11. Das Konvikt. - Allein, ohne Geleite von Familienangehörigen, zog Ivo nach seinem neuen Bestimmungsort; ...

11. Das Konvikt. - Allein, ohne Geleite von Familienangehörigen, zog Ivo nach seinem neuen Bestimmungsort; er war den Familienbeziehungen entwachsen, und selbständig ging er nun seinen Weg. Freundlich und hell lachte ihn die gute Stadt Tübingen an. Er träumte von den Wonnen, die sich ihm hier aufthun sollten, obschon er wohl wußte. daß noch immer Klosterzwang, wenngleich ein etwas milderer, seiner harrte.

Das Leben der freien Wissenschaft war nun unserm Ivo erschlossen. Er besuchte mehrere philosophische Vorlesungen außerhalb des Klosters; im tiefsten Grunde seiner Seele aber hatte alles eine theologische oder eigentlich eine katholische Beziehung. Die schläfrigen Vorträge alter Lehrer – die dürre Begriffsformeln aufpflanzten, an denen nirgends frisches Leben grünte – waren nicht geeignet, Ivo auf die Höhe der freien Wissenschaft zu heben, von wo aus die Theologie in ihrer abgeschiedenen und begrenzten Stellung sich erweist.


Fest schloß sich Ivo an seinen Klemens an, mit dem er nun doch eine Stunde im Freien ohne Aufsicht sich ergehen durfte. Auch andre Bekannte traf er hier; vorerst die Söhne des Oberamtmanns. Sie thaten jetzt sehr vornehm, ihr Vater war zum Regierungsrat befördert und hatte den Verdienstorden erhalten, er schrieb sich jetzt „von Rellings“; obgleich nun die Söhne dadurch noch nicht geadelt waren, hielten sie sich doch an den Adel und besonders an den anwesenden Sohn eines mediatisierten Fürsten.

Ivo begegnete ihnen eines Tages, als sie mit ihrer vornehmen Gesellschaft ausritten, er sprang auf sie zu und reichte ihnen die Hand; sie hatten aber Peitsche und Zügel zu halten, und er erhielt nur einen Finger. Mit herablassendem Zunicken sagte der Aelteste:

„Ah, jetzt auch hier? das ist schön,“ und ihren Pferden die Sporen gebend, ritten sie davon.

Ivo gedachte jenes Tages, da er einst stolzierend mit ihnen durch das Dorf gegangen war, er sah diese Behandlung als gerechte Strafe für seinen damaligen Hochmut an. Die Rellingse hatten jetzt Höhere gefunden, und sie thaten in deren Begleitung ebenso herablassend gegen ihn, wie er einst in ihrem Geleite den grüßenden Bauern gedankt hatte.

So erlebte Ivo das seltene Unglück, daß Standesunterschiede der Eltern auch in das Zwischenreich des Studentenlebens hineinragten; denn dieses ist gerade noch der einzige Punkt, auf welchem die gewöhnlichen Lebenstrennungen nicht vorhanden sind, wo die jungen Geister sich auf dem ungespaltenen Boden der Gleichheit bewegen.

Ein andrer Bekannter, den Ivo im Kloster traf, schloß sich mit besonderer Vorliebe an ihn an; dies war Konstantin. Er wußte alle Schliche und Auswege, wie man die Stunden schwänzen und dafür im Wirtshaus sitzen, wie man sich abends frei machen und einem flotten Burschenkommers beiwohnen konnte; er gab sich viele Mühe, den „krassen Fuchs“, seinen Landsmann Ivo, ebenfalls zu einem „forschen Studio“ herzurichten. So wenig ihm dies indes bei Ivo gelang, um so gelehriger war Klemens; sein abenteuerlicher Sinn fand in dem Studentenleben eine entsprechende Nahrung. Nachts, an zusammengeknüpften Tüchern aus dem Konvikte entfliehen, in den Kneipen singen und jubilieren, dann durch die Straßen randalieren und wieder mit doppelter Gefahr in das Kloster zurückkehren, das war eine Freude nach seinem Herzen. Die Lust des brausenden Jugendmutes reizte Klemens fast noch mehr, als die Freude, das Gesetz verhöhnen zu können.

Obgleich nun Ivo wiederholt seinen Klemens ermahnte, mehr an die Zukunft zu denken, ließ er sich doch selber einst dazu verleiten, in dunkler Nacht dem Klostergefängnis zu entrinnen. Sie waren nach Konstantins Ausdrucke „kreuzfidel“, setzten in der Kneipe bunte Mützen auf, und Ivo war der Lustigste von allen; aber gerade diesmal wurden sie bei der Heimkehr ertappt, und Ivo mußte mehrere Tage im Karzer sein Vergehen abbüßen.

Konstantin war hocherfreut, daß sein Landsmann nun die Studentenweihe erhalten habe, er sagte oft: „Ich werde kein Pfarrer, die Scher’ wird nicht geschliffen, die mir die Haare abschneidet; ich muß nur vorher ‘was abwarten.“ – Dann sagte er ein andermal: „Wenn ein recht Leben unter euch wär’, thäten wir uns alle verbinden, daß wir samt und sonders aus dem Kloster austreten, nachher soll einmal unser Herrgott allein die Welt regieren; er soll sehen, wie er fertig wird.“

„Was möchtest du denn werden?“ fragte Ivo, dem diese gottlosen Reden das Blut in die Wangen trieben.

„Ein Nordstetter Bauer, und weiter nichts.“

„Aufrichtig gestanden, das möcht’ ich auch, aber das ist einmal meine Bestimmung nicht.“

„Ich will mich noch bestimmen, gib nur acht,“ sagte Konstantin.

Viele Konviktoren bekamen auch von ihren Eltern Besuch, es waren meist Bauern, in ihre übliche Landestracht oft ärmlich gekleidet. Es that Ivo sehr wehe, daß die „Herren Studenten“ sich ihrer Eltern schämten und ungern mit ihnen ausgingen; als ihn daher einst seine Mutter besuchte, ging er stets Hand in Hand mit ihr durch die Stadt und verließ sie den ganzen Tag nicht.

Es war im Februar, da kam Konstantin zu Ivo auf die Stube, die den altherkömmlichen Beinamen „Zion“ hatte; er zog einen Strauß von gemachten Blumen mit roten Bändern daran aus der Tasche und sagte: „Guck, das hat mir das Hannele von der Hauffei geschickt, ich bin Rekrut, ich bin dies Jahr beim Zug und hab’ mich frei gespielt; juchhe! jetzt komm’ ich aus dem Kloster.“

„Wie so?“

„O du Böcklein weiß wie Schnee, ging einstens auf die Weide! Ich will dir sagen, wie das geht, aber auf dein Cerevis, daß du’s bei dir behältst. Wenn ich freiwillig aus dem Kloster treten thät’, müßt’ ich den Genuß, den ich darin gehabt, ‘rausbezahlen und müßt’ Soldat werden; vom letztern bin ich jetzt frei, und wenn ich mach’, daß sie mich aus der Wallachei da ‘nausmaßregeln, nachher brauch’ ich nichts zu bezahlen; dem Direktor, dem spendier’ ich noch ein besonderes Trinkgeld.“

Konstantin steckte den rotbebänderten Strauß auf seine Mütze und ging damit keck über den Klosterhof; er kam den ganzen Tag nicht mehr zurück und zog mit den andern Studenten, die ebenfalls dieses Jahr im Zuge waren, Arm in Arm über den Markt, und durch die ganze Stadt sang und trank und randalierte er. Erst spät abends kehrte er heim und wurde sogleich auf den sogenannten „Herrentritt“ zum Direktor beschieden.

Der Direktor war allein, Konstantin blieb an der Thüre, sich mit beiden Händen rückwärts an derselben festhaltend; da trat der Direktor mit grimmiger Rede auf ihn zu, Konstantin lachte, stolperte vorwärts und trat dem Direktor so hart auf die Füße, daß er laut aufschrie und noch härtere Reden vorbrachte; aber Konstantin rückte abermals vor und machte den Herrentritt zur buchstäblichen Wahrheit. Der arme Direktor nahm den einzigen Stuhl, der im Zimmer war, und hielt ihn vor sich, aber Konstantin drang stets schärfer auf ihn, jagte ihn von einer Seite zur andern und schrie wie die englischen Reiter, wenn sie ein Pferd im Kreise treiben: „Ha! hupp!“ und schnalzte mit der Zunge. Endlich gelang es dem grausam Verfolgten, die Klingel zu erreichen; der Famulus kam, und Konstantin wurde in das finsterste Karzer gesperrt.

Vier Wochen lang mußte er hier seinen schnöden Mutwillen abbüßen, und als ihn Ivo einmal besuchte, gab er ihm recht, daß es sündhaft war, den Unmut gegen das Gesetz an dem unschuldigen Vollstrecker desselben auszulassen. Ivo setzte hinzu:

„Es ist doppelt sündlich. Die Alten sind freilich die Kerkermeister, die uns bewachen, aber sie müssen ja auch grad wie wir im Gefängnis wohnen und haben’s nicht viel besser; der Schlüssel, der ihnen selber aufschließen könnt’, ist gar nicht einmal hier.“

„Ja,“ lachte Konstantin, „weißt, wie es als im Abzählen beim Spielen geheißen hat?

Das Engelland ist zugeschlossen,
Und der Schlüssel abgebrochen . . .

Da hab’ ich halt eine Riegelwand eingestoßen.“

Konstantin wurde mit Schimpf aus dem Kloster entlassen.

Als Ivo in der Ostervakanz nach Hause kam, reichte ihm Konstantin seine Hand, an der drei Finger verbunden waren; er hatte sich nämlich bei einer Rauferei zwischen den Nordstettern und Baisingern, von der Schloßbauernfeindschaft her, gewaltig ausgezeichnet, wobei ihm eine Flasche aus der Hand in Splitter zerschlagen wurde. Ueherhaupt gehörte bereits der Studentle – so hieß fortan Konstantin – zu den meisterlosesten (Meisterlos, so viel als unbändig, den niemand bemeistern kann.) Burschen im Dorfe. Er hatte sich bäuerisch gekleidet und gefiel sich darin, recht toll zu sein und jedes höhere Bildungselement, das noch an ihm haftete, abzustreifen. Mit seinen beiden Kameraden, des Hansjörgs Peter und des Metzgerles Florian, dem Sohne eines verkommenen Schlächters, führte er allerlei lose Streiche aus; die drei hielten fest zusammen und ließen keinen andern in ihre Kameradschaft. Höchst eigentümlich war das Verhältnis Konstantins zu Peter: liebender wacht ein Mutterauge nicht über das Wohl ihres kranken Kindes, nachgiebiger ist ein sanftes Weib nicht gegen ihren verstörten Gatten, als Konstantin gegen Peter war; ja, er unterdrückte sogar die Neigung zu des Jörgs Magdalene, weil er merkte, daß Peter sich um ihre Liebe bewarb, er verhalf ihm hierzu, so viel er konnte. Wenn Konstantin ganz wild war, so daß kein Mensch mit ihm auskommen konnte und er alles kurz und klein schlagen wollte, durfte Peter nur sagen: „thu’s mir zulieb, Konstantin, und gib Frieden,“ und er war zahm und folgsam wie ein Lamm.

Ivo hatte viele Mühe, sich von Konstantin loszumachen, aber es gelang ihm doch. Er war still und ernst, selbst bei den lustigsten Reden und Späßen Konstantins verzog er keine Miene, und dieser ließ den „Betbruder“ endlich gewähren.

Als Ivo wieder in das Kloster zurückgekehrt war, traf er seinen Freund Klemens in einer großen Umwandlung.

Klemens war als junger, lebenskecker Student in nähere Beziehung zu der Tochter seines Amtmanns gekommen, sein ganzes Wesen loderte nun in einer Flamme für sie. Er wollte aus dem Kloster austreten und die Rechte studieren, er verhöhnte das geistliche Amt mit den bittersten Reden, er verhöhnte sich selber und sein Geschick, das ihn arm und hilflos an einen verhaßten Beruf gekettet; mit dem ganzen Ungestüm seines Geistes rüttelte er stets an den Fesseln, die ihn einzwängten. Er sah überall nichts als Sklaverei; bleichen Antlitzes und oft zähneknirschend ging er einher. Ivo bot die ganze Macht seiner Liebe auf, um seinen Freund zu retten; aber bald erkannte er, daß hier eine höhere Macht walte, und er trauerte mit seinem armen Freunde, obgleich er seinen wilden Ungestüm nicht recht fassen konnte.

Klemens saß in den Hörsälen, und während die andern mit eifriger Hast die flüchtigen Worte des Lehrers nachschrieben, malte er nur bisweilen den Namen Kornelie und verkritzelte ihn dann wieder zur Unkenntlichkeit.

Der Funke der Unzufriedenheit, der in Ivo geruht hatte, drohte zur Flamme zu werden, aber noch hielten ihn die festen Mauern des Gehorsams, die gewohnte Unterordnung unter das Schicksal, in stiller Glut.

Eine Verschiedenheit im Wesen der beiden Freunde zeigte sich auch darin, daß Klemens in seinem Mißmute stets durch Zerstreuungen, lärmende Gesellschaften und dergleichen Selbstvergessenheit suchte, während Ivo in seinen Verstimmungen sich immer mehr in sich versenkte, gehalten und leise seinen Schmerz aufzuklären und in Selbsterkenntnis zu lösen trachtete.

Dies gelang ihm aber nur schwer, und eine tiefe Verstimmung bedrückte seine Seele; auch er liebte das Leben weniger als sonst, es war ihm eine Bürde, er sagte oft, daß er gerne sterben oder ewig schlafen möchte.

„Das Beste auf der Welt,“ sagte er einmal nachts zu seinem neben ihm liegenden Klemens, „ist doch ein Bett. Ein Vogel im Käfig, der ist übel dran, wenn er auch schläft, er ruht dabei doch nicht recht aus: er sitzt auf dem Stängele und muß sich noch immer mit seinen Krallen festhalten; das ist doch immer eine Thätigkeit, das ist keine vollkommene Ruhe. So auch der Mensch, wenn er sitzt, ruht nicht recht aus, er muß sich dabei noch immer halten; erst wenn man sich niederlegt, alle Glieder sich auflösen läßt und gar keine Muskel mehr anspannt, erst das ist die wahre Ruhe. Darum ist es dem Vogel im Nest und dem Menschen im Bett so wohl. Plato hat den Menschen einen federlosen Zweifüßler geheißen. Was schadet’s? er steckt sich in fremde Federn. Der Nazi hat mir einmal gesagt: wenn man einen Raubvogel zahm machen will, hängt man ihn in eine Mühle, damit er nicht schlafen kann, und da wird er so geschlacht wie eine Taube; das ist gerade wie von dem Tyrannen, wo wir einmal in Ehingen gelesen haben, der seine Gefangenen alle Stund’ hat wecken lassen. Wenn’s ans Plagen geht, da sind die Menschen gar erfinderisch; mit dem Erfreuen sind sie nicht so bei der Hand. Das größte Wunder sind mir immer noch die Säulenheiligen, die allfort gestanden haben. Das ist die größte Selbstüberwindung. Denk nur einmal, wenn man so sein Leben lang immer dastehen müßt’, daß einem die Füße ganz pelzig werden. Ahdele (Verkleinerungsform von Ah.! ich dank’ unserm Herrgott für das Bett; ein gut’s Rühle geht über ein gut’s Brühle, sagt man bei uns daheim.“

So philosophierte Ivo, Klemens aber gab ihm keine Antwort und seufzte nur einmal leise „Kornelie“. Ivo schlief ruhig ein.

Der Weltgeist, der Geist der Natur, wenn er allnächtlich auf die Klöster herabsah, verhüllte klagend sein Antlitz. Klemens hielt sich gewaltsam wach, und als es elf Uhr geschlagen, schlich er leise in den Klosterhof. Es war eine linde Sommernacht, es hatte gewittert, zerrissene Wolken ließen das Licht des Vollmondes bald hell erglänzen, bald überdeckten sie es mit ihrem Schatten. Klemens kniete nieder, und die Hände ringend rief er zitternd: „Teufel! Beelzebub! du Herrscher der Hölle, erscheine mir, gib mir von deinen Schätzen. und meine Seele sei dein, erscheine, erscheine!“

Klemens horchte mit angehaltenem Atem, alles war still, nichts regte sich, nur von ferne vernahm man das Bellen eines Hundes. In sich zusammengekauert, lag Klemens lange so, und als noch immer nichts erschien, kehrte er fröstelnd in sein Bett zurück.

Andern Tages saß Klemens blaß und abgehärmt an seinem Pulte, das Buch war vor ihm aufgeschlagen, aber er las nicht. Wie Schlangenwindungen krochen die schwarzen Zeichen vor seinem Auge ineinander; da brachte ihm der Briefträger einen Brief. Er hatte ihn kaum überlesen, als er ohnmächtig vom Stuhl herabsank, seiner krampfhaft geballten Hand entfiel ein lithographiertes Billet, darauf stand: „Kornelie Müller und Hermann Adam, Verlobte.“ Alles eilte schnell herbei, Klemens wurde zu Bette gebracht. Ivo harrte zitternd und weinend, bis der Atem seines Freundes wieder zurückkehrte; nun aber verfiel Klemens in ein heftiges Fieber, seine Zähne klapperten, und er zuckte stets zusammen, daß man ihn halten mußte. Drei Tage lang lag der Unglückliche im Delirium, er sprach bisweilen von dem Teufel und bellte wie ein Hund; nur einmal sagte er, sanft die Augen zulegend: „Gute Nacht, Kornelie.“ Ivo durchlas den an Klemens gerichteten Brief, er hatte dieses Recht stets gehabt, und nun fand er einigermaßen den Zusammenhang. Der Brief enthielt die Nachricht, daß ein reicher Oheim von Klemens’ Mutter gestorben sei und sie zur Gesamterbin eingesetzt habe; die freudigsten Hoffnungen für die Zukunft waren hieran geknüpft. Ivo wich nicht von dem Bette seines Freundes, und wenn er fort mußte, löste ihn meist Bartel ab.

Das Krankenlager des Klemens war ein tief schmerzliches. Meist düsterte er so hin mit offenen Augen, aber, wie es schien, ohne etwas zu sehen. Ivo mußte die Hand auf seine brennend heiße Stirne legen, und dann sagte er manchmal, die Augen schließend: „Ah!“ Es war wie wenn bei der Berührung der geweihten Freundeshand böse Martergeister aus der engen Behausung des Gehirnes auszögen. Hin und wieder brauste auch Klemens in gewaltigem Ingrimm auf und verfluchte die ganze Welt und ihre Lieblosigkeit; wenn ihn dann Ivo zu begütigen suchte, kehrte sich der Zorn des Gereizten gerade gegen ihn, mit krampfhaft zitternden Händen um sich schlagend, rief er: „O du herzloser Wicht, gelt, mich kannst du quälen?“

Mit frommer Duldung, Thränen in den Augen, nahm Ivo diese rauhe Behandlung hin; ja, er empfand bisweilen sogar eine gewisse innere Freude und Genugtuung darin, für seinen Freund auch dieses über sich nehmen zu dürfen.

Als Klemens am vierten Tage erwachte, war es ihm, als ob sich vor ihm in der Unendlichkeit, aber doch wieder ganz nahe, so daß er es greifen konnte, in der blauen Luft eine Nische aufthäte, die von lauter Licht erfüllt war; um ihn und aus ihm rief es: „Klemens!“ Er hatte sich wieder gefunden. Noch oft erzählte er, daß es ihm in diesem Augenblicke war, als ob Gott in seiner Strahlenglorie ihn erhellte und ihn zurückführte zu ihm und zu sich selber. Als er nun endlich wieder zu ruhiger Besinnung gelangt war, sagte er, die Hände hoch erhebend: „Mich hungert nach Gottes Tisch.“ Er verlangte nach dem Beichtiger und sagte diesem alles: daß er den Teufel beschworen, daß dieser ihm geholfen und ihn zu Grunde gerichtet habe. Er bat zerknirscht um eine schwere Buße und Absolution. Der Beichtiger auferlegte ihm eine leichte Buße und bedeutete ihn eindringlich, daß ihm das Vergangene dazu dienen müsse, alle weltlichen Gelüste von sich abzulösen, wie Gott ihn wunderbar gerettet, und wie er fortan nur ihm angehören müsse.

Wer in das Antlitz des Klemens hätte schauen können, als er mit gläubig geschlossenen Augen dalag, und der Beichtiger, den Segen über ihn aussprechend, als Sinnbild der Versöhnung das Zeichen des Kreuzes auf dem Angesichte des Kranken vollführte, wer die Spannung der Muskeln und das Pulsieren der Wangen hätte beobachten können, der hätte es Klemens nachfühlen mögen, welch eine heilige Wandlung mit ihm vorging; es war ihm wirklich und wahrhaft, als ob die Hand Gottes ihn berührte, leicht und lind all die Schwere aus ihm hervorleitete und neuer Lebenshauch ihn durchströmte.

Der wiedererstandene Klemens war ein ganz andrer. Er schlich leise umher, sich oft umschauend, als fürchte er etwas, dann stand er wieder plötzlich stille. Ivo vermochte es nicht, ihn aufzurichten, denn selbst ihm hatte Klemens den ganzen Verlauf seiner Sündhaftigkeit nicht zu bekennen gewagt. –

Wiederum nach der Vakanz war Klemens ganz verwandelt. Er sah wohl blühend aus wie zuvor, aber aus seinem Auge leuchteten geheimnisvolle Flammen.

Einst zog er im Burgholz, in dem nahen Walde, seinen Freund an die Brust und sagte: „Ivo, danke Gott mit mir, er hat mir die Gnade wiedergegeben. Unsre Schuld ist’s, wenn der Herr nicht Wunder an uns thut, weil wir uns nicht reinigen zu Gefäßen seines unerforschlichen Willens. Ich habe gelobt, Missionär zu werden und den Wilden das Heil der Welt zu verkünden. Ich habe sie wiedergesehen, die meine Seele dem Herrn gestohlen hatte, aber mitten in ihrem Anblicke verschwand die Welt vor meinen Augen, der Allbarmherzige legte seine Hand auf mich und rettete mich. Er zog mich hinauf auf den Berg. Dort saß ich, bis die Sonne verglühte und die Nacht hereinbrach. Alles umher war still und tot. Da hör’ ich plötzlich jenseits im Walde die Stimme eines Singenden; das waren nicht irdische Töne:

›Wohl nach dem heißen Afrika.‹

Ich kniete nieder, und der Herr vernahm mein Gelöbnis. Das Herz war mir aus dem Leibe genommen, ich hielt es in der Hand. Ich küßte den Fels unter mir und den Baum neben mir, und ich habe den Geist Gottes aus ihnen in mich eingesogen; ich hörte die Bäume schauern und die Felsen in verhaltenem Harme klagen, sie weinen und trauern und harren des Tages, da das Kreuz geworden ist der Lebensbaum, aufgerichtet zwischen Himmel und Erde, da der HERR HERR wieder erscheint und die Welt erlöst ist, da werden die Felsen freudig hüpfen und die Ströme freudig jauchzen.“

Klemens kniete nieder und fuhr dann fort: „Herr! Herr! begnade mich! lege deine Worte auf meine Zunge, würdige mich der seraphischen Liebe, gieße deine Gnade aus über meinen Herzbruder, zerbrich ihn, daß er mitfühle die Schwerter, die durch deine Brust gegangen und die das Herz der Welt zerschneiden. Ich danke dir, o Herr! daß du mich mit der heiligen Armut vermählt; ja, ich will mich ganz weihen der glückseligen Thorheit und will mich schmähen und martern lassen, bis die Hütte meines Leibes wieder abgebrochen wird, bis ich die Verwesung dieses Lebens vollendet habe. Herr! Du hast mich reich gemacht, damit ich werde der Armen einer. Selig sind die Armen, selig sind die Kranken!“

Klemens küßte die Füße seines Freundes, lag dann noch eine Weile, das Haupt auf den Boden gedrückt, dann stand er auf, und die beiden gingen still heimwärts.

In der Seele Ivos bebte namenlose Furcht; wohl fühlte er die Macht des Opfermutes, die über Klemens gekommen war, aber er sah auch ihre schrecklichen Verirrungen – er fühlte ein Schwert durch sein Herz fahren.

Willig folgte er seinem Freunde in die Nachtgebiete menschlichen Lebens und Wissens; es war ihm, als müsse er ihn stets begleiten, um zur Hilfe bereit zu sein.

Das Leben der Heiligen war es, was sie vor allem durchforschten. Ivo sagte einmal: „Ich freue mich der Erkenntnis, daß die Offenbarung fort und fort durch die Menschheit geht; Heilige erstehen, denen sich der Herr geoffenbart und ihnen die Wunderkraft verliehen, und wer sich recht heiligt, dem kann es durch die Gnade werden. Jetzt hat wiederum jede Stadt und jedes Land seinen wahren Heiligen, wie einst die Griechen die falschen Götter. Gott ist überall leibhaftig nahe.“

Klemens küßte, ohne zu antworten, die Stirn Ivos. Nach einer Weile aber sprach er mit feuriger Zunge von den Helden, die mit leerer Hand die Welt erobert und bewältigt.

Das Leben des heiligen Franz von Assisi nahmen sie mit besonderer Innigkeit in sich auf, seine Bekehrung vom brausenden Weltleben und die Art, wie er zuerst einen Aussätzigen durch seinen Kuß geheilt, zog Klemens besonders an. Ivo aber erquickte sich an der kindlichen Einheit des Heiligen mit der Natur und seiner Wundermacht über sie: wie er einst den Vögeln gepredigt, daß sie das Lob Gottes singen sollen, wie sie stille horchten, bis er das Zeichen des Kreuzes über sie gemacht und sie gesegnet, und sie dann ein schmetternd Lied erschallen ließen; wie er mit einer Nachtigall einen Wett- und Wechselgesang zum Lobe Gottes bis zum Abend fortsang, wie er dann ermüdet war, so daß der Vogel auf seine Hand geflogen kam, damit er ihn segne. Bei der Erzählung von dem Lamme, das der Heilige von der Schlachtbank gerettet und das jedesmal im Chore beim Gesange niederkniete, dachte Ivo mit Freude an sein Muckele.

Als sie lasen, daß der Heilige so hoch begnadigt war, die Wundenmale Christi, die durchstochenen Hände und Füße und die Lanzenwunde im Herzen an seinem eigenen Leibe auf wunderbare Weise zu empfangen, fing Klemens laut zu weinen an.

Er wiederholte seinen Vorsatz, Franziskanermönch zu werden, und forderte auch Ivo zu gleichem auf, damit sie nach der Ordensregel zu zwei durch alle Welt wandeln, Qualen aufsuchen, arm und hilflos nur von Almosen leben.

Mit unersättlicher Gier versenkte sich dann auch Klemens in die Tiefen der Mystik und riß seinen Freund mit sich fort.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1