Die gute Mutter.

Im Jahre 1796, als die französische Armee nach dem Rückzug aus Deutschland jenseits hinab am Rhein lag, sehnte sich eine Mutter in der Schweiz nach ihrem Kind, das bei der Armee war, und von dem sie lange nichts erfahren hatte, und ihr Herz hatte daheim keine Ruhe mehr. „Er muss bei der Rheinarmee sein“, sagte sie, „und der liebe Gott, der ihn mir gegeben hat, wird mich zu ihm führen“, und als sie auf dem Postwagen zum St. Johannistor in Basel heraus und an den Rebhäusern vorbei ins Sundgau gekommen war, treuherzig und redselig, wie alle Gemüter sind, die Teilnehmung und Hoffnung bedürfen, und die Schweizer ohnedem, erzählte sie ihren Reisegefährten bald, was sie auf den Weg getrieben hatte. „Find’ ich ihn in Kolmar nicht, so geh’ ich nach Strassburg, find’ ich ihn in Strassburg nicht, so geh’ ich nacher Mainz.“ Die andern sagten das dazu und jenes und einer fragte sie: „Was ist denn Euer Sohn bei der Armee? Major?“ Da wurde sie fast verschämt in ihrem Inwendigen. Denn sie dachte, er könnte wohl Major sein oder so etwas, weil er immer brav war, aber sie wusste es nicht. „Wenn ich ihn nur finde“, sagte sie, „so darf er auch etwas weniger sein, denn er ist mein Sohn.“ Zwei Stunden herwärts Kolmar aber, als schon die Sonne sich zu den Elsässer Bergen neigte, die Hirten trieben heim, die Kamine in den Dörfern rauchten, die Soldaten in dem Lager nicht weit von der Strasse standen partienweise mit dem Gewehr beim Fuss, und die Generale und Obersten standen vor dem Lager beisammen, diskurierten miteinander, und eine junge, weissgekleidete Person von weiblichem Geschlecht und feiner Bildung stand auch dabei und wiegte auf ihren Armen ein Kind. Die Frau im Postwagen sagte: „Das ist auch keine gemeine Person, da sie nahe bei den Herren steht. Was gilt’s, der, wo mit ihr redet, ist ihr Mann.“ Der geneigte Leser fängt allbereits an, etwas zu merken, aber die Frau im Postwagen merkte noch nichts. Ihr Mutterherz hatte keine Ahndung, so nahe sie an ihm vorbeigefahren war, sondern bis nach Kolmar hinein war sie still und redete nimmer. In der Stadt im Wirtshaus, wo schon eine Gesellschaft an der Mahlzeit sass, und die Reisegefährten setzten sich auch noch, wo Platz war, da war ihr Herz erst recht zwischen Bangigkeit und Hoffnung eingeengt, da sie jetzt etwas von ihrem Sohn erfahren könnte, ob ihn niemand kenne, und ob er noch lebe, und ob er etwas sei, und hatte doch den Mut fast nicht zu fragen. Denn es gehört Herz dazu, eine Frage zu tun, wo man das Ja so gerne hören möchte, und das Nein ist doch so möglich. Auch meinte sie, jedermann merke es, dass es ihr Sohn sei, nach dem sie frage, und dass sie hoffe, er sei etwas geworden. Endlich aber, als ihr der Diener des Wirts die Suppe brachte, hielt sie ihn heimlich an dem Rocke fest und fragte ihn: „Kennt Ihr nicht einen bei der Armee, oder habt Ihr nicht von einem gehört, so und so?“ Der Diener sagt: „Das ist ja unser General, der im Lager steht. Heute hat er bei uns zu Mittag gegessen“, und zeigte ihr den Platz. Aber die gute Mutter gab ihm wenig Gehör darauf, sondern meinte, es sei Spass; der Diener ruft den Wirt. Der Wirt sagt: „Ja, so heisst der General.“ Ein Offizier sagte auch: „Ja, so heisst unser General“, und auf ihre Fragen antwortete er: „Ja, so alt kann er sein“, und „Ja, so sieht er aus und ist von Geburt ein Schweizer.“ Da konnte sie sich nicht mehr halten vor inwendiger Bewegung und sagte „Es ist mein Sohn, den ich suche“; und ihr ehrliches Schweizergesicht sah fast ein wenig einfältig aus vor unverhoffter Freude und vor Liebe und Scham. Denn sie schämte sich, dass sie eines Generals Mutter sein sollte vor so vielen Leuten, und konnte es doch nicht verschweigen. Aber der Wirt sagte: „Wenn das so ist, gute Frau, so lasst herzhaft Eure Bagage abladen ab dem Postwagen, und erlaubt mir, dass ich morgen in aller Frühe ein Kaleschlein anspannen lasse und Euch hinausführe zu Eurem Herrn Sohn in das Lager.“ Am Morgen, als sie in das Lager kam und den General sah, ja, so war es ihr Sohn, und die junge Frau, die gestern mit ihm geredet hatte, war ihre Schwiegertochter, und das Kind war ihr Enkel. Und als der General seine Mutter erkannte und seiner Gemahlin sagte: „Das ist sie“, da küssten und umarmten sie sich, und die Mutterliebe und die Kindesliebe und die Hoheit und die Demut schwammen ineinander und gossen sich in Tränen aus, und die gute Mutter blieb lange in ungewöhnlicher Rührung, fast weniger, dass sie heute die Ihrigen fand, als darüber, dass sie sie gestern schon gesehen hatte.--Als der Wirt zurückkam, sagte er, das Geld regne zwar nirgends durch das Kamin herab, aber nicht zweihundert Franken nähme er darum, dass er nicht zugesehen hätte, wie die gute Mutter ihren Sohn erkannte und sein Glück sah; und der Hausfreund sagt: Es ist die schönste Eigenschaft weitaus im menschlichen Herzen, dass es so gerne zusieht, wenn Freunde oder Angehörige unverhofft wieder zusammenkommen, und dass es allemal dazu lächeln oder vor Rührung mit ihnen weinen muss, nicht ob es will.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Bd 2