5te - Ein Wanderer in den Untersberg.

L. Bechstein, die Volkssagen, Mährchen und Legenden Oesterreichs. I., 75 ff. Maßmann a.a.O.

In der Salzburger und Berchtesgadner Gegend geht ein altes, seltenes Büchlein von Hand zu Hand, das beschreibt eine gar wundersame Mähr, die sich mit einem Manne, Namens Lazarus Aigner (nach Andern Gitschner), zugetragen und in dem Büchlein von ihm selbst für wahrhaftig beschrieben wird.


Es war im Jahre 1529, als dieser Mann, ein Diener des Stadtschreibers zu Reichenhall, mit seinem Herrn, dem Pfarrer Martin Elberger und noch zwei andern Männern aus Reichenhall auf den Untersberg gingen. Da kamen sie zu einer Felsenschlucht, der hohe Thron genannt, wo ein Loch in den Berg ging. Unter dem Felsen stand eine Kapelle, die trug eine Schrift von silbernen Buchstaben, welche die Wanderer ansahen und lasen. Nachher sind sie wieder nach Hause gegangen. Später kam unter ihnen das Gespräch auf die Schrift, deren Buchstaben ihnen entfallen waren, und der Pfarrer sprach zu Aigner, er möge doch nochmals hinaufgehen und die Schrift abschreiben. Dieser ging an einem schönen Septembertage, der ein Mittwoch war, allein auf den Berg, fand die Schrift mit uralten Buchstaben in die Wand gehauen, und schrieb sie ab: S.O.R.C.E.I.S.A.T.O.M. Ueber dem Aufschauen und Abschreiben dieser alten Inschrift wurde es Abend und zu spät, den Rückweg anzutreten. Daher bettete sich Lazarus nahe der Höhlung auf weiches Moos und entschlief. Am andern Morgen machte er sich auf und wollte wieder hinab nach Reichenhall, sah sich jedoch zuvor im Gehen ein wenig in die Weite um und siehe! plötzlich steht vor ihm ein barfüßiger Mönch, der betet aus einem Buche und trägt eine große Bürde Schlüssel auf der Achsel. Jetzt redet der Mönch ihn an: „Wo bist du gewesen? Wo gehst du hin? Hast du gegessen oder bist noch hungrig?“

Lazarus antwortete schlecht und recht, und der Mönch hieß ihn mit sich gehen. Sie gingen aufwärts gegen den hohen Thron, kamen wieder an eine Felskluft, die war mit einer eisernen Thür versperrt, welche der Mönch mit einem seiner Schlüssel aufschloß, und dann traten sie in den Berg ein. Der Mönch sprach zu Lazarus Aigner: „Lege deinen Hut allda nieder, so kannst du wieder heraus; innen aber sprich zu Niemand ein Wort, es sage einer zu dir, was er wolle. Mit mir darfst du reden und mich fragen, was du willst. Merke auch wohl, was du siehest und hörest.“ Innen zeigte sich ein großer Thurm mit einer goldgezierten Uhr. Da sprach der Mönch: „Schau auf die Uhr, auf welcher Stund' der Zeiger steht und um welche Stund es ist.“ Es war sieben Uhr. Als Lazarus Aigner aufschaute, sah er ein herrliches Gebäu mit einem doppelten Glockenthurm, wie ein ansehnliches Kloster, das auf einer schönen weiten Wiese lag. Ein Brunnen war daneben mit schneekaltem Wasser, rundum war schöner grüner Wald. Der Wanderer kam mit dem Mönch in eine Kirche, die so weit war, daß er von der hintern Kirchthür kaum auf den Chor hinaufsehen konnte. Dort beteten Beide, und der Mönch hieß den Mann in einem Stuhle bleiben und sagte ihm, daß die Kirche zweihundert Altäre habe und über dreißig Orgeln. Als Lazarus in dem Stuhle saß, kamen eine Treppe herunter mehr als dreihundert Mönche, alte und junge, blickten ihn scharf an, gingen auf den Chor und sangen die Horas andächtiglich. Nun erklangen alle Glocken, und unzählbare Schaaren Andächtiger, angethan mit herrlichen Kleidern, erfüllten das unterirdische Gotteshaus. An allen Altären wurde Messe gelesen und das Hochamt gesungen, und alle Orgeln erdröhnten, und zahllose Instrumente wurden laut mit himmlischer Musik. Dann verlor sich das Volk und die Mönche wandelten wieder an dem Erstaunten vorüber. Hernach führte der Mönch Jenen eine Treppe von achtzig Staffeln hinauf in einen Speisesaal voll hoher doch unverglaster Kirchenfenster zu beiden Seiten, daraus man hinabsah auf die Wiese. Daran stieß der Convent, oben gewölbt und mit schönen Fenstern wohl versehen. Darinnen standen lange Tische, und an einem derselben speiste der Mönch den Lazarus Aigner mit üblicher Klosterkost und einem Becher Wein. Zur Nonzeit (drei Uhr Nachmittags) gingen Beide wieder in die Kirche, die wieder voll Volkes war. Nach der Non gingen sie in die Bibliothek, da sah Aigner viele Leute auf dem Anger hin und her gehen, und auf Befragen, wer diese seien, antwortete der Mönch: „Es sind alte Kaiser, Könige, Fürsten, Bischöfe und andere Ritter, Herren und Knechte, Edle und Unedle, auch Frauen, christliche Leute, welche den christlichen Glauben zur letzten Zeit Untergangs der Welt helfen erretten und vertheidigen.“

Die Bücher in der Bibliothek waren uralt, aus Baumrinden und Häuten und mit alten unbekannten Buchstaben beschrieben. Vieles las und erklärte der Mönch. Zur Vesperzeit gingen Beide abermals in die Kirche, dann in den Convent zum Speisen, dann in die Complet. Darauf ordnete sich ein langer Zug der Mönche mit Büchern und Laternen, und gingen je zwei und zwei nach dem hohen Thurme, durch welchen Lazarus eingegangen war in den Untersberg. Da sah man zu zweien Seiten sechs Thüren, und der Mönch nannte zwölf verschiedene Kirchen in der Umgegend, in welche man durch diese Thüren gelange, nach Salzburg, Reichenhall und andere. Er sprach: „Jetzt gehen wir nach St. Bartholomä bei Berchtesgaden;“ und so that sich die eine Thür auf, und sie gingen in einem breiten und schönen Gange fort und fort. Einmal sagte der Mönch: „Schau, Lazarus, jetzt gehen wir tief unter dem See,“ damit er den Königssee meinte, an welchem St. Bartholomä gelegen ist. In der Kirche sangen sie die Metten und gingen dann zurück.

Der folgende Tag wurde vollbracht, wie der erste, nur daß sie zur Nacht in den Dom zu Salzburg gingen und dort ihr Gebet verrichteten. Hernach lasen sie in der Bibliothek die großen Bücher voll alter Geschichten und zukünftiger Ereignisse, und der Mönch sprach viele Weissagungen, wie es dermal einst in der Welt sich zutragen werde. Als sie so lasen und mit einander sprachen, ersahen sie einen Kaiser unter dem Volke, mit Kron' und Scepter, der hatte einen grauen Bart vom Haupte bis zum Gürtel, und der Mönch sagte: „Das ist Kaiser Friederich, welcher einstens auf dem Walserfelde ist verzuckt worden. Schau ihn wohl an, er ist in solcher Gestalt, wie er ist, verloren gegangen.“ Auch andere verstorbene Fürsten und edle Herren mehr erblickte Lazarus, auch seiner noch lebenden Bekannten Etliche, und fragte den Mönch was diese in dem Berge machten und ihr Thun und Lassen sei? Da gab ihm der Mönch eine solche derbe Maulschelle, daß er sie sein Lebelang empfand, und sprach zornig: „Was bedarfst du Wissens und Forschens nach den Geheimnissen Gottes?“ –

So waren nun bereits sieben Tage vergangen, als der Mönch sprach: „Lazarus, nun ist es Zeit, daß du wiederum hingehest, oder willst du hierinnen verbleiben, so magst du es auch thun.“

Aigner antwortete: „Ich will hinausgehen.“

So geleitete ihn der Mönch zu dem Thurme, versah ihn mit Zehrung und guter Ermahnung, hinfort demüthig zu leben, hieß ihn auch wieder auf die Uhr schauen, deren Zeiger eben wieder auf sieben stand, und den Hut aufsetzen, der noch dort lag. Dann redete er noch Manches von künftigen jämmerlichen und kümmerlichen Zeiten, so noch kommen würden, und schlüßlich befahl er ihm, er solle Alles, was er gehört und gesehen in dem wunderbaren Berge, fleißig merken und beschreiben, doch nicht eher, als nach fünfunddreißig Jahren. Zuletzt segnete er ihn und sprach: „Nun gehe hin im Namen des Friedens, du wirst schon dermal einst wieder zu mir kommen! Schaue dich auch nicht um!“

Und so kam Lazarus Aigner mit Zittern wieder hervor aus dem Schooße des Untersberges und herab nach der Stadt Reichenhall, und war ganz stille.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sagenbuch der Bayerischen Lande. Band 1