1. Am ersten Maimorgen prangte an des Wagner Michels Haus ein stattlicher Maibaum; ...

1. Am ersten Maimorgen prangte an des Wagner Michels Haus ein stattlicher Maibaum; es war eine schöne schlanke Tanne, welcher man die Aeste abgehauen und nur die Krone gelassen hatte. Weit über alle Häuser hin ragte sie, und stände der Kirchturm nicht auf dem Berge, die Tanne hätte darüber hinausgeschaut. Sonst war kein Maibaum im ganzen Dorfe, und alle Mädchen heneideten das Aivle (Eva.), des Wagner Michels älteste Tochter, weil es allein einen Maien hatte.

Die Kinder kamen das Dorf herauf, in ihrer Mitte bewegte sich eine grüne Hütte. Eine zuckerhutförmige, aus Reifen gebundene und mit Laub bedeckte Hütte war über einen Knaben gestülpt, der sich nun von Hausthür zu Hausthür bewegte und eine Weile dort Halt machte; neben ihm gingen zwei andre Knaben, einen mit Spreu und Eiern gefüllten Korb an den Henkeln tragend, ein großer Schwarm von Knaben, grüne Zweige in den Händen haltend, zog hinterdrein. Sie sangen vor jedem Hause:


Ho! ho! ho!
Der Maiemann ischt do,
Geant auns schnell d’Eier ‘raus,
Sust kommt der Marder ins Heanerhaus,
Geant auns Eier, wie mer’s wella,
Sust streue mer Spreuer auf dia Schwelle,
Ho! ho! ho! u. s. w.

Wo sie nun keine Eier erhielten, vollführten sie ihre Drohung und streuten mit Jubel und Lachen eine Handvoll Spreu auf die Schwelle. Fast überall aber wurde ihnen willfahrt, und sie gingen von Haus zu Haus; nur an des Schloßbauern Haus gingen sie, ohne anzuhalten, vorbei. Die Aufmerksamkeit des Dorfes war aber diesmal nicht auf den Maienmann gerichtet, denn alles stand vor des Wagner Michels Haus und betrachtete den Maibaum. Zur Herbeischaffung eines solchen mußten wenigstens sechs Mann und zwei Pferde geholfen haben. Es war fast wunderbar, wie das so „hehlings“ geschehen konnte; denn das Maisetzen war streng verboten und wurde als großer Waldfrevel mit drei Monaten Ludwigsburg, d. i. Arbeitshaus, bestraft. Darum hatte es keiner der Burschen gewagt, nach alter Sitte seinem Schatz diesen gewaltigen Strauß vors Haus zu stecken; nur des Wendels Matthes, der „zu dem Aivle geht“, hatte dies trotz des Verbots ausgeführt. Man konnte nicht herausbringen, wer ihm dabei geholfen hatte; man sagte, daß ihm Burschen aus dem eine Viertelstunde entfernten Dettensee, das zum „Sigmaringer Ländle“ gehört, beigestanden hätten.

Viele Bauern, die mit Egge und Pflug ins Feld gehen wollten, andre mit der Hacke auf der Schulter, machten Halt und betrachteten eine Zeitlang den Maibaum. Auch des Wendels Matthes war unter den Versammelten, und er lachte immer in sich hinein und winkte dem Aivle, das vergnügt zum Fenster heraussah, mit den Augen zu; diese Augen sagten gar viel. Auf die oft schelmisch wiederholte Frage, wer wohl den Maibaum gesetzt, antwortete das Aivle stets nur mit einem schelmischen Achselzucken.

Eben waren die Maikinder am Hause des Wagners Michel angelangt und begannen ihren Spruch, als der Dorfschütz mit dem Bannert (Bannwart, Waldschütz) herzutrat und laut rief: „Seid still, ihr Krotten!“ Die Kinder schwiegen plötzlich; darauf ging der Gestrenge gerade auf den Matthes zu, faßte ihn am Arme und sagte: „Komm mit zum Schultes!“

Der Matthes schleuderte die breite Hand der Polizei von sich weg und fragte: „Warum?“

„Das wirst du schon erfahren; jetzt komm mit, oder es geht dir schlecht.“

Der Matthes schaute sich rechts und links um, als wisse er nicht, was er thun solle, oder als müsse ihm von irgend einer Seite her Hilfe und Rat werden. Da bewegte sich plötzlich die Maihütte gerade auf den Schütz zu und stieß ihm ins Gesicht. Der Bub verließ sich wohl darauf, daß er als Mai eine geheiligte Person und unverletzlich sei; der Schütz aber kannte keine andre unverletzliche Person, als sich selber, und zerfetzte mit einem Risse dem Knaben sein ganzes Laubhaus. Der Christle, der jüngste Bruder des Matthes, sprang daraus hervor, und der Maienmann hatte nun ein Ende.

Unterdessen war das Aivle vom Hause herabgekommen, es erfaßte den Matthes beim Arme, als wollte es ihn retten. Dieser aber rückte auch seine Hand ebenso harsch von sich ab, und der Dorfschütz sagte zum Aivle: „Du wirst noch warten können, bis man dich holt.“

„Ich geh’ schon mit,“ sagte Matthes, dem Aivle einen vielsagenden Blick zuwerfend. Dieses aber sah nichts mehr, denn die hellen Thränen standen ihm im Auge, und die Schürze vor das Gesicht haltend, ging es schnell zurück ins Haus.

Die Bauern gingen nun aufs Feld, der Matthes mit den beiden Schützen hinein in das Dorf, die Kinder mit Hallo hinterdrein. Als der Schütz den Nachruf nicht mehr hören konnte, riefen einige verwegene Knaben: „Soges! Soges!“ Dies war der Schimpfname des Schützen und brachte ihn jedesmal gewaltig auf. Er hatte nämlich noch in den letzten Jahren der österreichischen Herrschaft sein jetziges Amt versehen; in seiner Dienstbeflissenheit glaubte er auch den österreichischen Dialekt sprechen zu müssen und sagte einmal: „I sog es.“ Seitdem schimpfte man ihn den „Soges“.

Hinter der geheimnisvollen braunen Hausthüre des Schultheißen verschwanden Soges, Matthes und Bannert. Der Schultheiß schalt den Angeklagten wegen seines Verbrechens sogleich tüchtig aus.
Matthes stand ruhig da, er spielte nur leise mit dem Fuße nach einer Melodie, die er innerlich sang; endlich sagte er: „Seid Ihr bald fertig, Herr Schultheiß? Das geht mich alles nichts an, ich habe keinen Maien gesetzt; jetzt machet nur weiter, ich kann schon noch eine Weil’ zuhören.“ Der Schultheiß fuhr auf; er wollte gerade auf Matthes los, aber der Soges sagte ihm etwas ganz leise, und seine geballte Faust senkte sich. Er befahl nun dem Soges, den Verbrecher wegen groben Leugnens 24 Stunden einzusperren.

„Ich bin ein Kind aus dem Ort; man weiß, wo ich zu finden bin, ich verlauf’ wegen so einem Bettel nicht; man kann mich nicht einstecken,“ sagte Matthes mit Recht.

„Man kann nicht?“ rief der Schultheiß zornglühend, „das wollen wir doch sehen, du –“

„Oha! es ist genug geschimpft, ich geh’ schon,“ sagte Matthes, „aber mit einem Bürgersohn sollt’ man nicht so verfahren. Wenn mein Vetter, der Buchmaier, daheim wär’, dürft’ das nicht geschehen.“

Noch auf dem Wege zum Gefängnisse begegnete Matthes dem Aivle, aber er versuchte es nicht einmal, mit ihm zu sprechen. Aivle konnte sich das nicht erklären, es schaute Matthes lange nach, und von der Schande und dem Kummer niedergedrückt, ging es gesenkten Blickes in des Schultheißen Haus. Die Frau Schultheißin war die Firmgode Aivles, dieses wollte nun nicht eher vom Platze gehen, bis der Matthes frei wäre. Aber diesmal half die so einflußreiche Verwendung nichts; der Schultheiß hatte mit nächstem das Ruggericht zu erwarten, und er wollte sich durch unnachsichtige Strenge beim Oberamtmann beliebt machen.

Im Verein mit dem Soges, seinem getreuen und weisen Minister, setzte der Schultheiß einen Bericht auf, und am andern Morgen in aller Frühe ward Matthes nach Horb transportiert. Es war gut, daß der Weg nach der andern Seite des Dorfes zuging und das Aivle den Matthes nicht sah, denn es war ein erbärmlicher Anblick, wie der sonst so mutige und säuberliche Bursche jetzt so geknickt und verwahrlost erschien; eine einzige Nacht im Gefängnisse hatte ihn so zugerichtet. Von allen Hecken, an denen Matthes vorüberkam, riß er sich im Zorne einen Zweig ab, warf ihn aber bald wieder weg, nur als er durch den Tannenwald auf der Steige geführt wurde, riß er sich ein Tannenreis ab und hielt es zwischen den Zähnen fest. Auf dem ganzen Wege sprach er kein Wort; es war, als ob dieses Tannenreis ihm das sichtbare Sinnbild seines Schweigens über den Maibaum wäre, als ob dieses Reislein seine Zunge wie mit einem Zauber festbinden sollte. Vor dem Oberamte nahm er schnell das Tannenreis heraus, und fast ohne es zu wissen, steckte er das Sinnbild seiner Anklage in die Tasche.

Wer nie in den Händen des Gerichts war, weiß nicht, welch ein schreckliches Los es ist, so auf einmal nicht mehr Herr über sich zu sein; es ist, als ob einem der eigene Körper genommen wäre. Von Hand zu Hand geschubt, muß man freiwillig seine Füße aufheben, um doch nur dahin zu gehen, wohin andre wollen. Das fühlte Matthes, denn er war in seinem ganzen Leben jetzt zum erstenmal vor Gericht. Es war ihm so schwer und so bang zu Mute, als ob er ein recht großer Verbrecher wäre, als ob er einen Menschen ums Leben gebracht hätte; er meinte, die Kniee müßten ihm zusammenbrechen, als er die vielen Treppen den Berg hinaufgeführt wurde. Er ward nun in den Turm gesperrt, der so zudringlich hoch auf dem Berge steht wie eine Zwingburg, wie ein großer steinerner Zeigefinger, der der ganzen Umgegend zuwinkt: „Hütet euch!“

Die Zeit wurde dem Matthes sterbenslang. Er war, solange er denken konnte, nie eine Stunde allein ohne Arbeit gewesen; was sollte er nun thun? Er lugte eine Weile durch das doppelt vergitterte Fenster in der sechs Schuh dicken Mauer hinaus, aber er sah nichts als ein Stückchen blauen Himmel. Auf der Pritsche liegend, spielte er lange mit dem Tannenreis, das er in seiner Tasche fand, das war noch ein Ueberrest aus der grünenden Welt draußen. Er steckte es zwischen eine Brettspalte und dachte es sich als den großen Maibaum, der an des Aivles Haus stand; es kam ihm vor, als ob es schon hundert Jahre wäre, seit er diesen gesehen hatte. Seufzend fuhr er auf, er schaute wirr umher und stampfte mit den Füßen; er fing nun an, pfeifend die Nadeln an dem Tannenreis zu zählen. Mitten drin aber hörte er auf und betrachtete das Reis genauer; er sah jetzt zum erstenmal, wie schön so ein Reis ist; unten waren die Nadeln dunkelgrün und hart, nach der Spitze zu aber waren sie noch so sanft und hellfarbig, so weich wie der Flaum eines Vogels, der noch nicht flügge ist, und ganz oben war der kleine Keim mit seinen zierlich übereinander gelegten Schuppen – das sollte ein Tannzapfen werden. Besser als Lavendel und Rosmarin roch der frische Harzduft des Zweiges. Matthes fuhr sich mit demselben leise und sanft über das ganze Gesicht und über die geschlossenen Augen; den Zweig in der Hand haltend, schlief er endlich ein. Im Traume war es ihm, als ob er auf einer schwankenden Tanne festgebannt wäre, so daß er kein Glied rühren könnte; er hörte die Stimme Aivles, das den bösen Geist bat, daß es zu ihm hinaus dürfe, um ihn zu erlösen. Er erwachte und hörte wirklich die Stimme Aivles und die seines Bruders Christle. Sie hatten ihm das Mittagessen gebracht und baten den Gefängniswärter, ihn in seinem Beisein besuchen zu dürfen, aber es wurde nicht gestattet.

Erst gegen Abend wurde Matthes in das Verhör gebracht. Der Oberamtmann redete ihn sogleich mit Du an und schimpfte ihn auf Hochdeutsch ebenso, wie gestern der Schultheiß auf Bauerndeutsch. Solange die Gerichtsverhandlungen nicht öffentlich sind, wie sie es zu alten Zeiten in Deutschland überall waren, solange wird ein Beamter immer mit einem Angeklagten machen können, was er will; darf er ihn auch nicht mehr auf die Folter spannen oder prügeln lassen, es gibt noch viele andre, oft härtere Mißhandlungen.

Sporenklirrend im Zimmer auf und nieder schreitend, ein kleines Papierchen stets rasch zwischen den Fingern drehend, stellte der Oberamtmann seine Fragen:

„Wo hast du den Baum gestohlen?“

„Ich weiß von nichts, Herr Oberamtmann.“

„Vermaledeiter Spitzbub, du lügst,“ sagte der Amtmann rasch, indem er auf Matthes zutrat und den Zipfel seines „Brusttuches“ (Brusttuch, so viel als Jacke.) faßte.

Matthes zuckte rückwärts zusammen, seine Hand ballte sich unwillkürlich.

„Ich bin kein Spitzbub,“ sagte er endlich, „und Ihr müsset das, was Ihr da gesagt habt, ins Protokoll ‘neinschreiben; ich will sehen, ob ich ein Spitzbub bin. Mein Vetter, der Buchmaier, kommt schon wieder heim.“

Auf diese Rede kehrte sich der Amtmann um und kniff die Lippen übereinander.

Wäre die Sache des Matthes nur eine bessere gewesen, es hätte dem Amtmann schlecht ergehen können; wohlweislich aber ließ dieser seine Rede nicht ins Protokoll setzen. Er klingelte und ließ den Soges hereinkommen.

„Was habt Ihr für Beweise, daß der da den Maien gesetzt hat?“

„Jed’ Kind im Dorf, die Ziegel auf dem Dach wissen’s, daß der Matthes zu dem Aivle geht; nichts für ungut, aber ich mein’, das Kürzeste wär’, man läßt das Aivle kommen, da wird er’s nimmer leugnen, er kann keinen auf die Gabel (Einen auf die Gabel nehmen, so viel als einen Eid schwören; von dem Bilde der erhobenen drei Finger genommen.) nehmen, daß es nicht wahr ist.“

Als der Matthes das hörte, sperrte er die Augen weit auf und seine Lippen zuckten, aber er schwieg. Der Amtmann war eine Zeitlang stutzig, er erkannte das Ungehörige eines solchen Beweismittels wohl; aber er wollte „ein Exempel statuieren“, wie er sich in der Gerichtssprache ausdrückte.

Nachdem Matthes, der Soges und die herkömmlichen zwei Gerichtsschöppen – oder wie man sie bei uns heißt, Gerichtsbeischläfer – das Protokoll unterschrieben hatten, war das Verhör geschlossen. Matthes hatte den Mut nicht, seine frühere Forderung in Betreff der Schimpfreden des Oberamtmanns zu wiederholen, er wurde abermals in das Gefängnis abgeführt.

Es war schon spät gegen Abend, da saß Aivle oben an der Steige und schaute hinüber nach dem Turme auf dem Berge jenseits; es meinte, der Matthes müsse doch endlich kommen. Es saß hinter einer Hecke, um von den Leuten nicht gesehen und befragt zu werden. Da sah es den Soges die Bergwiese heraufkommen; es ging nach der Straße, der Soges winkte ihm zu, es sprang ihm schnell entgegen.

„Thur stet (Geh langsam.), Aivle,“ rief der Soges, „ich hab’ dir nur sagen wollen, du sparst mir einen Gang, du mußt morgen früh um acht Uhr vor Oberamt.“

Das Aivle stand leichenblaß da und schaute wie verwirrt drein, dann rannte es schnell den Berg hinab und hielt erst unten am Neckar inne; es blickte sich verwundert um, es war ihm gewesen, als würde es jetzt gleich eingesperrt, und als müsse es auf und davon laufen. Still weinend und gesenkten Hauptes kehrte es heim.

Fast die ganze Nacht that Aivle kein Auge zu, denn morgen sollte es ja zum erstenmal vor Gericht; allerlei Schreckbilder von schwarzbehangenen Gemächern standen vor seiner Seele, und hätte sich nicht sein Gespiel, des Schneiderles Agath, erboten, bei ihm zu schlafen, es wäre gestorben vor Angst.

Als kaum der Morgen graute, ging Aivle nach dem Schranke, holte sein Sonntagshäs (Häs, Kleider.), und die Agath mußte es ankleiden; es konnte vor Zittern kein Bändel knüpfen. Wehmütig betrachtete es sich in seinem zerbrochenen Spiegel; es war ihm, als müßte es in seinen Sonntagskleidern zu einem Leichenbegängnisse.

Der Wagner Michel begleitete seine Tochter, er konnte das Kind ja nicht allein gehen lassen. In der Oberamtei zog er seinen Hut ab, strich sich die kurzgeschorenen Haare glatt und machte schon jetzt ein demütig freundliches Gesicht, als er mit den Füßen scharrend vor der Stubenthür stand. Er stellte seinen Schlehdornstock an die Wand, und den dreieckigen Hut mit der linken Hand vor die Brust haltend, den Kopf demütig vorgebeugt, klopfte er an. Die Thür öffnete sich. „Was will Er?“ fragte eine rauhe Stimme.

„Ich bin der Wagner Michel, und das da ist mein’ Tochter, das Aivle, und das fürcht’ sich so, da hab’ ich fragen wollen, ob ich nicht mit ‘nein darf vor Gericht.“

„Nein,“ war die rauhe Antwort, und die Thür wurde ihm vor der Nase zugeschlagen, daß der Wagner Michel zurücktaumelte. Er konnte seine weitere Begründung, daß eigentlich er und nicht seine Tochter vor Gericht gehöre, da der Maien vor seinem Hause stand, nicht mehr anbringen.

Die beiden Hände auf den Schlehdorn gelegt und das Kinn auf die Hände gestemmt, so saß der Wagner Michel neben seiner Tochter auf der Hausflur und heftete seinen Blick auf die Steine des Fußbodens, die so kalt und teilnahmlos waren wie das Antlitz des Beamten. Dann brummte er vor sich hin: „Wenn der Buchmaier da wär’, müßt’ er andre Saiten aufziehen.“ Das Aivle konnte kein Wort reden, es hatte die Hände gefaltet und hustete nur manchmal ganz leise in sein schön gebügeltes Sacktuch hinein.

Endlich wurde es in die Gerichtsstube gerufen; es stand rasch auf, Vater und Tochter sahen sich stumm an, und das Aivle verschwand hinter der Thüre. Es blieb an der Thüre stehen; der Oberamtmann war nicht da, aber dort saß der Schreiber und spielte mit der Feder in der Hand, neben ihm die beiden Gerichtsschöppen, sie pisperten leise miteinander. Aivle zitterte und bebte an allen Gliedern; die Stille dauerte fast zehn Minuten, für Aivle eine halbe Ewigkeit. Endlich hörte man Sporenklingen, der Oberamtmann kam. Aivle schien ihm sehr zu gefallen, denn er faßte es am Kinn, streichelte ihm die heißen, roten Wangen und sagte dann: „Setz dich nur.“ Aivle gehorchte, sich zaghaft auf den Rand des Sessels niederlassend.

Nachdem es mit niedergeschlagenen Augen auf die Fragen: Name, Stand, Alter u. s. w. angegeben, fragte der Oberamtmann: „Nun, wer hat dir den Maibaum gesetzt?“

„I kahn’s et wisse, Herr Oberamtmann.“

„Hast du nicht das Seil zum Anbinden an dem Dachfenster hergegeben?“

„Noan, Herr Oberamtmann.“

„Weißt du auch nicht, wer dein Schatz ist?“

Aivle fing laut an zu weinen. Es war ihm schrecklich, daß es hier leugnen sollte, und doch konnte es auch nicht eingestehen. Der Amtmann half ihm, denn er sagte:

„Nun, was ist denn da zu leugnen? Der Matthes ist dein Schatz, ihr wollt euch ja bald heiraten.“

Aivle dachte daran, daß sie über vier Wochen sich beim Amte die Heiratserlaubnis holen wollten; es glaubte, wenn es jetzt leugne, bekäme es die „Papiere“ und die „Annahme“ nicht; auch durfte es nicht Nein sagen, das war gegen sein Gewissen. Sein Herz klopfte rasch, ein gewisses Gefühl des Stolzes erhob sich in ihm, ein Bewußtsein, das über alle Gefahren hinausragte, belebte sein ganzes Wesen, es dachte plötzlich nicht mehr an die Papiere, nicht mehr an den Oberamtmann, nicht mehr, wo es war, es dachte nur an Matthes; die letzte Thräne fiel von seinen Wimpern, sein Auge leuchtete hell, es erhob sich rasch, schaute wie siegverklärt umher und sagte: „Jo, koan andre uf der Welt nähm i.“

„Der Matthes hat dir also den Maien gesetzt?“

„‘s kann wohl sein, aber me derf jo et dabei sein, und i bin diesell Nacht –“ es konnte wiederum vor Weinen nicht weiter reden.

Es war gut, daß Aivle die Augen zuhielt und das Lächeln der Gerichtsmänner nicht sah.

„Gesteh’s nur, kein andrer hat dir den Maien gesetzt?“

„Was kahn i wisse?“

Durch allerlei Querfragen und durch die freundliche Versicherung, daß die Strafe nur gering sei, brachte der Oberamtmann endlich das Geständnis Aivles heraus. Nun wurde ihm das Protokoll vorgelesen, worin die Aussagen in hochdeutsche Sprache übersetzt und in zusammenhängende Rede gebracht waren; von all dem Weinen und den Qualen des Mädchens stand kein Wort darin. Aivle erstaunte über alles das, was es da gesagt hatte; aber es unterschrieb doch und war seelenfroh, als es wieder fort durfte. Als die Thüre hinter ihm wieder zu war und die Klinke ins Schloß fiel, stand es plötzlich wie festgebannt da und faltete die Hände; ein schwerer Seufzer entlud sich seiner Brust, es meinte, der Boden müsse unter ihm zusammensinken, denn es überdachte jetzt erst recht, was es seinem Matthes gethan haben konnte. Sich an das Treppengeländer haltend, ging es furchtsam die steinernen Stufen hinab und suchte seinen Vater, der im Lamm einen Schoppen zur Herzstärkung trank; ohne ein Wort zu reden und ohne einen Tropfen über die Lippen zu bringen, saß Aivle neben ihm.

Unterdes kam auch der Matthes abermals zum Verhör, und als er das Geständnis Aivles hörte, stampfte er mit dem Fuß auf den Boden und knirschte die Zähne. Diese Aeußerungen wurden sogleich als Grundlagen des Geständnisses genommen, und müde gehetzt gab sich Matthes gefangen; aber er gebärdete sich noch wie ein Wild, das im Netze steckt, sich nach allen Seiten hin und her windet, um sich loszumachen, aber immer tiefer sich hineinwirrt.

Auf die Frage, wo er den Baum geholt, sagte Matthes zuerst, daß er ihn aus dem Dettenseer Walde (aus dem Sigmaringischen) genommen. Als man hierauf eine neue Untersuchung einleiten und an das Amt Haigerloch berichten wollte, gestand er endlich, daß er den Baum aus seinem eigenen Walde, im „Weiherle“ gelegen, genommen und daß es ein solcher sei, der nächster Tage von dem Förster ausgezeichnet worden wäre.

In Betracht dieser mildernden Umstände wurde Matthes um zehn Reichsthaler gestraft, weil er vor der Auszeichnung einen Baum aus seinem eigenen Walde geholt hatte.

Oben an der Steige, dort, wo der Matthes tags zuvor einen Zweig abgerissen, traf er mit dem Aivle und ihrem Vater zusammen, die den Wiesenweg heraufkamen. Matthes wollte ohne Gruß weiter gehen. Da sprang das Aivle auf ihn zu, faßte seine Hand und rief schwer atmend: „Matthes, trutz et, guck, do hoscht du mein Anhenker und au meine Granate, wenn du Strof zahle muscht. Dank aunserm Heiland, daß du nimmeh eing’sperrt bischt.“

Nach einigem Hin- und Herreden gab Matthes nach, Hand in Hand ging er dann mit seinem Aivle das Dorf hinein und wurde von allen freundlich bewillkommt.

Das ist die Geschichte von dem Maibaum an des Wagner Michels Haus; am Hochzeitstage der beiden Liebenden ward er mit roten Bändern geschmückt. Der Himmel schien mehr Wohlgefallen an dem Baum zu haben als die löbliche Polizei, denn auf eine fast wunderbare Weise grünte der Baum und schlug neue Wurzeln; noch heutigestags prangt er als ewiges Liebeszeichen an dem Hause der Glücklichen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1