Wenige werden erraten, wie der obenstehende Name eigentlich im Kalender heißt, ...

Nur das eine steht noch fest und wird es wohl immer bleiben, im ganzen Dorfe heißt das große Haus noch immer „des Schloßbauern Haus“; denn der alte Zahn, der Vater Vefeles, wurde der Schloßbauer genannt. Er war nicht aus dem Dorfe gebürtig, sondern aus dem zwei Stunden entfernten Baisingen herübergezogen. Baisingen gehört zu dem kornreichen sogenannten „Strohgäu“, und die Baisinger werden spottweise „die Strohgänger“ genannt, weil im ganzen Dorfe fast alle Gassen mit Stroh bestreut sind. Dies dient sowohl dazu, um der Mühe der Straßenreinigung überhoben zu sein, als auch, um auf diese Weise mit dem zertretenen Stroh neuen Dünger zu gewinnen; denn die Baisinger haben so viele Aecker, daß sie dessen nicht genug habhaft werden können. Dreißig Jahre wohnte der Schloßbauer im Dorfe, aber so oft er einen Streit hatte, wurde er der Baisinger Strohgänger und seine Frau die krumme Baisingerin geschimpft. Die Frau Zahn war aber keineswegs krumm, sie war noch in ihrem Alter eine schöne, schlanke Frau mit gerader Haltung; nur war ihr linker Fuß etwas zu kurz, und daher kam’s, daß sie beim Gehen hinkte. Dieser Körperfehler war aber auch mit die Ursache ihres ungewöhnlichen Reichtums. Ihr Vater, Staufer mit Namen, sagte einmal öffentlich im Wirtshause, daß der kurze Fuß seiner Tochter nichts schade, er stelle als Heiratsgut ein gestrichenes Simri Kronenthaler darunter, und da wolle er sehen, ob das nicht gerade mache.

Der alte Staufer hielt Wort, und als der Zahn dessen Tochter heiratete, ließ er ihn ein Simri mit Kronenthalern füllen und so viel hineinthun, als hineinging; drauf strich er mit dem Streichbengel darüber und sagte. „So, was drin ist, ist dein!“ Seine Tochter mußte zum Spaß ihren linken Fuß darauf stellen, und das mit dem Gelde gefüllte Kornmaß prangte als schöne Schüssel auf dem Hochzeitstische.


Der Zahn kaufte sich bald darauf mit dem Gelde das gräflich Schleitheimische Schloßgut, baute das schöne große Haus, und darum hieß er der Schloßbauer. Von neun Kindern, die ihm geboren wurden, blieben fünf am Leben, drei Söhne und zwei Töchter. Das jüngste Kind war Vefele. Es war so schön und zart gebaut, daß man es, halb spöttisch, halb anerkennend, das „Fräle“ hieß. Halb aus Mitleid, halb aus Schadenfreude bemerkte fast jeder, wenn von ihm die Rede war, es sei eben doch eine „Gezeichnete“, denn es hatte den kurzen Fuß von der Mutter geerbt. Mit dem Ausdruck „Gezeichnet“ verbindet sich ein schlimmer Nebenbegriff; man nennt die Roten, Buckligen, Einäugigen, Hinkenden so und will damit sagen, daß Gott sie damit gezeichnet habe, weil sie gewöhnlich gefährliche und ungutmütige Menschen seien. Weil man nun solche Unglückliche spöttisch und argwöhnisch behandelt, werden sie meist schalkhaft, bitter und hinterlistig; das anfänglich ungerechte Vorurteil ruft die Folgen hervor, die man dann als Bestätigung für das Vorurteil annimmt.

Das Vefele that zwar niemand etwas zuleide, ja es war gut und freundlich gegen alle Menschen; aber der Haß des ganzen Dorfes gegen den Schloßbauer wurde auch auf alle seine Kinder ausgedehnt. Der Schloßbauer prozessierte schon seit achtzehn Jahren mit der ganzen Gemeinde. Er machte auf die patronatsherrlichen Rechte Anspruch, er bezog den Rauchhafer, Hühnerhafer, Weghafer, und wie alle die grundherrlichen Abgaben heißen; auch hatte er fünfzig Stimmen bei der Schultheißenwahl. Nur mit dem tiefsten Aerger, mit Schelten und Schimpfen entrichteten die Bauern diese ihre gewohnten Abgaben.

So sind die Menschen! Einem Grafen, Baron oder Freiherrn hätten sie ohne Widerrede alles entrichtet; aber jetzt verfluchten sie jedes Körnchen, das sie an einen ihresgleichen abgeben mußten. Sie wußten sich nicht anders zu rächen, als daß sie dem Schloßbauern nachts seine Kornfelder niedermähten, wenn das Korn noch grün war. Das gereichte ihnen aber doppelt zum Nachteil, denn der Schloßbauer brachte es durch Klagen beim Syndikatsamte dahin, daß der zugefügte Schaden – da die Thäter nicht entdeckt wurden – auf den Gemeindeschaden gestellt und ihm aus der Gemeindekasse vergütet wurde; auch hielt er sich fortan einen eigenen Flurschützen, den das Dorf zur Hälfte besolden mußte.

Die Reibereien zwischen den Dorfbauern und dem Schloßbauer dauerten aber noch immer fort.

Da ließ sich ein neuer Advokat in dem Städtchen Sulz nieder, und nun begann der Prozeß der Gemeinde mit dem Schloßbauern, bei dem so viel Papier verschrieben wurde, daß man einen ganzen Morgen Acker damit zudecken konnte.

Das Dorf gehörte damals noch, wie ein großer Teil des Schwarzwaldes, zu Vorderösterreich, der Landvogt hatte seinen Sitz in Rottenburg, das Appellationsgericht in Freiburg im Breisgau; ein größerer Prozeß konnte aber noch weiter getrieben werden. Bei der entfernten und verwickelten obern Gerichtsbarkeit war es daher ein Leichtes, den Prozeß bis zum jüngsten Gericht in gehöriger Verwirrung zu erhalten.

Der Streit zwischen dem Schloßbauern und seinen Ortsbewohnern gestaltete sich mit der Zeit zur Feindseligkeit zwischen den Baisingern und Nordstettern. Die Baisinger foppten und neckten die Nordstetter auf Märkten oder in der Stadt, wo sie mit denselben zusammenkamen; nannten sie spottweise ihre Unterthanen und Grundholden, weil ein Baisinger Bauer über sie herrschte. Die Nordstetter, unter dem Namen der Spitzmäuligen oder der Spöttler bekannt, blieben keine Antwort schuldig. Ein Wort gab das andre, man lachte, man scherzte, immer noch als „gut Freund“, aber die Anzüglichkeiten wurden immer derber, und ehe man sich’s versah, war der Krieg auf irgend einer Seite ausgebrochen, und es setzte die ergiebigsten Prügel. Das war zum erstenmal auf dem Ergenzinger Markt, als dies geschah, und nun konnten Nordstetter und Baisinger nie mehr beisammen sein, ohne sich zu prügeln. Stundenweit gingen namentlich die jungen Burschen beider Orte zu einem Tanze oder zu einer Hochzeit, tranken und tanzten zuerst ruhig miteinander, und am Ende brach das Hauptfest, eine tüchtige Prügelei, los.

Der Schloßbauer lebte aber mitten im Dorfe wie auf einer Einöde. Kein Mensch bot ihm die Zeit, kein Mensch besuchte ihn. Wenn er ins Wirtshaus kam, war alles plötzlich still. Es war ihm immer, als ob sie gerade von ihm gesprochen hätten. Er legte seinen mit gutem Tabak gefüllten Beutel neben sich auf den Tisch, aber eher hätte einer seinen Mund auf einen Stein aufgeschlagen, ehe er den Schloßbauer um eine Pfeife Tabak gebeten hätte. Anfangs gab er sich Mühe, um die wie verabredete Feindseligkeit aller durch Freundlichkeit und Güte zu zerstreuen, denn er war von Natur ein guter und nur etwas strenger Mann; als er aber sah, daß es nichts fruchtete, verachtete er alle insgesamt, scherte sich wenig mehr um sie und setzte nun erst recht seinen Kopf darauf, sein Recht zu behaupten. Er schloß sich nun selber von allen ab, nahm Taglöhner ans Ahldorf zu seinen Feldarbeiten, und um auch nicht einmal Gott mit seinen Dorfgenossen zu dienen, ging er Sonntagsmorgens jedesmal nach Horb in die Kirche. Er sah stattlich aus, wenn er so dahinschritt. Er schien kleiner, als er war, denn er war gedrungen und breitschulterig; er hatte seinen dreieckigen Hut etwas mutig nach der linken Seite zu gesetzt und den breiten Teil nach vorn gekehrt. Durch den Schatten, der dadurch auf sein Antlitz fiel, ward dieses noch finsterer und ernster, als es eigentlich war. Wenn er dann so fest einherschritt, klingelten die breiten, ganz nahe aneinander gereihten silbernen Knöpfe an seinem blauen Rocke ohne Kragen und die runden, silbernen Knöpfe an seiner roten Weste hell wie ein Glockenspiel aufeinander.

Die Mutter und ihre Kinder, namentlich aber ihre beiden Töchter Agathle und Vefele, litten am meisten bei dieser Trennung von der Gemeinde. Sie saßen oft bei einander und klagten über ihr Los und weinten, während der Vater in der Stadt mit seinem Advokaten beim Schoppen saß und erst spät heimkehrte. So weit war der Haß gegangen, daß selbst die Armen, aus Furcht vor den andern, keine Gabe aus des Schloßbauern Hause nehmen durften. In doppelter Heimlichkeit, sowohl vor dem Vater als vor den andern Dorfbewohnern, übten die Mutter und ihre Töchter ihre fromme Wohlthätigkeit; gleich als ob es Diebstahl wäre, trugen sie Kartoffeln, Korn und Mehl in den Schloßgarten, wo die Armen ihrer warteten.

Die Mutter hielt alles das nicht mehr aus; sie ging zu ihrem Vater und klagte ihm ihre Not. Der alte Staufer war ein besonnener, ruhiger Mann und wollte sichern Weges gehen. Er schickte daher zuerst seinen Hofjuden Marem nach Nordstetten, damit er insgeheim auskundschafte, wer denn eigentlich die Rädelsführer bei dem Prozesse seien, und ob sich nicht ein Vergleich machen ließe. Der Marem war aber gescheiter als der alte Staufer, trotzdem dieser schon fünfzehn Jahre Schultheiß war. Er ließ durch einen Bekannten in Nordstetten das Gerücht aussprengen, der Schloßbauer habe es dahin gebracht, daß eine kaiserliche Kommission auf Unrechtskosten nach Nordstetten kommen, die Sache untersuchen und dort bleiben werde, bis sie entschieden sei. Dann kam er selber und ging unmittelbar zu den Hauptleuten, sagte ihnen, daß er gegen eine bestimmte Vergütung einen Vergleich zustande bringen wolle, obgleich es sehr hart halten werde; er sicherte sich so auf beiden Seiten einen Vorteil.

Was helfen aber alle noch so feinen Finten bei Menschen, die bärenmäßig dreinschlagen und alle Berechnungen und Kunststücke zu Schanden machen?

Der alte Staufer kam, mit ihm Marem. Sie gingen in Begleitung des Schloßbauern nach dem Wirtshause, wo sich die Wortführer versammelt hatten.

„Guten Tag, Herr Schultheiß,“ sagten die Versammelten zu dem Ankommenden; sie thaten, als ob sonst niemand als der Gegrüßte eingetreten wäre. Der alte Staufer fuhr zusammen, ließ aber doch alsbald zwei Flaschen Wein bringen, schenkte ein, und sein Glas ergreifend, stieß er an die andern Gläser an und trank den Versammelten zu. Da sagte der Schlosser Ludwig: „Wir nehmend für genossen an, wir trinken aber nicht. Allen Respekt vor Euch, Herr Schultheiß, aber bei uns ist der Brauch, daß man erst nach dem Handel den Weinkauf trinkt. Wie’s die reichen Herrenbauern in Baisingen machen, das wissen wir nicht.“

Der Schultheiß setzte, ohne zu trinken, sein Glas wieder ab und seufzte tief. Er begann darauf mit ziemlicher Ruhe die Verhandlung und setzte auseinander, daß man sein sauer erworbenes Gut nicht an „die Blutsauger, die Advokaten“, wegwerfen solle, daß jeder Prozeß mit aus der Schüssel esse und das Fett oben ‘runter schöpfe, und schloß damit, daß ein Schritt hüben und ein Schritt drüben zum Frieden führe.

Es wurde nun von beiden Seiten eine weit auseinander liegende Vergleichssumme angesetzt. Der Marem gab sich alle Mühe, sie einander näher zu bringen. Er nahm bald diesen, bald jenen beiseite, flüsterte ihm etwas ins Ohr; er nahm endlich sogar, trotz beiderseitiger Einrede, eine Vergleichssumme aus seine eigene Verantwortung; er zerrte an allen umher und suchte die Hände der beiden Parteien mit Gewalt ineinander zu legen.

Da sagte endlich der Schloßbauer: „Nein, eh’ ich so einen Bettel nehm’, schenk’ ich’s euch lieber ganz, ihr Hungerleider.“

„Was du!“ sagte darauf der Schlosser Ludwig, „mit dir schwätzt man ja gar nicht, du Strohgänger.“

„Gebt nur acht,“ erwiderte der Schloßbauer, „ihr werdet keine Strohgänger. Ich will euch schon betten, daß ihr kein Stroh mehr unterm Kopf habt zum Draufliegen. Und wenn ich und Weib und Kind drüber zu Grund gehen soll, und wenn mir kein Handbreit Ackers übrig bleibt, keinen roten Heller lass’ ich euch jetzt mehr nach; ich muß mein Recht haben, und wenn ich an den Kaiser selber gehen muß. Wartet nur!“ Er stand zähneknirschend auf; der Vergleich war durch keinerlei Bemühungen mehr zustande zu bringen. Der Schloßbauer fing sogar zuletzt noch mit seinem Schwäher Händel an und ging fort, indem er die Thüre laut hinter sich zuschlug.

Zu Hause weinte die Mutter mit ihren Töchtern so laut, als ob jemand gestorben wäre, so daß alle Vorübergehenden eine Weile vor dem Hause stehen blieben; aber alle Bitten der Mutter und der Kinder halfen nichts, der Schloßbauer blieb bei seinem Vorsatze. Der alte Staufer reiste wieder nach Hause, ohne nochmals zu seiner Tochter zu kommen, er ließ ihr nur durch den Marem Ade sagen.

Der alte Zustand dauerte fort, der Schloßbauer und seine Frau lebten oft in Unfrieden, aber das Vefele wußte immer alles gut zu machen. Der Vater hatte eine gewisse heilige Ehrfurcht vor dem Kinde, denn „das Kind“ hieß Vefele im ganzen Hause. Es hatte ein so engelmildes Antlitz und eine so bezaubernde Stimme, es durfte nur des Vaters Hand nehmen, ihn mit den treuen, blauen Augen anschauen und sagen: „Aber, lieber Aetti“, und er war still und gut; der starke, trotzige Mann ließ sich von seinem Kinde besänftigen, wie wenn es ein höheres Wesen wäre; nie redete er ein hartes Wort, wenn das Vefele zugegen war, er that ihm alles, was es wollte, zu Gefallen, nur nicht die Versöhnung mit seinen Feinden.

In dieser letzteren Beziehung war der Schloßbauer, trotzdem er nach außen so fest und bestimmt auftrat, doch innerlich in einem gewaltigen Zwiespalte. Er hätte gern seinen Feinden gutwillig die Hand gereicht, aber er schämte sich, so schwach zu sein, wie er es nannte, und er glaubte auch, er habe es schon zu weit kommen lassen, seine Ehre hänge davon ab, es durchzusetzen. Dann, wenn er an die Ehre dachte, erhob sich wieder sein Stolz, und er hielt sich für etwas Besseres als alle die andern Bauern. In diesem Gedanken bestärkten ihn die schmarotzenden Schreiber in dem nahen Städtchen und der Kronenwirt; sie redeten ihm viel vor von seinem ungewöhnlichen Verstande und von seinem Baronenvermögen; er glaubte es zwar nicht, es that ihm aber doch wohl, es zu hören. Nach und nach, als er merkte, daß die Stadtleute wirklich nicht gescheiter waren als er, hielt er sich in der That für besser als alle andern Bauern. Es war ihm zwar nie recht wohl in der Gesellschaft dieser Leute, die sich gern einen guten Schoppen von ihm bezahlen ließen; aber, dachte er wieder, man muß doch Gesellschaft haben, und es ist doch besser als Bauerngeschwätz. Ohne daß er sich’s recht gestand, ging er gern in diese Gesellschaft, weil sie auf alle Art seiner Eitelkeit schmeichelte.

So geht’s. Der Schloßbauer lebte in Unfrieden mit sich, mit seinem Weibe, mit seinen Mitbürgern, mit allen, bloß weil er sich nicht demütigen wollte, weil er nichts von den alten Herrenrechten, oder besser Unrechten, nachlassen wollte, während er doch sonst noch vollauf zu leben hatte; sein Herz und seine Gedanken kamen immer mehr in Verwirrung, und er richtete sich und die Seinigen zu Grunde, während es ihnen doch hätte so wohl sein können.

Nach und nach kamen in den Winterabenden einige alte Bauern, die zu Hause keinen warmen Ofen hatten, oder die ihren scheltenden Weibern davon gegangen waren, zu dem Schloßbauern; er aber war mürrisch und barsch gegen sie, es verdroß ihn, daß nur diese und nicht auch die Angeseheneren kamen. Die Besuchenden blieben wieder weg.

Die Mutter war mit beiden Töchtern oft mehrere Tage bei ihrem Vater in Baisingen, der Schloßbauer aber schmollte mit seinem Schwäher. Er sah ihn nicht mehr, bis er auf der Bahre lag.

Das Leben im Dorfe ward immer unangenehmer. Es ist ein traurig Ding, wenn man ins Feld geht und niemand bietet einem die Zeit. Der Schloßbauer unterhielt sich dann immer mit seinem großen Hunde, dem Sultan: das ist und bleibt doch immer eine traurige Unterhaltung für einen Menschen.

Die schweren Zeiten, die durch Napoleon über Europa kamen, verschonten auch nicht das einsamste Bauernhaus im Schwarzwald. Straßburg war nicht weit, und Leute, die besonders gute Ohren hatten, wollten auf der Hochbur die in Straßburg abgefeuerten Siegesschüsse gehört haben; das sollte kommende große Not anzeigen. Freilich war damals leicht prophezeien, daß alles drunter und drüber gehen werde.

Zum Feldzug nach Rußland wurde mit aller Macht gerüstet. Auch der Philipp und der Kaspar, die beiden ältesten Söhne des Schloßbauern, mußten mit in den Krieg; ihr Vater wäre lieber selber mitgezogen, denn ihm war alles verleidet, er sah seine beiden Söhne mit einem Stumpfsinn und einer Gleichgültigkeit scheiden, wie wenn einer sagt: Mir ist alles eins, komm, was da wolle.

Der Philipp und der Kaspar sind wahrscheinlich im russischen Schnee begraben, man hat nie mehr etwas von ihnen gehört; nur das eine hat der General Hügel oft erzählt: Auf dem Rückzuge von Moskau aus sah er einen Soldaten, der etwas abseits ging und dem die Kälte oder die Not und das Heimweh, oder vielleicht alles zusammen, die Thränen stromweise über die Backen herunterrinnen machte. Der General ritt auf ihn zu und fragte ihn freundlich: „Woher?“

„I bin des Schloßbauern Bua vom Schwarzwald do obe ra!“ erwiderte der Soldat, nach der Seite zu deutend, als ob seines Vaters Haus nur einen Büchsenschuß weit dort um die Ecke läge. Der General mußte über die Antwort des Soldaten, der in Gedanken so nahe zu Hause war, so herzlich lachen, daß auch ihm Thränen über die Backen liefen, die aber in seinem langen Schnurrbarte als Eistropfen hängen blieben.

Das ist alles, was die Geschichte über das Leben und Ende der beiden Söhne des Schloßbauern berichtet.

Unterdessen war zu Hause Freud und Leid gemischt. Wenn ein Unglück oder ein trauriger Zustand lange dauert, richtet man sich zwischen Thür und Angel wohnlich ein; ein Mensch, wenn er gesund ist, kann nicht lange dem Schmerze nachhängen, die alte Lust des Lebens steigt bald wieder in ihm auf. So wurden zu Hause Kirchweihen und Hochzeiten gefeiert, während draußen in fernen Landen Hunderte der nächsten Angehörigen vom Tode in sein kaltes Bett gelegt wurden.

Agathle, die älteste Tochter des Schloßbauern, war die Braut des Rößlewirts in Eutingen geworden; der Schloßbauer, der mit dem ganzen Dorfe verfeindet war, mußte seine Kinder außerhalb des Orts verheiraten.

Vefele sah am Hochzeitstage der Schwester gar prächtig aus. Die Schwestern hatten im Dorfe keinen weitern Umgang, und so war Vefele die einzige „Gespiele“ der Braut und ganz so wie sie gekleidet. Es hatte die „Schappel“ – eine Krone von flimmernden Silberflittern – auf dem Haupte, in die beiden den Rücken hinabhängenden Zöpfe waren handbreite, ziegelrote Seidenbänder eingeflochten, die fast bis auf den Boden hinabreichten; das ist die besondere Zierde einer Jungfrau, denn nur eine solche darf rote Bänder im Haare tragen; ein Mädchen, „das sich verfehlt hat“, muß weiße leinene Bänder tragen. Um den Hals hatte Vefele die vielreihige Granatenschnur, deren dunkle Farbe die auffallende Zartheit der Haut noch mehr hervorhob; über dem weißen Spitzenkoller ragte ein frischer Blumenstrauß aus dem scharlachroten Mieder hervor, das zu beiden Seiten von silbernen Agraffen, durch die sich Silberkettchen schlangen, gehalten war; der um und um weitfaltige blaue „Wiflingrock“, der bis an die Kniee reichte, war zur Hälfte von der weißen Schürze bedeckt; überall, an den Schultern wie an den Enden der kurzen Hemdärmel, flatterten rote Bänder. Die „Stöckleschuhe“ mit den hohen hölzernen Absätzen in der Mitte, gaben dem ohnedies schwankenden Gange Vefeles noch etwas Unsicheres. Dennoch, als es unter dem Klange der Musik und dem Abfeuern der Pistolen neben seiner Schwester zur Kirche ging, erschien Vefele so liebreizend, daß jeder es gerne als die Braut angesehen hätte.

Wer weiß, wo die beiden Söhne des Schloßbauern waren, während dieser mit den Seinen fröhlich beim Hochzeitsschmause saß! Niemand gedachte ihrer. Nur Vefele schaute einmal lange unverrückt drein; es war, als ob sie nichts von alledem sehe, was um sie her vorging; als ob ihr Blick durch die Wände dringe und suchend hinausschweife ins Unendliche – sie gedachte ihrer fernen Brüder.

Kaum zwei Monate später feierte auch Melchior, der dritte Sohn des Schloßbauern, seine Hochzeit. Er hatte auf des Agathles Hochzeit seine Braut, die einzige Tochter des Engelwirts von Ergenzingen, kennen gelernt und sich mit ihr versprochen. Obgleich Melchior noch sehr jung und kaum ein Jahr älter war als Vefele, beschleunigte man doch die Hochzeit, denn man fürchtete, er müsse sonst auch mit in den Krieg. Melchior zog nun auch fort aus dem Dorfe, und Vefele blieb allein im Hause. Die Mutter kränkelte, ein stiller Gram zehrte an ihrem Leben. Sie wollte ihren Mann immer dazu bringen, daß er alles verkaufe und aus dem Dorfe weg zu einem seiner Kinder zöge; der Schloßbauer aber gab ihr so heftige Antworten, daß sie nicht mehr davon reden durfte. Da hatte das Vefele traurige Zeiten, denn es hatte immer zu vertuschen und zu begütigen. Die Kränklichkeit machte die Mutter noch immer gereizter und unnachgiebiger, und sie sagte oft: wenn ihr Vater noch lebte, würde sie ihrem Manne auf und davongehen. – Diese Leute sahen doch schon bald das zweite Geschlecht aus ihrer Ehe hervorgehen, und noch konnten sie sich nicht ineinander finden; ja, je älter sie wurden, um so mehr schien sich eine Uebelnehmerei, eine heftige Bitterkeit zwischen ihnen kundzugeben. Das Vefele wußte zwar immer wieder den Frieden herzustellen; es war dann vergnügt und munter, aber im stillen weinte es oft bitterlich über das traurige Schicksal seiner Eltern und über sein eigenes, und dann gelobte es sich heilig, nie zu heiraten. Es kannte ja ohnedies niemand, dem es sein Leben hätte widmen mögen, und dann sah es wohl ein, wie nötig es im elterlichen Hause sei, wenn nicht das Feuer zum Dache herausschlagen solle. Geschrieben steht: Gott ahndet die Sünde der Väter an den Kindern; das gilt am meisten von einer bösen Ehe. In dem Herzen ohne Kindesliebe nimmt gar leicht Trübseligkeit oder Verirrung andrer Art Platz.

Der Tod brachte die Mutter Vefeles bald zu ihrem Vater, und jetzt, nachdem seine Frau tot war, fühlte der Schloßbauer erst, wie viel ihm fehlte, wie lieb er doch im Grunde seines Herzens seine Frau gehabt hatte. Er grämte sich, daß er sie nicht nachgiebiger behandelt und daß er ihre Kränklichkeit so oft für Verstellung angesehen hatte; jedes harte Wort, das er ihr gegeben, schnitt ihm tief durch die Seele; er hätte gern sein Leben drum gegeben, wenn er es wieder hätte zurückrufen können. So geht’s. Statt im Leben freundlich und friedfertig einander zu tragen und zu erfreuen, grämen sich die meisten Menschen, wenn es zu spät ist, wenn der Tod die traulichen Lebensgefährten von der Seite gerissen hat; darum soll man sich lieben, solange man noch lebt, denn jede Stunde, die man in Unliebe verbringt, hat man sich und dem andern unwiederbringlich vom Leben geraubt.

Der Schloßbauer ging des Sonntags nicht mehr nach der Stadt, sondern in die Kirche des Dorfes, denn neben der Kirche lag ja seine Frau begraben; er machte jedesmal den Umweg und ging über den Gottesacker. Es war, als ob er das Grab seiner Frau durch diesen sonntäglichen Besuch versöhnen wollte.

Im Hause war alles still, man hörte kein lautes Wort mehr, und das Vefele waltete sanft wie ein Friedensengel. Der Friede war da, aber die Freude fehlte doch: es war immer im Hause, wie wenn man jemand schmerzlich vermißte oder erwartete.

Nach und nach fühlte sich der Schloßbauer durch das freundliche Walten Vefeles so wohl, daß er wieder neu auflebte; er that gar nichts ohne die Zustimmung „des Kindes“, er ließ es sogar meist allein über alles verfügen, und wenn jemand etwas von ihm haben wollte, sagte er immer ruhig: „Da müsset Ihr eben mein Vefele fragen.“

So lebten sie viele Jahre; Vefele hatte die erste Hälfte der zwanziger Jahre überschritten. Viele Freier stellten sich ein und hielten um seine Hand an, aber es sagte immer, daß es nicht heiraten wollte; der Vater gab ihm recht. Dann sagte er wieder: „Vefele, du bist zu fein für einen Bauersmann, und wenn ich meinen Prozeß gewinn’, ziehen wir in die Stadt, und ich geb’ dir auch ein Simri voll Kronenthaler zum Heiratsgut, und dann kannst du unter den Herrenleuten wählen.“ Das Vefele lachte zwar, aber innerlich gab es seinem Vater doch darin recht, daß, wenn es auch heirate, es doch nie und nimmer einen Bauern heiraten wolle. Es hatte ihre Leidenschaftlichkeit und Unversöhnlichkeit zu lange mit erduldet und hatte nun ein tiefes Vorurteil gegen sie; es wähnte, in der Stadt, wo die Leute gesitteter und feiner wären, müßten sie auch besser und braver sein. Die vielen Kränkungen hatte es nur dadurch ertragen, daß es die Leute für zu roh und sich selber für etwas Besseres hielt, und indem es so immer mehr über das Bauernleben nachdachte, hielt es sich selber nicht nur für besser als die andern, sondern auch für höher stehend und vornehmer. Das war sein großes Unglück.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1