Der Talhauser Galgen.

„Wann bringt man denn die Juden? Es kommt ja niemand“, sagte zu dem Vogt von Gillmannshofen endlich der Obmann. Nämlich der Vogt war Tages vorher in der Stadt gewesen und hatte sich bei dem Herrn Amtmann Rates erholt in irgend einer Sache. „Es ist ganz gut“, sagte der Amtmann, „dass Ihr da seid: hier sind vier Oberamtsbefehle an Euch, die könnt Ihr nun selber mitnehmen.“ Als der Vogt in den Roten Löwen zurückgekommen war, während er fortfuhr, wo er vorher war stehen geblieben, nämlich am fünften Schöpplein, zog er die vier Befehle aus der Tasche, ob er ihnen nicht vorderhand aussen ansehen könne, was inwendig stehen möchte, wie man bisweilen seltsamerweise tut. Hernach schob er die Befehle wieder in die Rocktasche. Hernach bei dem sechsten Schöpplein legte er die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme und schlief ein. Lustige Herren sassen an einem andern Tisch, und der durchtriebenste von ihnen, einer wie der Herr Theodor, sagte: „Ich will einen Spass machen.“ Nämlich er schrieb einen falschen Befehl, dass, da morgen den 15ten drei Juden sollen gehenkt werden, so habe sich der Vogt von Gillmannshofen mit vierundzwanzig Mann und einem Obmann, nicht minder sämtlichen Schulkindern bei dem Talhauser Galgen früh um 9 Uhr unfehlbar einzufinden. Hernach zog er dem Vogt einen Befehl heimlich aus der Tasche und schob an dessen Stelle den falschen hinein. Auf dem Heimwege nach Gillmannshofen fing doch der Vogt an die Befehle aufzutun, was der Amtmann wieder mit ihm wolle, und als er anfing, den falschen Befehl zu lesen, „das muss ein Irrtum sein“, sagte er zu sich selber, und ging in die Stadt zurück, um den Amtmann darüber zu befragen. Der Amtmann und seine Frau und der Herr Oberrevisor und seine Frau ergötzten sich nach des Tages Last und Arbeit mit einem Kartenspiel. „Was wollt Ihr schon wieder“, fuhr ihn der Amtmann an, „seht Ihr nicht, dass Gesellschaft bei mir ist?“ Der Vogt wollte ihm erklären, dass er einen Anstoss habe an einem von den Befehlen, und dass er meine--“Ein unruhiger Kopf seid Ihr“, sagte der Amtmann, wie er’s denn auch wirklich war. „Ihr habt nichts zu meinen-- Gehorsam habt Ihr zu leisten, was man Euch befiehlt, und damit Punktum. Seid Ihr noch nicht genug gestraft worden?“ Demnach so ging der Vogt wieder seines Wegs, und den andern Morgen zog er mit einer Rotte von vierundzwanzig Mann und einem Obmann und der Herr Schulmeister mit der Schuljugend und viele Freiwillige nach dem Talhauser Galgen, der linker Hand auf einer kleinen Anhöhe steht, wenn man von der Neuhauser Mühle in die Stadt geht. „Es ist schade“, sagte der Vogt zum Obmann, „dass es so entsetzlich regnet. Es wird mancher daheim bleiben.“ Als sie vor den Talhauser Wald hinauskamen und den Galgen noch mutterseelallein im Felde stehen sahen, „wir sind die ersten“, sagte der Vogt zum Obmann, „es ist noch niemand da.“ Der Freiwilligen suchte sich jeder einen guten Platz aus, wo man’s gut sehen kann. Einige setzten sich zum voraus auf nahestehende Bäume, andere standen einstweilen unter. Aber es geschah nichts. Wandersleute, die in ihren Geschäften des Weges zogen, blieben auch im Regen stehen und wollten abwarten, was aus dem seltsamen Aufzug werden wolle. Aber es geschah nichts. „Sie werden warten“, sagte der Vogt, „bis es nimmer so arg schüttet.“ Der Herr Schulmeister hielt zur Zeitverkürzung eine Standrede um die andere an die Schuljugend, dass, ob es gleich nur Juden seien, sollten sie doch ein christliches Exempel daran nehmen. Aber es wollt noch nichts kommen. Es läutete schon Mittag in allen Dörfern, aber der Mittag läutete auch nichts herbei. Deswegen sagte zuletzt der Obmann zu dem Vogt: „Wann bringt man denn die Juden? Es kommt ja niemand. Oder sind wir gar zuletzt Eure Narren?“ sagte er. „Es wäre kein Wunder, wir henkten Euch selber daran, damit die Leute nicht umsonst dagewesen sind.“--Kurz, es kam eben niemand.

Seitdem, wer durch Gillmannshofen geht und fragt in guter Meinung oder aus Mutwillen, ob schon lang niemand mehr am Talhauser Galgen gehenkt worden sei, oder so, der wird geschlagen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Bd 2