hungerte. Er gedachte, wie sie jetzt zu Hause sich alle um den Tisch setzen und er allein hier hungernd und verlassen draußen in der Welt stehe, kein Mensch sich um ihn kümmere; da liefen die Leute alle so rasch vorbei, und keiner schaute nach ihm um, alle gingen zu dampfenden Schüsseln, die ihrer harrten, nur er saß da, als ob er vom Himmel gefallen wäre und keine Heimat hätte.
„Jedem Stückle Vieh,“ sagte er, „steckt man zur Zeit sein Futter auf, nur um mich bekümmert sich niemand; zwar hab’ ich zwei Kreuzer im Sack, aber ich darf das Geld doch nicht jetzt schon angreifen.“
Immer schrecklicher ward es ihm, so da draußen in der fremden Welt zu sein, ein unnennbares Heimweh preßte seine Brust; rasch richtete er sich auf, und in großen Sätzen sprang er auf und davon, der Heimat zu. Als er um die Ecke bog, begegnete ihm die Frau Hanklerin. Sie entschuldigte sich viel tausendmal, sie habe ihn vergessen und sei aufgehalten worden.
„Komm mit,“ war der tröstliche Schluß ihrer Rede, „ich koch’ dir ein Rübelessüpple und schmelz’ dir’s recht gut, deiner Mutter zulieb; dein’ Mutter ist eine brave Frau, und wenn du einmal Hajrle bist und ich gestorben bin, mußt du auch eine Mess’ für mich lesen, gelt, das thust du?“
Ivo war ganz glückselig, daß jemand von seiner Mutter sprach; es war ihm, als wäre er tausend Stunden weit und schon zehn Jahre von Haus weg: das Latein, der Braten, der Familienrock, die Händel, der neue Kamerad, die Flucht – er hatte heute schon so viel erlebt, mehr als sonst in einem halben Jahre. Er ließ sich nun das Essen gut schmecken, aber es war ihm doch nicht wohl bei der fremden Frau; ein stilles Gefühl dämmerte in ihm, daß er dem Boden seines Daseins, dem elterlichen Hause, entrückt war. Ein junger Waldbaum, der schützenden Genossenschaft, dem still ruhenden festen Erdreiche entzogen, auf rasselnden Wagen dahingerollt, um auf ferner Anhöhe einsam einzuwurzeln – wenn er reden könnte, er müßte herzdurchbohrende Jammertöne ausstoßen. Ivo fühlte ein schweres Drücken auf seiner Herzgrube.
Der Nachmittagsunterricht ging leichter, da kam Deutsch vor, da konnte Ivo auch ein Wort mitsprechen. Auf dem Heimwege gesellte er sich zu seinen zwei Ortskindern, zu des Johannesles Konstantin und zu des Hansjörgs Peter; Konstantin sagte, der jüngste der Studenten müsse den älteren immer die Bücher tragen, und Ivo ließ sich die schwere Bürde ohne Widerrede aufladen.
Oben an der Steige aber sahen sie die Mutter Christine, die ihrem Sohne entgegengegangen war; die Bücher wurden ihm abgenommen. Ivo sprang jubelnd seiner Mutter entgegen, aber mitten drin hielt er ein, er schämte sich vor den großen Burschen, seiner Mutter um den Hals zu fallen, und duldete selbst ihre Liebkosungen nur ungern.
Die Mützen auf die Seite gerückt, mit ihren Büchern unterm Arme stolzierend, gingen die beiden größeren Studenten durch das Dorf.
Ivo hatte nun seiner Mutter und zu Hause dem Nazi gar viel zu erzählen, als ob er über dem Meere gewesen wäre. Er kam sich auch als was Rechtes vor, da man für ihn besonders gekocht hatte und ihm besonders auftrug. Selbst das Gretle, das ihm fast nie ein gutes Wort gab, war jetzt freundlicher gegen ihn; er kam ja aus der Fremde.
So wanderte nun Ivo von Tag zu Tag in die lateinische Schule.
Um dieselbe Zeit war auch mit dem Muckele eine große Veränderung vorgegangen, es stand nicht mehr so fröhlich im Stalle, denn es war zum Zugtiere gezähmt worden. Ivo glaubte, das Tier leide durch seine Entfernung vom Hause, und er war sehr betrübt.
In der lateinischen Schule aber ging alles vortrefflich.
Wie Ivo schnell in den zu weit angemessenen Rock hineinwuchs, so erfüllte er auch bald alle seine neuen Verhältnisse und fühlte sich behaglich darin.
Die innige Beziehung zu Nazi litt sehr, denn sie konnten nicht mehr so alles miteinander teilen; die genauen Berichte hörten auch nach und nach auf, es gab immer seltener etwas Wichtiges zu erzählen, und Ivo setzte sich, wenn er nach Hause kam, meist still hinter seine Bücher. Dagegen trat die Frau Hanklerin in ein freundschaftliches Verhältnis. Sie sagte immer: „Man könne sich mit Ivo ausschwatzen wie mit einem Alten.“ Sie erzählte ihm viel von ihrem verstorbenen Mann, und Ivo half ihr sorgen und raten, wenn der vierteljährige Hauszins zu bezahlen war.
Mit des Oberamtmanns Kindern stand Ivo in beneideter Freundschaft.
Und Emmerenz? Sie war jetzt neun Jahre alt, ging in die Schule und diente in den Freistunden als Kindsmagd bei dem Schullehrer.
In einem Lebensalter, in welchem sonst die Kinder nur mit der Puppe spielen, hatte Emmerenz eine lebendige anspruchsvolle Puppe zu versorgen; aber sie that es meist mit kindlicher Lust und Spielerei. Nur wenn Valentin nicht zu Hause war, durfte sie mit ihrem Kind bei ihm „ause laufen,“ d. h. Besuchmachen, sonst war sie „unwert (Unwillkommen).“
Der Zimmermann konnte das Kindergeschrei nicht leiden. Er ward überhaupt immer krittlicher und unzufriedener. Ivo sah nun zwar die Emmerenz hin und wieder, aber die beiden Kinder hatten eine gewisse Scheu voreinander, besonders Ivo bedachte ernstlich, daß es sich für ihn, als künftigen Geistlichen, nicht schicke, so vertraut mit einem Mädchen zu sein. Er ging oft mit seinen Büchern an Emmerenz vorbei, ohne sie zu grüßen.
Auch sonst sah sich Ivo vielfach von seinen alten Lieblingssachen hinweggedrängt. Wenn er zu Hause war und nach alter Gewohnheit in den Stall ging, um dem Nazi zu helfen, den Stier, die Algäuerin und den Falb zu füttern, da jagte ihn oft sein Vater hinaus mit den Worten: „Fort, du hast nichts im Stall zu schaffen, gang du zu deinen Büchern und lern was Rechts, du mußt Hajrle werden. Meinst du, man gibt das Heidengeld umsonst aus? Marschier dich.“
Mit schwerem Herzen sah Ivo, wie die andern Knaben die Pferde zur Schwemme ritten, oder stolz auf dem Sattelgaul an einem garbenvollen Wagen saßen. Mancher schwere Seufzer entstieg seiner Brust, während er die Heldenthaten des Miltiades übersetzte; ihm wäre es draußen im Schießmauernfeld beim „Zakkern“ viel wohler gewesen, als hier auf dem Schlachtfelde bei Marathon. Er sprang oft vom Stuhle auf und schlug um sich, gleich als erfüllte er damit sein innerstes Streben.
Auch das entfremdete Ivo vom elterlichen Hause, daß er hier mitten unter den Seinigen seinen Geist mit Dingen erfüllte, um die sich sonst niemand bekümmerte; er konnte mit keinem davon sprechen, auch mit dem Nazi nicht. So war er mitten in seinem Hause ein fremder Mensch, mit ganz andern Gedanken als die übrigen.
Der Nazi aber dachte darüber nach, wie er dem oft so betrübten Knaben eine rechte Freude machen könne. Ivo hatte ihm oft mit Entzücken erzählt, welch einen schönen Taubenschlag des Oberamtmanns Buben hätten, und nun zimmerte Nazi in seinen Freistunden den verfallenen Taubenschlag zurecht, kaufte für sein eigen Geld fünf Paar Tauben und Wicken zum Futter. Ivo fiel dem Knechte um den Hals, als er ihn eines Morgens, ohne ein Wort zu reden, auf die „Bühne Speicher. „führte und ihm alles Vorbereitete schenkte.
Man mußte nun Ivo sehen, wie er des Sonntagmorgens hemdärmelig unter dem Nußbaume stand, die Arme auf der Brust übereinander geschlagen, mit seliger Spannung hinaufschauend nach den lieben Tierchen auf dem Dache, die ihre Morgengespräche hielten, ihre Verbeugungen machten und endlich lustig aufflatterten hinaus ins Feld. Von den Besitztümern, die er fassen konnte, die mit ihm auf der Erde wandelten, war er nun an solche gekommen, die er nur noch mit liebenden Blicken begleiten durfte; nur durch den unsichtbaren Gedanken besaß er sie, fassen und liebkosen durfte er sie nicht, sie flatterten dahin frei in die Luft, und nur mit den Banden des seligsten Vertrauens hielt er sie fest.
Kann man dies nicht als ein Sinnbild der Lebenswendung ansehen, die das Schicksal Ivos genommen?
Da stand er dann in dem sonnenhellen Morgen unter dem Nußbaume, den Blick liebend nach oben gewandt. Er pfiff den Tierchen auf dem Dache, sie kamen zu ihm hernieder, tänzelten vor seinen Füßen und pickten das Futter auf, das er ihnen hinwarf, aber er durfte sich nicht rühren, um seine Freude auszudrücken, still mußte er sie in seiner Seele hegen, wenn er nicht alle plötzlich aufscheuchen wollte, und so summte er au den Baum gelehnt oft das Lied, das ihn Nazi gelehrt:
Alles, was auf Erden schwebet,
Gleichet keiner Taube nicht.
Tauben, das sind schöne Tier’,
Tauben, die gefallen mir,
Tauben, die gefallen mir.
Morgens fruh um halber achte
Steig’ ich vor mein Bett heraus,
Schau, was meine Tauben machen,
Ob sie schlafen oder wachen,
Ob sie noch bei Leben sein.
Morgens fruh um halber neune,
Fliegen sie nach Nahrung aus,
Da wird mir’s ganz angst und wehe,
Weil ich keine Tauben sehe,
Keine in dem Schlag mehr seh’.
Abends spat dann kommen sie wieder,
Fremde haben sie mitgebracht;
Sperr’ ich sie fein sauber ein,
Daß sie möchten sicher sein
Vor dem Marder in der Nacht.
Wenn Ivo dann in die Kirche kam, war seine Seele so voll Liebe und kindlichen Zutrauens, daß er fast immer: „Guten Morgen, Gott!“ sagte. Mit einem heimischen Wohlgefühle ging er dann in die Sakristei, kleidete sich als Ministrant an und verrichtete beim Hochamt seine Obliegenheiten.
Eine tiefinnige Gottesfurcht, getragen von einer glutvollen Liebe zur Mutter Gottes und besonders zu dem lieben herzigen Christkindchen, wohnte in der Seele Ivos. Mit besonderer Freude dachte er daran, daß auch der Heiland eines Zimmermanns Sohn gewesen und sich auf den Balken seines Vaters sonnte.
Von allen heiligen Tagen war Ivo der Palmsonntag der liebste; er machte fast noch mehr Eindruck auf ihn als der Karfreitag. Schon Wochen vorher stellte man Weiden, Pappeln und andre Zweige ins Wasser, damit sie grünen; mit den in Büschel gebundenen frühgrünen Reisern umstanden dann die Kinder den Altar zum Andenken an den palmenbegrüßten Einzug Christi in Jerusalem. Die Sträuße wurden mit Weihwasser besprengt und dann im Stalle aufgehängt, damit den Tieren kein Schaden geschehen konnte. Zu Hause war den ganzen Tag alles so ernst und feierlich, man hörte kein lautes Wort, selbst vom Vater nicht; ein jedes behandelte das andre freundlich und liebreich, so daß Ivo ganz glückselig war.
Schon frühe machte sich indes auch in religiösen Dingen ein gewisser Geist des Nachdenkens bei ihm geltend. Der Kaplan erklärte einst, daß der heilige Petrus deshalb den Schlüssel trage, weil er den Seligen die Himmelsthüre öffne. „Ei, wie denn?“ fragte Ivo, „wo sitzt denn der?“
„Am Himmelsthor.“
„Ei, da kommt ja der gar nicht in den Himmel, wenn der da sitzen muß, um den andern aufzumachen?“
Der Kaplan sah Ivo betroffen an und schwieg eine Weile, dann aber sagte er mit vergnüglichem Lächeln: „Der findet eben seine himmlische Seligkeit darin, andern die Thore des ewigen Heils aufzumachen. Das ist die höchste Tugend, sich an der Glückseligkeit andrer zu freuen und für sie zu arbeiten; das ist der hohe Beruf des heiligen Vaters zu Rom, der den Schlüssel Petri auf Erden hat, sowie aller derer, die von ihm und seinen Bischöfen geweiht sind.“
Ivo war das schon recht, doch begriff er es nicht ganz, und es that ihm bei alledem leid, daß der gute Petrus so immer an der Thüre sitzen muß.
Eine schwere Sorge lud der Kaplan dem Ivo auf, als er einst den Kindern einschärfte, man müsse sich jeden Tag fragen: was hast du heute gelernt oder Gutes gethan?
Ivo nahm das buchstäblich genau und war oft sehr übel daran, wenn er nichts Rechtes auffinden konnte. Er wälzte sich dann verzweiflungsvoll in seinem Bette umher.
Es geht mit dem Wachstum des Geistes, wie mit jedem natürlichen Wachstume: ein Tier, eine Pflanze wächst, ohne daß man es eigentlich im wahren Sinn des Wortes sieht. Man sieht stets nur das Gewachsene, nie das Wachsen.
Wir werden sehen, daß Ivo an Geist zunahm, obgleich er sich keine genaue Rechenschaft davon geben konnte.
Dagegen hatte der Kaplan eine weise und nachahmungswerte Einrichtung in seiner Schule. Er setzte die Knaben nicht nach ihrer Fähigkeit und Geschicklichkeit, sondern nach ihrem Fleiße und ihrer Pünktlichkeit; erst nach diesen sollten jene den Ausschlag geben, „denn,“ sagte er, „Fleiß und Ordnung kann sich jeder angewöhnen; das Angeeignete ist die höhere Tugend, Fähigkeit und Geschick aber sind nur überkommene Naturgaben.“ So zwang er die Befähigten zur Emsigkeit und verlieh den Minderbegabten Mut und Zuversicht.
Ivo, der mit entschiedener Begabung eine große Gewissenhaftigkeit vereinigte, war bald einer der ersten, und der Oberamtmann sah es gern, daß seine Knaben ihn ins Haus zogen.
Wir kennen den Oberamtmann Rellings noch von dem Befehlerles her. Ivo hatte zu Hause auch oft von seiner Härte erzählen gehört; wie erstaunte er nun, daß er einen freundlichen, gütigen Mann in ihm fand, der mit seinen Kindern spielte und ihnen allerlei Freude bereitete.
So ist es eben. Man wird Hunderte von Menschen treffen, die in Bezug auf das Allgemeine die freisinnigsten Ansichten verfolgen, daß alle Menschen gleich seien u. s. w.; zu Hause aber quälen sie ihr Gesinde, ja sogar Frau und Kinder, wie echte eigenwillige Tyrannen; dagegen wird man andre, besonders Beamte finden, die jeden Menschen, der kein Beamter ist, wie einen Sklaven und Landläufer ansehen und danach behandeln; in ihren vier Wänden sind sie aber die besten Hausväter.
So wohl sich nun Ivo in der Stadt fühlte, so empfand er doch jeden Sonntagabend, wenn es zu Nacht läutete, einen stillen Schmerz; diese Töne verkündeten ihm: morgen ist’s Montag, und da geht’s wieder fort aus dem elterlichen Hause, von der Mutter, vom Nazi und den Tauben. Nach und nach lernte er auch auf seinem täglichen Gange die darin liegenden Freuden ziehen. Er ging stets allein, denn er wich gern dem Konstantin aus, der ihn auf alle Weise neckte.
Im Sommer ging er stets singend seinen Weg; im Herbste hatte er immer die besondere Freude, daß seine Mutter und Schwester einige Tage in des Staffelnbäcks Mühle mahlten; er ging dann mittags nicht zur Frau Hanklerin, sondern aß mit den Seinigen in der dröhnenden Mühlstube zu Mittag. Der Winter bot ihm die meisten Freuden. Nazi, der allerlei Handwerk verstand, hatte mit einem alten eisernen Reifen den Bergschlitten beschlagen. Auf der Hochbur setzte sich dann Ivo auf sein leichtes Fahrzeug, und wie ein Pfeil fuhr er die Straße hinab bis vor die Neckarbrücke. Zähneklappernd sagte er oft im Fahren seinen Spruch oder seine Regel aus der Syntax vor sich hin. Freilich mußte dann Ivo auch des Abends seinen Schlitten wieder an einem Seile den Berg hinaufziehen, aber er that das gern, und meist fand sich auch ein Wagen, an den er sein kleines Fuhrwerk anhängen durfte; nur äußerst selten widerstand ein zäher Fuhrmann seinem freundlichen Bitten.
Ivo versah auch Botendienste für das halbe Dorf: für den einen trug er Garn in die Farbe, für den andern einen Brief auf die Post, für einen dritten fragte er nach, ob kein Brief für ihn da sei. Beim Nachhausegehen hatte er oft einige Stränge Seide, Brustthee, Blutegel in einem Glase, auch Hoffmannstropfen und allerlei, was ihm die Leute aufgetragen, in seinem Schulranzen. Daher war er im ganzen Dorfe sehr beliebt, während Peter und Konstantin solche Botendienste stolz abwiesen.
Großes Aufsehen erregte es im ganzen Dorfe, als des Sonntagsnachmittags im Herbste die beiden Söhne des Oberamtmanns mit ihren roten Mützen den Ivo besuchten.
Die Mutter Christine sah zum Fenster hinaus und hörte, wie die Knaben den blinden Koanradle nach Ivos Haus fragten; und obgleich alles im Zimmer wohlaufgeräumt war, geriet sie doch in große Angst. In ihrer Hast legte sie den Schemel auf das Bett und stellte ein Paar Stiefel, die im Winkel standen, gerade vorn unter den Tisch. Sie hörte den Besuch die Treppe heraufpoltern und machte gar verlegen, aber doch mit sichtbarer Freude den „jungen Herren“ die Thüre auf und hieß sie willkommen; dann rief sie der Emmerenz zum Fenster hinaus, sie solle den Ivo aufsuchen und auch den Vater, sie sollten schnell heimkommen, es sei Besuch da.
Abermals wischte sie mit ihrer weißen Sonntagsschürze beide Stühle ab und nötigte die Knaben zum Sitzen. Sie entschuldigte sich, daß alles so unordentlich aussehe; „so ist es halt bei Bauersleuten,“ schloß sie und heftete beschämt den Blick auf den Boden, der doch so rein gewaschen war, daß die Rippen aus den Brettern heraussahen.
Der blinde Koanradle machte eben die Thüre auf, um zu sehen, was es gäbe, und dafür, daß er den Knaben das Haus gezeigt, an der Aufwartung, etwa an einem guten „Schäle“ Kaffee teilzunehmen; die Mutter Christine schob ihn aber, ohne viele Umstände zu machen, wieder zur Thüre hinaus und sagte: „Komm ein andermal.“
Gute Frau! Du warst sonst so groß in deiner religiösen Kraft, und vor diesen Setzlingen der Herren der Erde bist du so klein und demütig. Freilich bist du in der Furcht des Herrn und fast noch mehr in der Furcht „der Herren“ auferzogen und alt geworden.
Der älteste der Oberamtmannssöhne hatte sich unterdessen mit vieler Zuversicht in der Stube umgesehen; auf die Stubenthür deutend, fragte er nun: „Warum ist denn das Hufeisen da angenagelt?“
Ernst die Hände zusammenlegend und den Kopf niederbeugend, sagte die Mutter: „Das wisset ihr nicht? Das ist von deswegen: Wenn man mittags zwischen elf und zwölf ein Hufeisen findet, es unbeschrieen einsteckt und an die Thür nagelt, kann kein böser Geist, kein Teufel und kein’ Hex herein.“ –
Die Knaben schauten verwundert drein.
Ivo kam und bald nach ihm der Vater, er zog die Mütze ab und hieß die „jungen Herren“ willkommen; dann sagte er, sich die Hände reibend: „Wie? Weib, hast denn gar nichts im Haus? Hol auch was zum Aufwarten.“
Die Mutter hatte nur darauf geharrt, bis sie abkommen konnte; sie ging nun, das Schönste und Beste zusammen zu suchen. Die Emmerenz war so gescheit gewesen und hatte sich in der Küche eingestellt, da man vielleicht noch ihrer bedürfe, denn das Gretle war mit seinem Schatz spazieren; auch hatte wohl Emmerenz noch den geheimen Grund, die vornehmen Kameraden des Ivo noch einmal zu sehen, denn auch ihr that es wohl, daß er so hoch in Ehren stand.
Noch viele Nachbarfrauen hatten sich, von dem Besuche angelockt, in der Küche eingefunden, die Mutter verließ sie mit freundlichen Entschuldigungen und trug eine große Schüssel voll rotbackiger Aepfel, „Breitlinge“ genannt, in die Stube. Die Emmerenz trug auf einem blanken Zinnteller zwei Gläschen voll Kirschenwasser.
Die Knaben mußten essen und sogar von dem Branntwein trinken, dann stopfte ihnen die Mutter noch alle Taschen voll Obst. Zuletzt gab sie dem Kleinen noch besonders einen schönen Apfel zum „Gruß an die Frau Mutter, und sie solle ihn auf den Kommod stellen.“
Die Knaben gingen endlich fort. Valentin nickte freundlich, als sie ihn baten, daß der Ivo mit dürfe; die Mutter rückte ihm noch den Hemdkragen zurecht und putzte ihm noch alle Fiserchen von seinem blauen Rocke weg. Ivo hörte zu seiner Freude, daß er bald einen neuen bekäme.
Mit den Frauen, die hinter der halb vorgezogenen Küchenthür gewartet hatten, ging nun Christine auf die Straße und sah vergnügt den dreien nach, die Valentin noch bis zum Adler begleitete. Die Schultheißin sah zum Fenster heraus, und Christine rief ihr hinauf: „Das sind des Oberamtmanns Buben. Sie holen meinen Ivo ‘naus zu ihrem Vater in das Schäpfle (Name eines Wirtshauses. Schapf nennt man ein Gefäß, mit dem man Wasser schöpft), er sieht’s gern, daß sie Kameradschaft mit ihm haben, er ist gar gescheit und beliebt.“
Es darf auch nicht verschwiegen werden, daß sogar Ivo mit einem gewissen Stolze Hand in Hand mit den Knaben durch das Dorf ging. Er freute sich, daß alle Leute zu den Fenstern heraussahen. und er sagte allen mit großer Selbstzufriedenheit: „Guten Tag.“
Wer wird ihm das verdenken in einem Lande, wo des Kindes Vorstellung schon von der Allmacht der Beamten fabelt, wo ihr Dasein und ihre Wirksamkeit in ein majestätisches Dunkel gehüllt ist, wo groß und klein jeden Landreiter und Schreiber demütig grüßt, weil man weiß, wie man in ihre Hand gegeben ist, wenn die Thüre des geheimen Gerichtes hinter einem in die Klinke fallt?
Der Schäpfleswirt grüßte Ivo ebenfalls sehr freundlich und rieb dabei nach seiner Gewohnheit die Hände, als ob es ihn friere. Ivo durfte nun in das „Herrenstüble“ an den durch einen Bretterverschlag abgesonderten Tisch, wo der Kameralverwalter und der Oberamtmann saßen.
Zwei Kaufleute aus Horb standen etwas zaghaft unter dem Eingange in die Herrenkammer. Endlich sagte der eine: „Nun, Herr Stadtrat, was wollen wir denn trinken?“
„Was Sie wollen, Herr Stadtrat,“ erwiderte der Angeredete.
Jetzt war’s heraus, die beiden Männer waren gestern zu dieser Würde gewählt worden; sie gehörten nun auch an den Herrentisch und nahmen mit tiefen Bücklingen Platz. Der Oberamtmann sah seinen Kollegen an und lächelte höhnisch.
Ivo war seelenvergnügt in dieser Gesellschaft, aber er sollte bald eine Züchtigung für seine Eitelkeit erfahren. Die Kinder erzählten, was sie von Ivos Mutter über die Wirksamkeit des Hufeisens gehört hatten. Der Oberamtmann, der sich gern in religiösen Dingen als freidenkend zeigte, weil das nicht gegen ein ausdrückliches Verbot im Gesetze war, sondern sogar zur Bildung gehörte, sagte: „Was dummes Zeug! Das ist ein hirnloser Aberglaube. Laßt euch von einem einfältigen Bauernweib nichts aufbinden; ich hab’s euch schon oft gesagt, es gibt keinen Teufel und keine Heiligen, oder Heilige, die will ich noch hingehen lassen.“
Ivo zitterte auf seinem Stuhle. Es schnitt ihm tief durch die Seele, wie man hier von seiner Mutter sprach. und noch dazu so gottlos. Er wünschte sich, daß nie solche Kameraden zu ihm gekommen wären. Gegen den Oberamtmann aber faßte er einen gründlichen Haß, er sah ihn grimmig an. Dieser schien nichts davon zu verspüren, er war sehr herablassend und freundlich gegen die zwei neuen Stadträte, welche, ganz entzückt von so viel Güte, den Mund nicht zubringen konnten.
Unserm Ivo ward es aber erst wieder leicht, als alle die „Herrenleute“ weggingen; und so bös war er, daß er sich damit freute, dem Oberamtmann keine gute Nacht gewünscht zu haben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1