Erste Fortsetzung

Es war aber ein sonderbarer Frühling in Lydien, der die Leute froh und schwer machte. Ein unerklärter Reichtum hatte sich über das Land ergossen. Wenigstens gab es keine Darbenden und Bettler mehr. Das hatte mit den unentgeltlichen Mehlverteilungen vor einigen Monaten begonnen. Diese erfolgten im Namen des Königs zu Sardes und in allen übrigen Städten und Gemeinden des Landes. Anfänglich nahmen nur die Ärmsten die Gabe. Doch da der Vorrat unerschöpflich schien, wie die Gnade des guten Herrschers, und da sich Jeder so viel Mehl holen konnte, als er für sein Haus brauchte, kamen nach und nach auch die Anderen. Es war ein Leben wie am öffentlichen Brunnen. Man zog mit vollen Eimern ab. Einige suchten die Erklärung des wundersamen Vorganges, und da fanden sie scharfsinnig heraus, dass es dem Kroisos durch eine glückliche auswärtige Politik gelungen sei, den Brotbedarf des Landes in solchen Massen einzuführen. Die Meisten nahmen es ohne Kopfzerbrechen hin und freuten sich der Gottesgabe bis sie durch die Alltäglichkeit des Wunders dagegen abgestumpft wurden. Allerdings gab es auch Leute, denen die Sache unangenehm vorkam: die Ackerbauer, Grundbesitzer und Händler. Das Korn war entwertet, und da ließen sie verdrießlich sogar die angefangenen Arbeiten im Stiche. Die üppigen Getreidefelder Lydiens verwilderten. Niemand kümmerte sich mehr um ihre Pflege oder um die sorgliche Abwehr von Schäden. Mochten Vögel oder Ungeziefer die Äcker verheeren, was lag daran? Vor der äußersten Not war dennoch Jeder geborgen, so lange des Königs Mehlkammer nicht leer wurde, und diese wurde nicht leer. Je mehr man brauchte, um so mehr Vorrat war da. So ergaben sich die Landleute, wenn auch mit einigem Zähneknirschen, in das harte Schicksal des Überflusses. Auf die Lyder, die nicht vom Ackerbau, sondern von sonstigen Beschäftigungen lebten, wirkte der neue Zustand eigentümlich entnervend, wie ein schwüler Wind. Alle Regsamkeit erschlaffte. Die Männer wurden faul und dabei unruhig. Sie hatten weniger Sorgen, als ihnen frommte, und gaben sich daher allerlei müßigem und gefährlichem Zeitvertreibe hin. Sie wurden händelsüchtig und liederlich, weil ihre von der Arbeit nicht erschöpfte Kraft nach Ausflüssen drängte. Sie wendeten sich auch der Politik zu, in einer ungebärdigen, aufrührerischen Art. Sie fingen an, wider Kroisos zu murren, und es bildete sich eine förmliche Umsturzpartei, deren Rädelsführer dem Kreise der verarmenden kleinen Gutsbesitzer angehörten. „Das sind Deine Diakrier, Kroisos“, sagte Solon, als diese Ereignisse bei Hofe gemeldet wurden. „Ich kenne sie vom Pentelikon her. Die Menschen sind hier wie dort dieselben.“ Ein grimmiger Heerführer des Königs aber meinte: „Was unsere Lyder brauchen, ist ein kleiner Krieg. Sie müssen Siege oder Schläge bekommen, damit sie sich beruhigen. Wir könnten beispielsweise mit Kyros von Persien anbinden.“ Eine Kriegspartei gab es natürlich auch am Hofe zu Sardes, und dieser war das aus der Seele gesprochen. Kroisos lehnte den Gedanken noch ab. Um diese Zeit kam Jemand aus Miletos und erzählte beiläufig, dass er den Thales gesehen habe. „Wie?“ sprach Kroisos; „er ist heimgekehrt und sendet mir keine Nachricht? Kannst Du Dir es erklären, Solon? Wir harren seiner Entscheidung, und er schweigt!“ „Brauchst Du sein Urteil noch, König der Lyder?“ entgegnete Solon, indem er mit ausgestrecktem Arme nach der Stadt hinunterdeutete. „Ja!“ rief Kroisos hastig. „Jetzt erst recht! Weil eine Unruhe in meine Seele gekommen ist. Ich wusste vordem, wohin ich mich neigen sollte. Zu Dir Aesop! Ich weiß es nicht mehr. Es ist Deine Schuld, Solon!“ „Schicke einen Boten nach Miletos“, sagte Solon gelassen. „Der Weiseste der Hellenen wird Dich von Deinen Zweifeln frei machen. Wir wollen mittlerweile eine Schale duftenden Weines mit einem schnell wirkenden Gifte vorbereiten.“ „Aber auch den Quittenapfel, den die Brautleute miteinander verzehren“, drängte Aesop. „So sei es“, erklärte Kroisos; „beides stehe bereit: Quitte und Giftschale. Wir wollen hören, was uns Thales sagt.“ Wieder eilte ein Bote nach Miletos. Als er wiederkam, konnte er nur mit Mühe durch die Straßen von Sardes dringen, denn sie waren vom Aufruhr erfüllt. Die Krieger des Kroisos kämpften wider das verstörte Volk. Man hörte den Waffenlärm bis in die Gemächer des Königs, wo bei Kroisos dessen Freunde Solon und Aesop und die jungen Brautleute weilten. Eine goldene Trinkschale und einen schönen Quittenapfel hatte Kroisos vor sich. „Omphale!“ flüsterte Eukosmos, „ängstige Dich nicht. Ich verteidige Dich mit meinem Leben, wenn dieser Pöbel herankommen wollte.“ „Mir ist nicht bange, Eukosmos, wenn ich Dich nur habe. Mögen sie uns verjagen. Ich folge Dir nach Bolissos und wohin Du willst. Ich will Dein Weib sein. Dein, Dein, Dein! In Armut oder Wohlergehen — nur Dein! Ich liebe Dich.“ Kroisos hatte die Antwort des Thales gelesen. Er seufzte tief und reichte sie den Freunden. Aesop las murmelnd und bebend: „König! Ich reiste fort, um Dir zu gehorchen. Denn in mir fand ich die Weisheit nicht, welche Du von mir verlangst. Es gibt nur einen Mann unter den Griechen, der den Staat tief genug erfasst, um eine solche Frage lösen zu können. Diesen Mann suchte ich und ging nach Athen. Er hatte seine Vaterstadt verlassen. Ich zog seiner Spur nach und kam in das Land der Aegypter. Er war schon fort. Erst auf Cypern erfuhr ich, wo er weile. Er weilt bei Dir. Darum schwieg ich. Was soll ich Dir seine Weisheit im Eimer bringen, da Du selber aus dem Brunnen schöpfen kannst. … Tue, König, was Dir Solon rät!“ Zitternd langte Kroisos nach der goldenen Trinkschale. Zitternd gab er sie dem Solon und bedeckte sich hierauf die tränenüberströmten Augen mit der Hand. Solon trat zu den Liebenden: „Omphale, ich muss mit Deinem Bräutigam Ernstes reden. Dein Vater wünscht, dass wir Männer allein seien. Du darfst ihm den Brautkuss geben … Und nun geh’!“ Selig lag die Braut an des Eukosmos Brust. Kein höherer Augenblick ist im Leben, das fühlte sie. Und mit einem letzten Lächeln aus zärtlichen Augen entwand sie sich ihm und schritt gefügig hinaus, weil die Männer zu Ernstem allein sein wollten. „Nun, Eukosmos“, sagte Solon, „bist Du noch der Meinung, daß die Menschen sich beglücken lassen? Du hörst den Aufruhr da unten. Den hat Dein Göttergeschenk hervorgebracht. Willst Du ihnen noch immer das ewige Brot ohne Sorge, ohne Arbeit bescheren? Willst Du nicht lieber Dein Geheimnis für Dich behalten? Vernichte es, vergiss es! Omphale ist Dein, weil Du ihrer würdig bist, Kroisos wird sie Dir geben, auch wenn Du Dein Wundermittel nicht verrätst. Folge mir, lass’ die Leute wie ehemals auf dem Acker schwitzen und sich lahm und krumm arbeiten. Es tut Ihnen gut. Sie bringen es zu etwas.“ Eukosmos richtete sich auf: „Ich kann nur glauben, daß Du mich auf eine Probe stellst, Solon! Du möchtest sehen, ob ich so niedrigen Sinnes sei, daß ich mein Wort nicht hielte. Omphale ist meine Braut, und morgen werde ich mein Geheimnis kund machen. Das Mittel ist nicht mein, es gehört vielmehr allen Menschen, für die ich es nur in Treue aufbewahrte. Dass die da unten rasen, ändert an ihrem Rechte nichts. Auch rasen sie nur, weil sie nicht wissen. Ich werde Ihnen die Augen öffnen.“ Da sagte Solon mit weicher Stimme: „Du hattest es erraten, es war eine Probe. Eukosmos, ich liebe Dich, wie Du bist. Ich habe nie einen Menschen so geliebt, wie Dich. O Du teurer Träumer, Du Volksbeglücker! Du verdienst es auch, Deinen eigenen Traum zu haben, den Traum von Omphale. Ich denke mir, Deine Seele ist jetzt völlig durchduftet von ihr, der Lieblichen. Nie warst Du glücklicher, Eukosmos, und wenn Dein Leben in das Greisenalter ginge, nie wirst Du glücklicher sein! … Siehe, Kroisos, wir sprachen einstens vom wahren Glücke. Hier ist es vor Deinen Augen: Eukosmos! Er liebt die Menschen und Omphale. Alle, die ihn kennen, lieben ihn. … Eukosmos! Leere diese Trinkschale, die Dir Kroisos durch mich reichen lässt. Leere sie auf das Wohl der Menschheit, und denk’ an Deine Geliebte!“ Und Eukosmos trank.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Salon in Lydien (1900)