Zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts

Lange bevor deutsche Kolonisten nach Schlesien kamen und mehr und mehr die Herren des Grundes und Bodens wurden, lebten schon Juden in dem noch durchaus slawischen Lande, und obwohl nur dürftige Kunde aus jenen Jahrhunderten zu uns dringt, so erhalten wir doch die merkwürdige Nachricht, dass die schlesischen Juden damals Landgüter besaßen und Ackerbau trieben *). Die deutsche Einwanderung scheint diesem Zustande ein Ende gemacht zu haben, und die großen Judenprivilegien der schlesischen Herzoge aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts kennen kaum noch einen anderen Nahrungszweig der Juden als das Geldausleihen auf Zins und Pfänder. So bleibt es auch während und nach der großen politischen Veränderung, welche Schlesien seit dem Anfange des 14. Jahrhunderts erfährt. Die vielen Teilherzogtümer nämlich, aus denen das Land besteht, und die zwischen den beiden aufstrebenden Königreichen Böhmen und Polen ihre Selbständigkeit nicht zu wahren vermögen, gelangen, eines nach dem anderen, erst unter die Lehenshoheit, und nach dem Tode ihrer angestammten Herren in den erblichen Besitz des böhmischen Königs Johann, dessen Sohn Karl endlich im Jahre 1355 durch eine feierliche Urkunde Schlesiens Vereinigung mit Böhmen proklamiert.

*) Siehe meine Schlesischen Juden im Mittelalter, S. 6—7 (in Liebermanns Jahrbuch
für Israeliten, 1864).


Einem einzigen Gebiete bewahrte sein stolzer Herrscher, Bolko IL, die Unabhängigkeit: da wollte es das Geschick, dass dessen Ehe mit Agnes kinderlos blieb, und so regierte nur er noch bis 1368, und nach ihm seine Witwe Agnes bis 1392 in voller Selbständigkeit über die vereinten Fürstentümer Schweidnitz und Jauer, seines Bruders Tochter Anna aber brachte durch ihre Verheiratung mit Karl IV. beide Lande als freies Erbe an die Krone Böhmen. Das böhmische Königsbaus trat sogleich in alle die Beziehungen ein, in denen seine piastischen Vorgänger zu dem Leben der Provinz gestanden, und wie bisher die Herzoge, so nahm nun auch Johann die Juden Schlesiens unter seinen Schutz. Sie waren jetzt seine „Kammerknechte" — um uns des mittelalterlichen Ausdrucks zu bedienen, der nichts Anderes bedeutet, als dass sie ein Gegenstand seiner Revenuen, dass sie königliches Fiskalgut waren. Denn der Geldpunkt bildete, wenn wir auch gern manche Ausnahme anerkennen, den leitenden Gesichtspunkt der Fürsten bei Gewährung des Judenschutzes, und wenn König Johann mehrere Juden Breslaus „fürsichtige und weise Männer" nennt (providi et discreti viri), ein Prädikat, das sonst wohl den Ratsherren der Städte gespendet wurde, und wenn sein Sohn Karl den Juden Muscho in Neumarkt seiner königlichen Gunst und Gnade versichert, so geschieht dies in Urkunden, in denen beide Fürsten naiv genug bekennen, dass jene Juden ihnen in „augenscheinlicher Geldverlegenheit" beigestanden hätten. Seine Schutzpflicht gegen die Kammerknechte scheint Johann in ähnlichem Sinne verstanden zu haben, wie das Versprechen, welches er einst dem Herzog von Liegnitz gegeben hatte. „Ich habe Dir Beistand gegen Jeden zugeschworen, sprach er, aber nicht gegen mich selbst". Denn während er jene Breslauer Juden wegen Vorausentrichtung ihres Geschosses auf vier Jahre von jeder weiteren Zahlung befreit, überlässt er noch in demselben Jahre (August 1345) den Ratsmännern der Stadt, zur Tilgung eines ihm bewilligten Darlehens von 1.400 Mark, die Zinsen der Breslauer und Neumarkter Juden , und der vierjährige Dispens scheint vergessen; darauf lässt wenigstens das Beispiel des Jordan aus Liegnitz schließen, der im August 1345 dem Breslauer Rat einen Jahreszins von 12 ½ Mark zu zahlen verspricht), obgleich er im April desselben Jahres dem Könige Johann eine gleiche Summe in der Form jenes erbetenen Vorschusses gewährt hat.

Wir sind weit entfernt, es zu missbilligen, dass Johann im Jahre 1341 den Juden Breslaus als Beitrag zur Erbauung der Stadtmauern eine außerordentliche, zehn Jahre hindurch zu entrichtende Steuer von 60 Mark auflegt. Denn nicht das war den Juden verderblich, dass sie zu viel belastet waren, sondern vielmehr, dass sie, was ihre Teilnahme am Gemeinwesen betrifft, allzusehr entlastet wurden und# dass die Bürger, wie schon 1328 die Schweidnitzer, unwillig sich beschweren konnten, „wenig Rat und Recht geschehe der Stadt von solchen Leuten".

Aber eine Maßregel fühlloser Gewalt war es, was Johann in eben jenem Jahre 1345, am 27. September, befahl, nachdem ihm darin im April desselben Jahres die Herzoge von Liegnitz vorangegangen waren. Es galt wiederum, die Stadt Breslau in dem noch immer nicht vollendeten Wiederaufbau ihrer Mauern zu unterstützen. Er erlaubt ihr deshalb, sämtliche Steine des jüdischen Kirchhofes, so viele' sich ihrer über oder unter der Erde fänden, ausgraben und wegführen zu lassen und sie zur Wiederherstellung der Mauer zu verwenden. Den Juden oder wer sonst dagegen Einspruch erheben sollte, gebietet er Schweigen! Die grausame Maßregel kam wirklich zur Ausführung; man schonte selbst die frischesten Gräber nicht. Denn aus den von Nissen veröffentlichten Inschriften eines Teils der Steine, der vor Kurzem in den Kellerräumen des Rathauses gefunden worden ist, ersieht man, dass von den beraubten Toten mancher erst zwei, drei Jahre vorher den Seinigen entrissen worden war. Offenbar hatte man die Gräber so gründlich geplündert, dass nicht alle Steine verwendet werden konnten; wenigstens beweist eine noch vorhandene Rechnung, dass der Ertrag ein sehr reicher gewesen sein muss. Die Fuhrleute hatten nämlich mit dem Transporte (der jüdische Friedhof lag wohl schon damals, wie 100 Jahre später, vor dem Ohlauer Tore von Donnerstag dem 6. April 1346 bis Sonnabend den 15. April, einen Tag vor Ostern, also neun Tage lang zu tun; denn nur Sonntag den 9. wurde die Arbeit ausgesetzt, am Karfreitag nicht. Abgesehen non von dem, was die Fuhrleute erhielten, zahlte der Rat den Arbeitsknechten, die dabei beschäftigt waren, für den neuntägigen Dienst 9 ½ Mark (genauer 9 Mark und 8 ½ Scot), also für den Tag durchschnittlich eine Mark, d. ¡.nach unserem Gelde 7 2/3 Thaler). Wir erfahren aber, dass ein Taglöhner vom Lande damals etwa 1 ¾ Sgr. täglich erwarb; gesetzt also, der städtische Tagarbeiter erhielt das Dreifache, also ungefähr 5 Sgr. als Taglohn, was damals den Wert von 20 Sgr. hatte, so ergäbe sich daraus, dass man neun Tage hindurch nahe an 50 Leute brauchte, um die Grabsteine des jüdischen Friedhofes an den Ort ihrer neuen Bestimmung zu bringen.

Ein Beweis, wie zahlreich die jüdische Bevölkerung der schlesischen Hauptstadt in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts war. Sie war aber auch ebenso reich wie zahlreich. Wir lesen zu wiederholten Malen von hohen Summen, die der Rat der Stadt bei ihnen entlehnte. Im Jahre 1345, dem ersten Jahre, wo der Judenzins in die städtische
Kasse floss, betrug die Einnahme, einschließlich des Mauerzinses, 366 Mark, d. i. über 2.800 Thaler, nach heutigem Maßstabe aber mehr als 10.000 Thaler; veranschlagt war sie sogar auf 460 Mark. Besonders zeichnete sich ein Mann, kurzweg Chanan genannt, durch sein enormes Vermögen aus; denn er zahlte innerhalb dreier Jahre nicht weniger als 200 Mark, eine Summe, welcher heute etwa 6.000 Thaler entsprechen würden. Aber auch Abraham von Neumarkt, Abraham von Münsterberg, Muscho von Strehlen u. A. ragten durch Reichtum hervor, und nur durch solche Dimensionen des Vermögens erklärt es sich, dass die schlesischen Fürsten oft ganze Städte zur Befriedigung ihrer jüdischen Gläubiger verpfändeten. Hatte doch z. B. ein einziger Jude an den Herzog Boleslaus von Liegnitz und Brieg eine Schuldforderung von 8.000 Mark, d. i. einer Viertelmillion Thaler nach jetzigem Wert.

Es mag gleich hier, da in einer Geschichte mittelalterlicher Juden so viel vom Gelde die Rede sein muss, eine Einschaltung über das Geld und den Geldwert in jener Zeit gestattet sein. Die Mark Silber, nach welcher im 14. Jahrhunderte gewöhnlich gerechnet wurde, betrug in der ersten Hälfte desselben 7 2/3 Thaler, in der zweiten Hälfte dagegen nur 5 4/5 Thaler. Sie zerfiel aber in 4 Viertelmarken oder Vierdunge (fertones), in 16 Loth, in 24 Skot, endlich in 48 Groschen; ein Schock Groschen,- eine sexagesima, machte demnach 5/4 Mark aus. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass das Silber vor 500 Jahren einen ungleich höheren Werth hatte als jetzt, dass man mit derselben Summe also weit mehr Ausgaben bestreiten, weit mehr Bedürfnisse befriedigen konnte als heute. In Bezug auf Schlesien stellt sich, nach des seligen Stenzel sorgfältigen Forschungen, das Verhältnis wie 1 : 4, so dass ein Thaler im Jahre 1363 dasselbe galt, was 4 Thaler im Jahre 1863: eine Differenz, die im Vergleiche zu anderen Ländern als eine sehr mäßige erscheint.

Gerade für die Beurteilung der jüdischen Zustände im Mittelalter ist es unerlässlich, diese Münzverhältnisse im Auge zu behalten. Nur dadurch erlangen wir einen richtigen Begriff von dem fast unglaublichen Reichtum der Juden, der auf ihre Beziehungen zu den Christen ja in jeder Hinsicht bestimmend einwirkte. Zunächst in dem Sinne, dass sie durch ihr Geld ein gewisses Übergewicht erlangten und trotz der dagegen eifernden Geistlichkeit die ärmeren unter ihren Mitbürgern sich dienstbar machten. Christliche Frauen werden, ungeachtet kanonischer Verbote, als Dienstboten, sowie als Ammen in jüdischen Häusern angetroffen; der Bischof der Breslauischen Juden, so pflegt nämlich der Rabbiner genannt zu werden, schlachtet in christlichen Schlachthäusern das Vieh nach jüdischem Ritus, nimmt dann von dem Fleische, was ihm beliebt, und überlässt das Andere den Christen. Ein Jude Salomon bekleidet sonderbarer Weise sogar die Stelle eines herzoglichen Hof- und Küchenmeisters. Vergebens sucht der Bischof Heinrich ihn von einem Amte zu entfernen, das ihm vielfach Gelegenheit gebe, Gewalt, ja Tyrannei gegen Christen zu üben; und zwar tut er dies nicht durch ein Schreiben an den Herzog, seinen Herrn, sondern indem er ihn selbst auffordert, die Stelle binnen acht Tagen niederzulegen, und die Untergebenen desselben ermahnt, ihm in Zukunft nicht mehr zu gehorchen. Vergebens: er sieht sich noch in demselben Jahre zu erneutem Einschreiten genötigt, diesmal unter Verhängung der Exkommunikation über den Juden, um ihn so von der Gemeinschaft der Gläubigen zu trennen und jeden dagegen handelnden Christen ebenfalls von der Kirche ausschließen zu können. Mit gleicher Strenge verfährt er gegen die Indifferenz jener Ammen und Fleischermeister; die Sentenz muss bis auf weitere Anordnung an allen Sonn- und Feiertagen von den Kanzeln herab dem versammelten Volke verkündet werden. Er findet es unerträglich, dass ein Nichtchrist über Christen gebiete, dass „die Söhne der Freien den Söhnen der Sklavin" dienen, dass die Bekenner der christlichen Lehre wissentlich genießen sollen, was die Juden als unrein absondern und verschmähen. Uns interessiert nicht sowohl dieser priesterliche Eifer des Breslauischen Kirchenoberhauptes, als vielmehr das Vorhandensein jener Tatsachen, gegen welche sich sein Unwille wendet und deren Kenntnis wir eben nur seinen Mandaten verdanken. Kann er doch selbst nicht umhin, zu erklären, dass er die Gebräuche und die guten Gewohnheiten, welche die Juden von Alters her hätten, abzuändern weder beabsichtige noch vermöge*).

*) Das Formelhuch des Domherrn Arnold von Protzan (auch u. d. T.: Codex diplomaticus Silesiae, Bd. S), herausgegeben von Wattenbach, Breslau 1802. S. 57—69,