5tens - Abgrenzung und Anordnung.

Das Feld der Sage berührt in weiter, unsteter Begrenzung die Geschichte, Legende, Poesie, selbst die Naturwissenschaft. Ihr Begriff ist ein unbestimmter, mehr durch stillschweigendes Übereinkommen, als scharfe Definition festgestellter, daher man in verschiedenen Büchern den Umfang des Sagengebietes verschieden bezeichnet findet. Ich bemerke hier ausdrücklich, was ich Mehr oder Weniger als Andere aufgenommen habe. Einmal wurden (nach dem Vorgange der Grimm, deutsche Sagen II. S. XII.) diejenigen größeren Heldensagen ausgeschlossen, welche im eigenen und lebendigen Umfang ihrer Dichtung auf unsere Zeit gekommen sind. Alsdann waren der Legende (Heiligen- und Wundersage) gegenüber enge Schranken zu ziehen, weil ihr Begriff ein so schwanker ist, daß sich Verbürgtes und Unverbürgtes, Geschichtliches und Sagenhaftes darin berührt. Uebrigens haben die meisten Sagensammler gerade dieses Gebiet auffallend vernachläßigt. Was Aventin (ann. l. III. p. 363 Ingolst. 1554) über die Menge und häufige Wiederholung legendenartiger Sagen bemerkt, gibt dem Forscher einen Wink zur Behutsamkeit11). Ich stellte an die Mehrzahl dieser Sagen zur Aufnahme in diese Sammlung die Forderung, daß Etwas wirklich vom Volke gesagt, nicht bloß in einer Schrift behauptet worden. Noch bemerke ich gegen unverständige Folgerungen aus der Aufnahme von Legenden, daß ein Sagenbuch kein Lügenbuch ist.

Schwierig, in vielen Fällen unmöglich war es, eine scharfe Grenzlinie zwischen Geschichte und Sage zu ziehen. Die Sage ist oft nichts Anderes, als die neben der urkundlichen Geschichte bestehende mündliche Ueberlieferung. Ich habe mich beflissen, beide Gebiete auseinander zu halten, nur einige Ausnahmen sind mit historischen Gedichten gemacht. Es gibt nämlich gewisse romantische und ritterliche Ereignisse vaterländischer Vorzeit, welche gleich Sagen im Munde des Volkes leben, auch von den Dichtern besungen worden. Ich weiß keinen schicklicheren Ort für Mittheilung derselben, als ein Sagenbuch. Nodnagel, Günther, Simrock haben vor mir das Gleiche gethan. Mit ihnen will ich Recht oder Unrecht haben.


Auch die Gebräuche und Sitten stehen in naher Beziehung zur Sagenwelt. Ich höre, daß sich ein Forscher dafür gefunden (Lentner) und beschränke mich auf Mittheilung dessen, was sagenhaften Ursprungs und Herkommens ist. Deßgleichen bleibt auch das Märchen von dem Bereiche dieses Buches ausgeschlossen. Es unterscheidet sich wesentlich von der Sage, indem es reines Spiel der Phantasie ist, während jene – wenn auch nur mit losen Fäserchen – auf historischem Grund und Boden haftet.

Wie die Vollständigkeit dieser Sammlung ohne Abdruck oben verzeichneter Monographieen angestrebt wurde, lehrt am Besten der Augenschein. Ich bemerke nur Folgendes. Viele der hier gesammelten Sagen, die bereits in oben erwähnten Schriften gedruckt erschienen, sind doch keineswegs aus diesen, sondern aus den ursprünglichen Quellen entlehnt, was ganz einfach durch meine Quellenangaben, die bei jenen fehlen, erwiesen wird. In Mittheilung neuer, d.h. in jenen Monographieen zuerst erzählter Sagen, hielt ich verhältnißmäßig das Maaß ein, welches die Verfasser dieser Schriften ihren Vorgängern gegenüber eingehalten haben. So nahm Bechstein eine Reihe von Sagen aus Mone's Anzeiger (ohne jedoch die Quelle zu nennen), deßgleichen Panzer eine Anzahl aus Bechsteins Sammlung. Häufig wiederkehrende Sagen, die auch bereits von Andern gesammelt waren und keine neuen und wichtigen Züge darboten, sind nur einmal oder auch gar nicht aufgenommen, sobald sie namentlich den Charakter alltäglicher Spuk- und Gespenstergeschichten trugen12). Denn wer da alle Geschichten von verwünschten Schätzen, schwarzen Hunden, feurigen Männern, umgehenden Geistern auflesen und nacherzählen wollte, der würde in jedem Pfarrsprengel sattsames Material zu einem Sagenbuche finden. Im Uebrigen verfuhr ich meinen Vorgängern gegenüber in der von Grimm (D.S. II., Vorr. S. XXII. u. XXIII.) angedeuteten Weise.

Das äußere Gebiet dieser Sammlung bezeichnen die Grenzen des Königreichs Bayern in seiner jetzigen Gestalt. Nur wo der Zusammenhang es erforderte, oder die jenseits lebende Sage auch diesseits vorkam, fand ausnahmsweise Ueberschreitung der politischen Grenze statt.

Bei der Anordnung konnte das alphabetisch-topographische Princip zu Grunde gelegt werden. Das wäre zum Nachschlagen bequemer, auch für Einsicht in den Sagenschatz eines Ortes dienlich gewesen. Dagegen war zu bedenken erstens, daß bei solcher Anordnung ganze Sagenkreise, wie von Karl dem Großen, auseinander fielen; zweitens, daß sehr viele Sagen nicht einem bestimmten Orte, sondern einer ganzen Gegend, einem Berg- oder Flußgebiete, einem Geschlechte u.s.w. angehören.

Weiter konnten die Sagen nach der inneren Zusammengehörigkeit und Verwandtschaft geordnet werden. Auch dieses Princip ließ in sehr vielen Fällen keine Anwendung zu aus dem einfachen Grunde, weil keine Zusammengehörigkeit vorhanden ist. Ich glaube, daß auch hier die Grimm den richtigsten Weg eingeschlagen haben, indem sie keine Ordnungsweise, weder die örtliche, noch die inhaltliche, noch, bei geschichtlichen Sagen, die chronologische steif und hartnäckig befolgten, sondern diejenige Anreihung der Sagen für die natürlichste und vorteilhafteste hielten, „welche überall mit nöthiger Freiheit und ohne viel herumzusuchen,“ unvermerkt auf einige geheim und seltsam waltende Uebergänge führt. Solche Uebergänge sind bald innere, bald äußere. Mir schien die Rücksicht auf äußere vorwalten zu müssen, weil ein Uebergewicht innerer Zusammengehörigkeit die Leser ermüden würde, wie wenn z.B. eine große Anzahl Zwergsagen oder Wundersagen oder Versteinerungssagen zusammengehäuft wäre. Zum Theil aus demselben Grunde sind die Sagen eines und desselben Ortes nicht zumal und zusammen geliefert, was auch weder thunlich noch nothwendig war; thunlich nicht, weil alsdann, wie schon bemerkt, gewisse Sagenkreise zerrissen, auch später einlaufende Mittheilungen dennoch nachgetragen werden müßten; nothwendig nicht, weil die aus topographischer Zusammenordnung ersprießenden Vortheile für Uebersicht und wissenschaftliche Benützung ebensowohl durch Register erzielt werden können. Solcher Register gedenke ich drei am Schlusse der Sammlung zu verfertigen. Einmal soll ein vollständiges topographisches Verzeichniß die geographische Vertheilung der Sagen sowie den Sagenreichthum jedes Ortes veranschaulichen; ferner soll ein Sachregister die Benützung des Materials für wissenschaftliche Zwecke erleichtern; endlich soll ein Verzeichniß der Dichter, von welchen die Sammlung Beiträge enthält, ein literärgeschichtliches Interesse befriedigen. Nach dieser Zusicherung werden die Leser Nichts dawider haben, wenn ich sie auf einer Reihe von Wanderungen durch die Gauen des Vaterlandes geleite, bald dahin bald dorthin ablenkend, bald dem Laufe eines Stromes, bald dem Zuge eines Gebirges folgend, mit aller Freiheit und Unbedenklichkeit. Nur so konnte schon der Erste Band Sagen aus allen Theilen des Königreiches liefern, während außerdem die Leser in Franken oder der Pfalz nur altbayerische oder schwäbische Sagen erhalten hätten. Wenn also die Sagen eines Ortes, z.B. Nürnbergs im ersten Bande nur theilweise oder gar nicht mitgetheilt worden, so folgt daraus nur, daß man sie im nächstfolgenden Bande zu erwarten habe.

Hiermit empfehle ich mein Buch allen Liebhabern nicht nur bayerischer, sondern deutscher Volkspoesie, Geschichte und Sprache, vorab allen denjenigen, die gerne dem Geräusch des Lebens in die stille Natur, in die frische Waldeinsamkeit, in das Gebüsch verfallener Burgen enteilen, um dort den Stimmen der Berg- und Waldgeister, dem Wehklagen verwünschter Jungfrauen, den Sirenenklängen der Feen und Nixen ihr Ohr zu leihen.

Irre ich nicht, so hat unsere neueste Poesie einen Anfang gemacht, aus der Dürre politischer und socialer Tendenzreimerei in die frische, einfältige und wahrhaftige Natur zurückzukehren. Möge sie zur Einsicht gelangen, welche lebendige und reiche Quellen ihr auf dem Boden der heimatlichen Sage, dieser reinsten und tiefsten Volkspoesie, entgegensprudeln.




11) Vgl. Schard im Vorw. zu Aventins Chronik. Frankfurt 1566, und Aretins liter. Handb. I., 126.

12) So haben es die Herausgeber der trefflichen Sammlung: Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche: Kuhn und Schwartz gehalten; vgl. Vorw. S. XI. 4. Friedrich der Rothbart im Untersberg.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sagenbuch der Bayerischen Lande. Band 1