Einführung (Fortsetzung)

Versuchen wir eine andere Lösung. Die Trennung zwischen Christen und Juden war gegeben; das kanonische Gesetz hatte sie von jeher verlangt und der Fanatismus der Kreuzzüge gewaltsam durchgeführt. Das missverstandene Gebot Mosis (III, 18): „Nach ihren Satzungen sollt ihr nicht wandeln" hatte dann wohl auch jüdischerseits die Absonderung befördert. Nicht immer war es so gewesen; es gab eine Zeit, da lebten die Juden mit ihren Mitbürgern in Frieden, Christen besuchten die Synagogen, feierten die israelitischen Feste, zogen oft jüdische Prediger und Richter den christlichen vor; Juden und Christen besuchten einander, speisten zusammen, ja verheirateten sich unter einander *). Aber wie es bezeichnend ist, dass noch um das Jahr 1200 der deutsche Minnegesang von einem Juden, Süßkind von Trimberg, gepflegt wird, ebenso charakteristisch ist sein Entschluss nach erlittener Zurücksetzung:

„Ich fahre auf der Toren Fahrt
mit meiner Kunst fürwahr,
weil mir die Herren nichts wollen geben;
so dass ich ihren Hof will fliehen
Und will mir einen langen Bart
lassen wachsen mit grauen Haaren;
ich will in alter Juden Leben
mich fort von hinnen ziehen.
Mein Mantel, der soll sein lang,
tief unter einem Hute;
demütiglich soll sein mein Gang
und selten mehr singen höfischen Sang,
seit mich die Herren scheiden von ihrem Gute **)".


So waren die Gemüter einander entfremdet. Der inneren Trennung folgte die staatliche nach; und hierbei war es gleich verderblich, dass den Juden erlaubt war, was den Christen verboten, als dass ihnen verboten wurde, was den Christen erlaubt war. Von der Teilnahme am Staatsleben wurden sie entfernt, der Güterbesitz wurde ihnen versagt, der Landbau verleidet — sie hätten sich dafür an dem regen, gewerblichen Treiben der Städte beteiligen können. Aber hier hatte sich ein Bedürfnis gezeigt, das Abhilfe erheischte : dem Kaufmanne und dem Handwerker fehlte es zu ihren größeren und kleineren Unternehmungen wohl oft an barem Gelde; öffentliche Leihanstalten aber, in denen der Staat gegen genügende Bürgschaft und mäßigen Zins Kapitalien auslieh, bestanden noch nicht; denn erst gegen des Ende des Mittelalters kam in Italien der monte di Pietà auf, der nachher auch in Deutschland Nachahmung fand. Nun war dem einzelnen Christen durch Kirchen- und Staatsgesetze das Zinsennehmen verboten, und da damals der größeren Sicherheit wegen alle Geschäfte vor Gericht abgeschlossen wurden, so Hess sich dieses Verbot nicht ohne Gefahr umgehen. Man half sich also mit den Ungläubigen, den Juden; ihnen wurde der Wucher, d. h. das Verleihen ihres Geldes auf Zins, gestattet. Es ist leicht begreiflich, dass die Juden von dieser Erlaubnis, die aus einem volkswirtschaftlichen Bedürfnis hervorgegangen war, ausgedehnten Gebrauch machten, und so wurde zu ihrem großen Verderben der Geldhandel das fast ausschließliche Gewerbe der Juden. Denn auch das ist sehr natürlich, dass die gewissermaßen monopolisierte Befugnis bald zum Missbrauch reizte; kein vernünftiges Gesetz beschränkte den Zinssatz, und Konkurrenz fand nur zwischen ihnen selbst Statt. So schlug eine Maßregel, die für Juden und Christen hätte ersprießlich werden können, völlig ins Gegenteil um, durch die Schuld der Juden sowohl, die sich nicht selbst beschränkten, als der Behörde, die ihnen keine angemessene Schranke zog. Ist's dann ein Wunder, dass der arme Bürgersmann, seufzend unter der Last seiner Arbeit und seiner Schulden, mit Groll, mit Neid auf den Juden neben ihm und auf dessen leichterworbenen Reichtum hinsah?

Daher ist es falsch, die Juden jener Jahrhunderte als die deutschen Parias zu bezeichnen. Sie waren vielmehr gesucht bei Volk und Fürsten; von ihrer Entscheidung hing manches Vornehmen Lieblingsplan, manches Handelsherrn kühne Berechnung, manches Armen kümmerliches Dasein ab. Sie waren, im national-ökonomischen Sinne, eine Macht in der Gesellschaft; denn sie stellten den allzeit mächtigen Einfluss des Geldes dar.
Freilich war sie teuer erkauft, diese Macht. Ich rede nicht von den Erpressungen der Staatsgewalt, die solchen Reichtum gründlich auszubeuten verstand; denn der Reichtum blieb trotz alledem. Aber um die brüderliche Anhänglichkeit der Mitbürger, die damals noch zu gewinnen war, um den unersetzbaren Zusammenhang mit Vaterland und Volk war es geschehen. Diese Macht zehrte vom Marke der Bevölkerung und lud dadurch ihren tiefsten Widerwillen auf sich.

Was half dann der Schutz von außen? Denn auch diesen Schutz verdankte der Jude nicht einer günstigeren Gesinnung, sondern dem selbstsüchtigen Interesse der Fürsten; der Privatvorteil ging ihnen über das öffentliche Wohl. Daher vergaß man des Schutzes, wenn auf anderem Wege größerer Nutzen zu erzielen war. Kaiser Wenzel reduzierte alle Judenschulden in Deutschland auf 15 Prozent, welche von den Ständen des Reiches, zum Dank für diese Huld, an ihn entrichtet werden sollten, und als man hie und da geneigt war, diese Schuldentilgung als eine unbedingte aufzufassen, drohte er mit Aufhebung des Edikts. Bald nahmen auch die städtischen Behörden an dem Judenschutze und dem Judenschutzgelde Teil, und sie erhielten dann vom Kaiser die Erlaubnis, Juden bei sich aufzunehmen und derselben, wie es wohl manchmal heißt, zu „genießen"*). Sie suchten eben dadurch sich um die Kommune verdient zu machen, dass sie die Einkünfte der Kommunalkasse vermehrten. Aber die Auffassung änderte sich; man fing an, auf die Interessen der Bürgerschaft zu achten, und gegen das Ende des Mittelalters lesen wir Gesuche der Magistrate an den Kaiser, in denen um die Erlaubnis gebeten wird, die Juden aus ihren Gebieten zu entfernen. Und Fürst und Rath, die sich bisher in die Vorteile des Judenschutzes geteilt haben, verzichten auf dieselben und geben dem Verlangen der Bevölkerung nach.

Wie unwesentlich hierbei das religiöse Motiv neben dem sozialpolitischen mitgewirkt, leuchtet am besten ein, wenn man diese Judenvertreibungen mit einer gleichzeitigen ähnlichen Erscheinung vergleicht. Italienische Kaufleute, die sogenannten Lombarden oder Kowartschen, hatten, namentlich in Frankreich, das Recht erlangt, Geldgeschäfte zu treiben. Auch sie missbrauchten dieses Recht und machten sich durch ihren Wucher verhasst. Auch sie, obgleich Christen, traf schließlich das Los, aus vielen Städten verjagt zu werden, so dass damals die sprichwörtliche Redensart entstand: enlever quelqu'un comme un Corsin**).

*) Siehe z. B. Wiener, Regesten zur Geschichte der Juden in Deutschland während
des Mittelalters, S. 138, Nr. 266 und S. 190, Nr. 560.
**) Du Gange, Glossarium, s. v. Caorcini

Sei es, zum Schlusse dieser allgemeinen Ansicht und vor Betrachtung der besonderen Verhältnisse Schlesiens, gestattet, noch zwei sehr bezeichnende Beispiele aus der deutschen Judengeschichte kurz anzuführen. Im Jahre 1444 erteilte der Bischof Gottfried von Würzburg den Juden seiner Stadt und seines Stiftes ausgedehnte Privilegien, besonders in Betreff ihres Rechtes, Geld auszuleihen und einzufordern; offenbar waren sie dieses Schutzes und Schirmes dringend bedürftig. Aber schon neun Jahre später, 1453, erlässt er eine neue „Ordnung und Satzung mit den Juden“, der ersteren durchaus entgegengesetzt, die sich einfach dahin resümiert, dass er „in seinem Stifte keine Juden mehr leiden will". Er verbietet ihnen jedes neue Geschäft, befiehlt Abwicklung aller noch schwebenden Schuldsachen und setzt den Tag fest, an dem sie das Stift geräumt haben müssen.*).

Noch merkwürdiger ist der Ausgang in Nürnberg. Kaiser Friedrich III. gestattete den Juden daselbst im Jahre 1470 ihren herkömmlichen Geldhandel auf weitere sechs Jahre und motiviert diese Maßregel damit, „dass gemeiner Nutzen dieser Stadt, die auf dürrem, sandigem, unfruchtbarem Erdstrich gelegen ist, ohne Wucher und Gesuch, besonders zu Handhabung ihrer Kaufmannschaft und Gewerbes nicht wohl bestehen mag, und dass es ein kleines Übel und Unrecht sei, dass die Übung desselben Wuchers der Judenheit, die ja auch sonst aus der Gemeinschaft der christlichen Kirche verdammt sei, geduldet, als dass den Christenmenschen zu wuchern Ursache gegeben werde". Dagegen gebietet Maximilian I. noch vor Ablauf des Jahrhunderts, 1498, den Juden Nürnbergs auf Ansuchen des dortigen Rates, mit ihrer fahrenden Habe aus der Stadt zu ziehen, „als an welcher dem Reich mehr denn an den Juden gelegen sei". Denn sie hätten „durch ihre wucherlichen Händel viele Bürger daselbst dermaßen übernommen und in Schulden eingeführt, dass diese von ihrer Nahrung und häuslichen Ehre und Wohnung gedrängt worden seien". „Weil eure Mitbürger aber, so heißt es weiter in dem kaiserlichen Schreiben an den Rat, meistenteils Handwerks- und Gewerbeleute sind, die ohne Entleihung fremden Geldes oft ihre Hantierung nicht treiben können, und damit in Zukunft wucherliche Händel vermieden bleiben und der Arme durch die Reichen nicht übersetzt werde, sondern sich Jeder neben dem Andern desto besser behelfe und ernähre, so erlauben wir euch in Kraft dieses Briefes, dass ihr Wechselbänke bei euch in der Stadt Nürnberg aufrichten und sie mit Schreibern und Amtsleuten besetzen möget, dergestalt, dass ihr euren Mitbürgern und Einwohnern, die ihr Handwerk und Gewerbe ohne Entleihen und Versetzen nicht wohl treiben könnten, auf ihr Ansuchen Geld leihet und darum Pfand, Bürgschaft und Versicherung nehmet, nach zugesagter Frist aber außer Bezahlung der Hauptsumme einen massigen Zins fordert, um von diesen Zinsen die Beamten solcher Wechselbank zu besolden und einen etwaigen Überschuss zu gemeinem Nutzen der Stadt zu verwenden".

Wir haben es uns nicht versagen können, wenigstens auszugsweise diese Urkunde mitzuteilen, die durch den unmittelbaren Zusammenhang, in welchen sie die Vertreibung der Juden mit jenem nationalökonomischen Fortschritte städtischer Leihhausgründungen setzt, im höchsten Grade aufschlussreich und für die Auffassung der jüdischen Geschichte im Mittelalter geradezu entscheidend wird.

Nachdem wir nunmehr die allgemeinen Grundlinien gezogen, soll das ausgeführtere Bild aus der Vergangenheit Schlesiens, diesen Hauptzügen entsprechend, uns in das volle Leben und Treiben der schlesischen Juden jener Zeit einzuführen und die Entwicklung ihrer Zustände bis zum völligen Abschluss derselben darzustellen versuchen.

*) Würfel, historische Nachrichten von der Judengemeinde der Reichsstadt Nürnberg,
S. 153—154.