1350 bis 1370

Schon im Dezember 1350 wurden von Neuem Juden in Breslau zugelassen, die sich demselben Gewerbe, wie ihre unglücklichen Vorgänger, ergaben. König Karl, der schon im ersten Jahre seiner Regierung, gleich seinem Vater, den Judenzins dem Rate der Stadt überwiesen hatte, teilte fortan die Einkünfte mit demselben, anfangs in keiner bestimmten Proportion, seit 1357 jedoch nach der festen Norm, dass ein Drittel derselben den Konsulen, und zwei Dritteile dem Könige zufielen, der seinen Anteil übrigens einer Gesellschaft Breslauischer Bürger verpachtet hatte. Sogleich fing auch der Magistrat wieder an, Darlehen gegen Zinsen unter der Judenschaft (in Judea) aufzunehmen, so z. B. im Jahre 1351 ein Kapital von 500 Mark, 1352 575 Mark. Diesen hohen Summen entsprachen zwar die Judeneinnahmen nicht, aber sie waren im Steigen begriffen, denn sie beliefen sich im Jahre 1352 auf etwas über 90 Mark, 1353 auf mehr als 100 Mark, und so wäre es gewiss fortgeschritten, wenn nicht schon im Jahre 1354 wieder eine neue Erschütterung der Sicherheit und des Vertrauens erfolgt wäre. Die Boten des Herzogs von Schweidnitz haben, so meldet gegen Ende dieses Jahres der Magistrat dem König, nachdem sie ihre sonstigen Geschäfte in Breslau erledigt, ohne Wissen der städtischen Behörde zwei der angeseheneren und reicheren Juden der Stadt entführt; und so wollen nun, heißt es weiter, alle Juden von uns wegziehen, obgleich ihnen jedes von Seiten des königlichen Herrn sowohl als auch der Stadt erteilte Versprechen unverbrüchlich gehalten worden ist. Wer waren die Zwei? Was mochten sie gegen Herzog Bolko begangen haben? Welches Schicksal traf sie, nachdem er sich ihrer bemächtigt hatte? Die Geschichte redet oft nur in Andeutungen zu uns, und indem sie alsdann an die Phantasie sich wendet, wirkt sie gerade um so ergreifender. Wer die Geraubten gewesen, lässt sich mit einiger Gewissheit aus den Judenverzeichnissen ersehen. Die bedeutendste jüdische Familie in Breslau war damals unstreitig die der Salda, der Witwe Smogils aus Schweidnitz, gewöhnlich Salda Smogelissa genannt; ihr Sohn Ysaac kommt schon 1347 vor war also der allgemeinen Verfolgung des Jahres 1349 glücklich entgangen; er besitzt Weib und Kinder, darunter schon eine verheiratete Tochter. Außer ihm hat Salda auch eine Tochter Zusa, die an Lawentin verheiratet ist, und einen zweiten Sohn Smogil, der zwischen den Jahren 1351 und 1354 zum Rabbiner erwählt wird *). Lawentin und Zusa erfreuen sich gleichen Kindersegens, wie Ysaac; ihr Schwiegersohn Vreudil ist sogar selbst schon Familienvater4). So erscheint Salda Smogelissa als die greise Matrone eines zahlreichen, durch hohen Wohlstand beglückten Geschlechtes. Denn Niemand kommt dieser Familie in der Höhe des jährlichen Zinses gleich; sie hat viele Diener und Hausgenossen; ein Schreiber Lawentins wird als selbständiges Gemeindemitglied aufgeführt. Ihr Wohltätigkeitssinn lässt auch Andere ihres Reichtums genießen: Ysaac entrichtet für Wilczko aus Namslau die Hälfte von dessen Zins und ermöglicht in ähnlicher Weise acht anderen Glaubensgenossen den Aufenthalt in Breslau a). Gerade diese zwei Männer aber, Ysaac und Lawentin, scheinen die Opfer jenes Raubes gewesen zu sein; es sprechen dafür mehrere Umstände. Zunächst der, dass sie aus Schweidnitz sind, wie ausser ihnen keiner unter den namhafteren Juden. Während sie ferner in den Jahren 1350 — 1354 stets in vorderster Reihe stehen — Lawentin erscheint nach dem Judenmorde von 1349 als der Erste, der sich in Breslau wieder niederlässt — , geschieht ihrer von jenem Jahre ab mit keinem Worte weiter Erwähnung. Endlich hatte sich Lawentin schon im November 1351 von den Ratmännern Breslaus geloben lassen, dass weder der König noch sie selbst auf irgend wessen Bitte, Verlangen oder Drohung, namentlich auch wenn diese von Seiten des Herzogs von der Schweidnitz käme, ihm den Vertrag aufkündigen würden. Erfahren wir hieraus auch die Ursache des herzoglichen Zornes nicht, so gewinnen wir doch die Gewissheit, dass Lawentin, dem der König und die Stadt eine Zuflucht gewährten, kein Verbrechen begangen haben konnte. So zertrümmerte, kurze Zeit nach dem verhängnisvollen Jahre 1349, eine neue Gewalttat das Glück einer blühenden Familie, sie verschwindet aus unseren Augen — wer will sagen, wie sie geendet?

Der Vorfall machte auf die Juden Breslau's einen tiefen Eindruck. Anfangs wollten sie, wie gesagt, insgesamt eine Stadt verlassen, die ihren Schutzbefohlenen keine ausreichende Sicherheit bot; dass es ein Teil von ihnen tat, beweist der verminderte Ertrag des Judenzinses in den Jahren 1355 und 1356, der sich indessen schon 1357 wieder fast auf das Dreifache, nämlich auf 60 Mark, erhebt, 1358 auf gleicher Höhe bleibt, im nächsten Jahre abermals um die Hälfte sinkt, 1360 jedoch wieder bis auf 40 Mark steigt. Waren solche Schwankungen in der Höhe des Zinsgeldes früher, als die Juden noch erbliche Wohnsitze in der Stadt hatten, nur durch die alljährlich wechselnden Bestimmungen des Etats erklärlich, so kam jetzt ein neuer Erklärungsgrund hinzu. So viel wenigstens aus den uns vorliegenden Urkunden ersichtlich ist, wurde den Juden seit dem 28. Mai 1349 nicht wieder eine lebenslängliche oder gar erbliche Niederlassung in Breslau gestattet; die erste Erlaubnis erstreckte sich vom 24. Dezember 1350 bis zum 2. Februar 1351, und später wurde es Gewohnheit, sie auf 2—6 Jahre auszudehnen. Nach Ablauf dieser Frist erlosch das Aufenthaltsrecht, und der Jude musste, wenn es nicht verlängert wurde, von Neuem den Wanderstab ergreifen. Das war die bleibende Folge jenes Unglückstages, gewissermaßen ein Kompromiss zwischen dem Volkswillen, der durch jene revolutionäre Tat sich für völlige Beseitigung des jüdischen Elementes ausgesprochen hatte, und der Staatsgewalt, die es in ihrem Interesse fand, die gewaltsam Verdrängten allmählich wieder zuzulassen. Traurige Neuerung! Wo hatte der Breslauische Jude nun seine Heimat? Der reinsten Freuden, der zartesten Empfindungen ging er verlustig, da er keine Heimat mehr besaß. Welche Verkümmerung musste für die Jugend, welche Trostlosigkeit für die Greise daraus erwachsen, dass sie ohne Heimat waren!


Die neue Maßregel konnte nicht ohne die eingreifendste Wirkung auf die inneren und äußeren Verhältnisse der Juden sein. In stetem Wechsel ab- und zuziehend, konnten sie weder mit einander, noch mit den Bürgern der Stadt in irgend welche innigere Beziehung treten. Freilich gestaltete sich die Praxis etwas milder. Die Aufenthaltskarten wurden mehrere Male erneuert, meist lange vor Ablauf der alten Frist, und nicht selten unter Erhöhung des Zinsgeldes; wirklich wiederholt sich in den drei noch vorhandenen Judenregistern von 1351, 1357 und 1359 ein großer Teil der Namen, und es herrscht besonders zwischen den letzteren zwei Verzeichnissen eine fast wörtliche Übereinstimmung, selbst in der Höhe des Geschosses. Kaiser Karl IV. hatte nämlich schon im Januar 1359, während seiner Anwesenheit zu Breslau, dem Hauptmanne und dem Rate der Stadt den Befehl erteilt, die am Walpurgistage, d. J. am 1. Mai des Jahres, ablaufenden Schutzbriefe aller Juden zu Breslau, Neumarkt, Namslau und Guhrau (denn diese Städte waren dem Breslauer Magistrate untergeben) auf fernere zwei Jahre zu erneuern, mit dem ausdrücklichen Zusatze, dass sie „bei ihren alten Geschossen ungehöht und ungemehrt bleiben sollen dieselbe Frist", aber auch mit der Einschränkung, dass nur wer neue Gedinge tun, d. h. einen neuen Vertrag machen und einen Ratsbrief darüber nehmen würde, kein Anderer dieser kaiserlichen Gunst teilhaftig werden solle. Darauf erfolgten dann im Februar die entsprechenden Schritte des Magistrates, und es wurde endlich das Zinsregister festgestellt, wie es vom 1. Mai ab für die Dauer zweier Jahre Gültigkeit haben sollte *).

*) Urk. Nr. 27. Die Nachricht des Rositz, dass „über die Juden im Jahre 1360 wieder ein schweres Ungewitter zusammenzog und dass man alle, deren man habhaft werden konnte, erschlug" (Klose a. a. O. II, 1,216, nach Sommersberg, Script, rer. Siles. I, 71) , stelle ich, weil sie mir nicht hinlänglich beglaubigt scheint, in diese Anmerkung.

Aber welch' ein Dasein das, in dem das ursprünglichste Recht des Menschen, eine Wohnstätte zu besitzen, von fremder Gnade abhängig war! Was galt dem Juden sein Geburtshaus, seine Geburtsstadt? Nach wenigen Jahren vielleicht musste er Beide verlassen, um sie nie wieder zu sehen. Er wurde von den Bürgern nicht als Mitgeborener geachtet und kannte die verwandtschaftsähnliche Liebe nicht, welche Landsleute mit einander verbindet. Er war als Fremdling angesehen, dem ein vorübergehendes Verweilen gestattet und für die kurze Dauer Sicherheit gewährt wurde. Man bezeichnete diesen Zustand sehr treffend mit dem Worte Frieden (pax, vrede) oder Waffenstillstand (treugae). War die bewilligte Ruhezeit vorüber, so trat gleichsam wieder- der Kriegszustand ein, und der Schutzlosgewordene musste eine neue Zufluchtsstätte suchen.

Vergegenwärtigen wir uns näher das Einzelleben eines solchen Juden. Er hat auf einige Jahre „einen rechten, steten, ganzen Frieden" erhalten, darf also mit seiner Familie, soweit diese nicht ihr eigen Geld und eigene Geschäfte hat, mit seinem Gesinde und allen seinen „Brotessern" (commensales) „sicheres Leibes und Gutes" in die Stadt ziehen und mit den Bürgern darin „wohnen, stehen, gehen, sitzen, essen, trinken, schlafen, wachen, sein Geld ausleihen und wieder einfordern und seinen Nutzen mit seinem Gelde suchen auf jede ihm bequeme Weise". Dieser Sicherheitsbrief des Rates ist gewöhnlich schon einige Wochen oder Monate vorher ausgestellt und ihm selbst oder einem Freunde für ihn (ad ejus manus) eingehändigt worden. Am festgesetzten Tage trifft er mit den Seinen ein; geschieht es am 1. Mai, dem Walpurgistage, was häufig der Fall gewesen zu sein scheint, so entrichtet er sogleich die erste Hälfte seines Jahrgeschosses; die andere Hälfte zahlt er, das war stehende Einrichtung, am 1. Oktober. Hiermit ist er aller Pflichten gegen die Stadt ledig; sein Schutzbrief schirmt ihn ausdrücklich vor aller Beschatzung und Bede; was kümmert ihn die Verwaltung, die Verschönerung, die Verteidigung der Stadt? Er bezieht ein Haus, das er vor seinem Eintreffen gekauft hat oder für sich kaufen lassen; es ist ihm auch erlaubt, ein neues Haus zu bauen. Ob überall in der Stadt? Diese Frage beantwortet das 15. Jahrhundert mit dem Vorhandensein einer Judengasse in Breslau welche sich zwischen der Schuhbrücke, der Schmiedebrücke und der Stockgasse hinzog. Kein Gesetz hatte sie geschaffen, aber der vieljährige Gebrauch wurde schließlich Gesetz. Zunächst war es das Natürlichste, dass der neue Ankömmling in der fremden Stadt in ein Haus oder doch in die Nähe seiner Glaubensgenossen zu ziehen wünschte. Nun ging er an sein unglückseliges Gewerbe, den Zweck seiner ganzen Ansiedlung, das einzige Band zwischen ihm und der christlichen Bevölkerung: er leiht Geld aus auf Zins und mahnt es wieder ein „nach jüdischen Sitten, seinem Frieden unbeschadet". Der gewöhnliche Zinsfuß ist 20 Prozent; erfolgt aber am Verfalltage die Zahlung nicht, so wuchert fernerhin jede Mark wöchentlich einen halben Groschen, also jährlich 26 Groschen, d. i. 2 Groschen mehr als eine halbe Mark, so dass sich der Gewinn auf 54 1/6 Prozent beläuft. Wenn der Jude auf die Bezahlung nicht länger warten will, so muss der Schuldner ihn mit barem Gelde oder mit ausreichenden Pfandstücken zufriedenstellen, und der Rath der Stadt ist verpflichtet, dem Gläubiger, wenn es Not tut, zu seinem Rechte zu verhelfen: eine Verpflichtung, der er sich, namentlich gegen vornehme Schuldner, wohl oft entzogen haben mag, weshalb ein freilich, wie es scheint, fingierter Brief den Zusatz hat, dass der Rat Niemand, der dem Juden den Frieden breche, zu Hulden nehmen und jeder Beschwerde über einen Bruch des Gelübdes gerecht werden wolle. Unter den Juden selbst zeigt sich auch jetzt hin und wieder die Lust, sich abzusondern; zwar ist es nicht wahrscheinlich und nirgends angedeutet, dass die frühere Gemeinsamkeit der Zinspflicht noch fortbestand, so dass eine Trennung von der Gesamtheit materiellen Nutzen gebracht hätte. Aber die menschliche Eitelkeit schuf auch in diesen, von der übrigen Gesellschaft ausgeschlossenen Kreisen eine Rangordnung, offenbar nach dem Vermögen; und während das vorerwähnte reiche Geschlecht der Smogelissa sich ein warmes Herz für die Glaubensbrüder bewahrt und sich von ihnen in nichts abgesondert hat, begegnen uns im Jahre 1357 zwei nur mittelreiche Familien, die des Lazarus von Nachod und der Czesslawa Jacobissa von Braunau, deren jede für die nächsten zwei Jahre in ihrem Hanse oder bei einem Freunde eine freie Synagoge halten darf, um selbst, samt ihren Freunden, hineinzugehen, und „von der Gemeinde in allen Dingen gesondert bleiben soll". Doch kann sich dies Privileg nicht auf das sogenannte „jüdische Recht" erstreckt haben, bei dem der Rath auch sie, wie alle Anderen, „zu behalten" gelobt. Darunter versteht man nämlich die Gerichtsbarkeit des Rabbiners in Zivilstreitigkeiten der Juden unter einander; er ladet sie vor sich, schlichtet, straft und verhängt selbst mehrtägigen Bann. Wir sehen, eine innere Organisation hat sich, trotz der wesentlich veränderten Verhältnisse, wieder gebildet; die Judenschaft, wie sehr auch immer zusammengewürfelt, hat sich als Gemeinde konstituiert, mit einem geistlichen Oberhaupte oder Bischof, Namens Ysaac, einem Schwiegersohne der Lazarissa von Liegnitz, der in diesem Amte zuerst 1353 erscheint und es noch 1359 bekleidet; mit Scholaren, wahrscheinlich Talmudschülern des Rabbiners; mit Lehrern, die teils Schule hielten, teils einzelnen Häusern angehörten, darunter ein Israel aus Köln, Hauslehrer des Arnold von Görlitz; mit Glöcknern, d. h. Synagogendienern, Pergamentschreibern und Fleischern. Von den sonstigen Gemeindemitgliedern wäre nur noch, als in ihrer Art einzige Erscheinung, der Augenarzt Abraham hervorzuheben. Denn das Geistesleben der deutschen Juden stand damals nicht in Blüte; es fehlte den Studien sowohl der innere Wert als die äußere Geltung. Was insbesondere die jüdische Wissenschaft betrifft, so wurde über dem Talmud die Bibel vergessen, und selbst der Talmud war viel mehr Gegenstand witzigen Spielens, als emsigen Fleißes. Wer sich gründlich mit der Bibel befasste, galt für einen Toren, und die Kinder ließ man bereits mit dem Ende des fünften Jahres die heilige Schrift beseitigen. Die damaligen Autoren selbst nennen ihr Zeitalter ein verwaistes. Geldbesitz war eines Jeden Ziel, und nur der Arme machte aus dem Studium seinen Lebenserwerb. Unsere Zinsregister bestätigen das; der Augenarzt zahlt jährlich eine halbe Mark, ein Lehrer nur den vierten, ja selbst den achten Teil einer Mark; des Bischofs Amtsbote Aaron wird auf Fürbitte Jakobs von Neisse auf ein Jahr ganz von der Zinspflicht befreit; der Bischof Ysaac selbst ist 1357 mit 1 ½ Mark oder 35 Thalern unseres Geldes, also ziemlich hoch besteuert; aber so lautete nur der Soll-Etat, denn am Rande heißt es: „hat nichts gezahlt". Nicht in den höheren Berufskreisen also repräsentiert sich die Judenheit jener Tage; das Urbild eines Juden der damaligen Zeit können wir vielmehr nur in dem praktischen Geschäftsmanne erblicken, der, wie wir oben zu schildern begonnen, die ihm zugemessene Zeit benutzt, sein Geld auszuleihen und wieder einzufordern, es zu „abenteuern", wie auch wohl der Ausdruck lautet. Er beschränkt sich nicht auf den städtischen Verkehr; der Kaiser hat ja allen Fürsten und Städten Schlesiens ausdrücklich geboten, die Juden, „wenn sie zu ihren Freunden oder in anderen Geschäften über Land reisen, treulich zu schirmen und zu hüten, so lieb ihnen sei, seine Huld zu behalten". Es kann auch geschehen, dass es des Einzelnen Interesse erheischt, noch vor Ablauf des Termins die Stadt zu verlassen; alsdann wird ihm freier Abzug gestattet und es ist Keinem benommen, ihm sicheres Geleit zu geben; das Vertragsverhältnis ist gelöst. Doch machte es sich die Stadt im Jahre 1354 zur Bedingung, dass der Jude in diesem Falle den Schutzbrief zurückgab; so lange er ihn behielt, blieb er zinspflichtig. 1357 endlich wurde dieser Punkt einfach so geordnet, dass die Juden während der bewilligten zwei Jahre ungehindert ab- und zuziehen dürften, doch so, dass der volle Zins entrichtet würde. Die Stadt versprach, ihrerseits sie während der verabredeten Frist nicht „von hinnen zu urlauben" , d. h. sie nicht gewaltsam von Haus und Hof zu drängen. Wenn aber endlich die Zeit abgelaufen war und der Vertrag nicht erneuert wurde, dann musste geschieden werden. Dann verkaufte der Jude Haus und Hof, an wen er wollte, an Christen oder Juden. Gelang ihm das vor seinem Wegzug nicht, so hatte er noch ein halbes Jahr lang freien Zutritt zur Stadt, um sein Eigentum zu verreichen. Wenn jedoch auch diese Zeit unverrichteter Dinge vergangen war, so wurde das Grundstück Eigentum der Stadt, die darüber frei verfügen durfte.

In der Natur unserer Quellen liegt es — denn unsere Darstellung beruht hauptsächlich auf den Urkunden der beiden Breslauischen Archive, des städtischen und des Provinzial-Archivs, — dass die vorliegenden Mittheilungen sich meist auf die Vorgänge und Zustände der Hauptstadt beschränken. Erwägt man aber, dass in Breslau schon damals unzweifelhaft eine der bedeutendsten schlesischen Judengemeinden war und dass namentlich nach der Einordnung des Landes in das Königreich Böhmen eine größere Gleichmäßigkeit in den Einrichtungen der Städte herrschte, so dürfen wir wohl mit Recht in dem Bilde der Hauptstadt die Physiognomie der ganzen Provinz erkennen. Um so erwünschter ist es, dass das Provinzial-Archiv gerade über Schweidnitz-Jauer, die einzige bis ans Ende des Jahrhunderts unabhängig gebliebene Landschaft, einige Aktenstücke enthält, welche den hauptstädtischen teils analog sind, teils zur Ergänzung dienen. Wir berühren daher nur mit wenigen Worten, was sowohl Herzog Bolko ein Jahr vor seinem Tode, als auch seine Witwe Agnes kurze Zeit nach dem Ableben ihres Gemahls, jener auf drei, diese auf vier Jahre den Juden ihres Fürstentums in Betreff des äußeren Rechtsschutzes versprechen. Es ist die übliche Gewährleistung für die Sicherheit der Personen und des Eigentums; Bolko bewilligt ihnen sowohl für anerkannte, als auch nur geltend gemachte Schuldforderungen die Ausstellung gerichtlicher Beglaubigungen oder Schöppenbriefe, „über Hauptgut und Wucher". Er normiert ferner, um Willkür zu verhüten, alle Strafgelder und Appellationsgebühren für die Juden, nach dem Gebrauche jener Zeit, auf ein Pfund Pfeffer, in heutiger Münze so viel als etwa drei Thaler. Auch hier werden sie „liebe Kammerknechte" genannt und es wird „der freundlichen Gunst" gedacht, die der Herzog zu ihnen trage; aber auch hier ist ihr Reichtum unzweifelhaft; ihre eigenen, so wie fremde Fürsten, schulden ihnen hohe Summen und es wird außer dem hohen Jahreszinse von 400 Mark ausdrücklich noch die Bede, d. h. der Anspruch auf außerordentliche Hilfe, vorbehalten, den die Fürstin auf sie haben solle. Zeichnen sich aber schon diese zwei Dokumente vor anderen ähnlichen dadurch aus, dass sie keines Einzelnen Privilegium sind, sondern der Gesamtheit der Juden gelten, so ist dagegen ein drittes Aktenstück, vom 21. März 1370, das sich fast ausschließlich mit Hebung des inneren Gemeindelebens befasst, von ungleich höherem Interesse.

Veranlassung zu diesem Erlasse der Herzogin Agnes gab eine aus uns unbekannten Gründen geschehene Kränkung des religiösen Bewusstseins der Juden. Derselbe beginnt ungefähr so: „Nachdem wir die Beschwerden und Betrübnisse angesehen und zu Herzen genommen, welche unseren Juden zu der Schweidnitz, unseren getreuen Kammerknechten, ohne alle ihre Schuld dadurch entstanden sind, dass ihnen ihre Schule verschlossen worden, so dass sie nicht nach ihrem jüdischen Rechte Gott loben konnten: so haben wir, kraft unserer fürstlichen Gewalt und aus besonderer Gnade, die wir zu ihnen tragen, den obgenannten Juden, allen gemeinlich, ihre Schule wieder übergeben, dergestalt, dass ihnen dieselbe Schule in künftigen Zeiten nie mehr von unsertwegen oder von eines Andern wegen, dieweil wir leben, verschlossen werden soll". Als Ausnahme statuiert die Fürstin freilich den Fall, dass die Juden ihr den schuldigen Zins nicht zahlen wollten, so dass sie darum die Schule schließen müsste; hierüber solle sie dann von ihnen ungemahnt bleiben. Dagegen verspricht sie, verleumderischen Anklagen gegen die Gemeinde der Juden oder Einzelne von ihnen keinen Glauben schenken und nur nach Anhörung des Gemeindevorstandes und „bei ganzem, wahrhaftigem Wissen" strafend einschreiten zu wollen. Hieran knüpft sich sodann eine Reihe anderer Gnadenbezeugungen. Zuvörderst wird die Schweidnitzer Gemeinde zur Metropole aller übrigen Gemeinden des Fürstentums, z. B. derer von Jauer, Striegau, Reichenbach, Nimptsch erhoben; hierher soll die Zahlung des Geschosses, hierher die Ladung nach jüdischem Rechte erfolgen; die Schweidnitzer Synagoge ist die Hauptsynagoge des Fürstentums und der Schweidnitzer Kirchhof die Begräbnisstätte Aller; es wird wiederholt eingeschärft, dass Niemand sie an ihrer Schule, noch an ihrem Kirchhofe, noch an Allem, was zu ihrem Gotteshause gehöre, hindern solle. An der Spitze der Gemeinde stehen vier alljährlich neu zu wählende Vorsteher, kurzweg die „Viere" genannt. Auf diese eine Wahlhandlung beschränkt sich jedoch das allgemeine Wahlrecht nicht; auch sämtliche Beamte der Gemeinde, die Vorsänger, die Schlächter, die Glöckner, werden durch Abstimmung aller Mitglieder eingesetzt und, „wenn sie ihnen nicht füglich sind", auch wieder abgesetzt. Dasselbe gilt vom obersten Diener der Gemeinde, dem Rabbiner. „Wir geben ihnen auch das zu Gnaden, sagt die Herzogin, dass sie einen Bischof ernennen mögen, einen biderben Mann, der aller Gemeinde füglich sei; und wenn ihnen derselbe nicht füglich wäre, so mögen sie ihn binnen einem oder zwei Jahren absetzen und ihm sein Recht geben und darauf einen anderen wählen, der ihnen füglich ist. Sollten sie aber keinen Bischof zu halten vermögen, so sollen die Vier, die alle Jahre von der Gemeinde gekoren werden, Gewalt haben, alle Verletzungen jüdischen Rechts unter ihnen zu richten, oder sie sollen an einen biderben Mann senden und sich bei ihm Belehrung holen, damit dem Armen wie dem Reichen sein Recht geschehe". Im Übrigen soll „kein Bischof in allen Landen, er sei wer er sei, über die Juden zu Schweidnitz und in unserem ganzen Lande Macht haben, ihnen irgend etwas zu gebieten, außer dem Bischofe allein, der von ihnen gemeinschaftlich hier zu der Schweidnitz gekoren wird". Ebenso merkwürdig aber, wie diese konsequent festgehaltene Autonomie der Gemeinde, ist das über Alles gestellte Prinzip dieser Selbstregierung, wonach jede Entscheidung in die Hände der Majorität gelegt und allen Absonderungsgelüsten entgegengetreten wird. „Wenn sich Jemand aus der Gemeinde der Juden ziehen und etwa gegen die Gemeinde und gegen die gekorenen Vier nach seinem Willen leben und nicht gehorsam sein wollte: des Wille soll keinen Fortgang haben, sondern was die meiste Menge haben will, das soll sein, des sollen auch die anderen gefolgig sein, und dazu wollen wir ihnen helfen und raten". Ja, die Mehrheit soll selbst über die Annahme oder Ablehnung dieser herzoglichen Vorschriften entscheiden. „Wenn sich Einige, so heißt es gegen das Ende, wider die Gnaden und wider die Stücke alle, die oben geschrieben sind, setzen wollten, so meinen wir: wo die meiste Menge hin ziehet, da sollen sie auch hin folgen". Ohne Zweifel fanden diese freisinnigen und verständigen Bestimmungen, die ein überraschendes Stück mittelalterlicher Gesetzgebung sind, freudige Aufnahme bei den Juden, und es ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, dass sie unter der noch 22 Jahre fortdauernden Regierung der Herzogin Agnes (sie starb 1392) reiche Früchte getragen. Wir geben hierbei gern einer Vermutung Raum. Unter den 27 bedeutendsten Gesetzeslehrern des 14. Jahrhunderts — eine Zahl, die sich im 15. sogar auf 19 reduziert — nennt Zunz aus dem Jahre 1380 einen Rabbi „Oser aus Schlesien". Diesen Namen aber trägt der Judenbischof zu Schweidnitz in einer Urkunde vom Jahre 1369, und es ist ohne Zweifel derselbe, dem 1377 an einer Schuldforderung seines Schwiegervaters Lazar, gleichwie dessen Söhnen und ihren Erben, ein Anteil zuerkannt wird. Dürfen wir ihn also mit jenem „Oser aus Schlesien" für identisch halten, so erscheint uns hier ein Rabbiner, der sich von seinen gleichzeitigen Standesgenossen nicht nur durch höhere Gelehrsamkeit, sondern auch dadurch unterschied, dass er die talmudischen Studien nicht um des bloßen Lebensunterhaltes willen ergriffen hatte. Und wie er selbst wohl die Anregung dazu schon im Elternhause und in der ihn umgebenden Gemeinde gefunden, so erweckte sein Beispiel gewiss mannigfache Nacheiferung, und es sammelte sich um den Meister, wie es auch anderswo zu geschehen pflegte, ein Kreis strebsamer Schüler. So bietet die Schweidnitzer Judenschaft uns das Bild einer reichen, wohl geordneten, durch wissenschaftliche Regsamkeit ausgezeichneten Gemeinde.