Judenmorde und Verfolgungen

Wir stehen an der Schwelle des 15. Jahrhunderts, und wie gern wir auch bei den einigermaßen erträglichen Ruhepunkten in der unruhevollen Geschichte der Juden verweilen, uns darf der vorübergehende Friedenszustand nicht, wie sie, über die rings drohende feindliche Gärung täuschen. Denn ihr Reichtum wiegte die Juden stets in Sorglosigkeit ein, und die Zuversicht, dass ihre Schutzherren sie ihren Feinden so wenig preisgeben würden, als auch sonst der Mensch ein nutzbringendes Gut wegwirft, stumpfte sie gegen den Hass ab, der sich, lange Zeit machtlos, vielleicht nur in Worten und Mienen kundgab. Von den Bewohnern vulkanischer Gegenden wird erzählt, vieljährige Gewohnheit und die sehr verbreitete Meinung, als seien gefahrbringende Erschütterungen nur zwei- oder dreimal in einem Jahrhunderte zu befürchten, machten, dass bei ihnen schwache Oszillationen des Bodens kaum mehr Aufmerksamkeit erregen, als ein Hagelwetter in der gemäßigten Zone. Auch die Juden des Mittelalters lebten auf einem vulkanischen Boden, der nur hie und da, nur hin und wieder zum heftigen Ausbruche kam und dessen leichtere Erschütterungen ihnen als die gewöhnlichen Leiden des Lebens, vielleicht als eine Sühnung ihrer Sündhaftigkeit erschienen. Was eine frühere Generation erlitten, dessen erinnerte die spätere sich nicht, wie man ja auch nur selbsterlebten Glanzes in den Tagen des Elendes nimmer vergessen kann; und so will es uns nie recht glaublich scheinen, dass die große Masse der Juden im Mittelalter jene Sehnsucht nach Zion geteilt habe, welche ein erregteres Dichtergemüt ihnen als Gebet in den Mund legte. Wären sie doch nur zur rechten Zeit aus ihrem Friedenstraume erwacht und durch Erneuerung ihres Lebens, durch innige Verbrüderung mit dem Volke, von der falschen Sicherheit zur wahren gelangt! Der erste Handwerker aus jüdischem Stamme, der redlich, tüchtig und fleißig war, der seinen Gewerbegenossen zu nützen, von ihnen zu lernen, mit ihnen fröhlich zu sein verstand, der seinen Nebenmenschen bescheiden und gewissenhaft diente und im Schweiß seines Angesichtes sein ehrenhaftes Brot verzehrte — er hätte mehr für die Sache der Duldung und der Versöhnung getan, als jene Geldmächtigen, denen die Fürsten schmeicheln und hilfsbedürftige Kaiser Besuche machen! Aber das Tragische menschlicher Geschick liegt eben weniger darin, dass man, am Rande eines Abgrundes, keinen Ausweg fände, als vielmehr darin, dass man keinen sucht.

Der Unwille der Christenheit kehrte sich immer wieder gegen den Reichtum der Juden, der auch im 15. Jahrhundert enorm war und unter ihnen selbst, wie früher, mancherlei Geschäftsfeindschaft zur Folge hatte *). Zu ihren Schuldnern gehörten beispielshalber der Herzog Ludwig von Lüben, Ohlau und Haynau und seine Gemahlin Margaretha, der Herzog Ruprecht von Lüben und Haynau, Herzog Konrad der Weisse zu Kosel, die Herzoge Konrad der Weisse und der Kantner von Öls, Herzog Bolko zu Oppeln und Ober-GIogau, Herzog Heinrich von Oppeln, die Herzoge Hans und Heinrich von Münsterberg, vor Allen der, wie Klose sagt, zum Schuldenmachen geborene Bischof Konrad von Breslau, von dem, unter vielem Anderen, ein dem Juden Moses ausgestellter Schuldschein von 1.000 Mark erwähnt wird. Auch Städte machten, wie früher, Anleihen bei Juden, z. B. Ober-Glogau, oder sie leisteten Bürgschaft für die Schulden ihrer Fürsten, wie es z. B. die Ratsmänner von Ohlau, Lüben, Kosel und Münsterberg taten. Die Juden aber scheinen gegen sie recht geduldige Gläubiger gewesen zu sein, denn Schuldbriefe aus den zwanziger Jahren, ja selbst vom Jahre 1419, 1418 und 1416 waren bis zum Jahre 1453 noch unbezahlt. Dabei ging die Steuerlast ins Ungeheure; so forderte Friedrich III. nach seiner Kaiserkrönung von sämtlichen Juden des Reiches, auch den schlesischen, als Krönungstribut den dritten Teil ihres ganzen Vermögens, und er verstand es, diese Steuer, wo er auf Zögerung stieß, gewaltsam einzutreiben. Aber der Reichtum schien unvertilgbar; „sie werden dick und fett und machen sich breit", ruft zürnend der Pater Ludolf, Abt zu Sagan in den Jahren 1394—1422, und ihr „Pomp, ihre unverdiente Ehre, ihre Prahlerei" ist seinen Augen ein Ärgernis. Wir haben es hier freilich mit einem fanatisch übertreibenden Mönche zu tun, aber solche Sprache konnte des Eindrucks auf die gleichgestimmten Gemüter des Volkes nicht verfehlen.


*) Vergl. die Antwort eines Juden an zwei Ratsmänner im Jahre 1440 (Klose a. a. O.
II, 2, 388): „Liebe Herren, wiewohl Kusiel ein Jude ist, so sind wir doch feind mit einander“.

Überhaupt nahm die Geistlichkeit jetzt eine mehr und mehr aggressive Haltung an. Auch früher schon pflegten die Juden in ihren Schutzbriefen ausdrücklich gegen geistliche Gerichte sichergestellt zu werden. Aber jetzt kam es vor, dass Priester solchen Richtern und Schöffen, welche in Prozessen zwischen Juden und Christen zu Gunsten der Juden erkannt, ja selbst den Schreibern, welche das Urteil niedergeschrieben hatten, bei der Beichte Schwierigkeiten machten und Bedenken trugen, ihnen die Sakramente zu reichen. Missbilligte auch Papst Paul II., auf Bitten des Kaisers Friedrich, solches Gebaren, mit den Worten: die Gerechtigkeit soll das Gemeingut Aller sein, auch der außerhalb des Glaubens Stehenden — so wussten sieh jene Priester doch ohne Zweifel in Übereinstimmung mit den Gefühlen der Menge. Judenhass üben und Judenhass lehren, führte unfehlbar zur Popularität. Gegen wen sonst als gegen die Geistlichkeit war ein vom Jahre 1390 datiertes Schreiben der uns wohlbekannten Herzogin Agnes gerichtet, worin sie, wenige Tage vor Ostern, dem Rat der Stadt Löwenberg ernstlich gebietet, die Juden daselbst während der heiligen Zeit zu beschirmen und zu bewahren, damit ihnen Niemand ein Leid zufüge? Jener schon genannte Abt Ludolf nimmt keinen Anstand, den Judenmord zu entschuldigen. Er erzählt, dass das Volk zu Prag am Osterfeste 1389 die Juden und ihre Häuser verbrannte, und tadelt den König oder doch seine Ratgeber, weil die Tat sie erzürnt. „Zwar geschah diese Verbrennung der Juden ohne richterliches Verfahren, sagt er; aber einem christlichen König hätte es geziemt, der Juden Freveltat und den Eifer der Christen in Betracht zu ziehen und seinen Zorn zu beschwichtigen". „In früheren Zeiten, ruft er unhistorisch genug, erwies man den Feinden des Kreuzes Christi keineswegs solche Ehre, wie heute!" Damit sollte auf die Fürsten gewirkt werden, die noch immer nicht ihre Hand von den Juden ziehen wollten. Wenn aber an sich schon die nach Universalherrschaft strebende Kirche in den Juden, den „Feinden des Kreuzes Christi", ihre natürlichen Widersacher finden musste und sich mit deren Fortbestehen nur durch die Fiktion aussöhnte, dass dieselben die Erinnerung an Christi Leiden zu erhalten bestimmt seien: so musste dieser Gegensatz jetzt um so deutlicher zum Bewusstsein kommen und um so schärfer in die Erscheinung treten, als die Kirche überhaupt kampfgerüstet dastand, um sich zweier mächtigeren Gegner ihrer Alleingewalt, der böhmischen Ketzer und der ungläubigen Türken, zu erwehren, und hierbei der Volkssympathien mehr als in gewöhnlichen Zeiten bedurfte.