3tens - Anlaß und Zweck dieser Sammlung.

Aus vorstehender Uebersicht erhellet, daß eine größere, die Sagen des Königreiches Bayern, vorab die geschichtlichen, umfassende Sammlung nicht bestehe. Ob es an der Zeit sei, mit einer solchen hervorzutreten, lehrt ein Blick auf die Sagenforschung in benachbarten Landen. Es drängt die Aufsuchung und Sammlung dieser Schätze um so mehr, als die alte Zeit und mit ihr die alte Sage gleich einer schwindenden Burg hinabsinkt und ein Stein um den andern sich ablöst. Wo vollends Heerstraßen und Eisenbahnen die Landstriche, vorab der Ebene, durchziehen, ist die Sage gar merklich im Abnehmen begriffen. Denn hier hat die Aftercultur tabula rasa gemacht und mit dem Aberglauben die Poesie verscheucht, also daß keine Zeit zu verlieren, der enteilenden nachzugehen, weil binnen Kurzem vielleicht der eifrigste Forscher „anstatt der Rosen nur mehr dürre Halmen und stachlichte Hagenbutten findet.“7)

Von diesem Gedanken beseelt ging ich daran, ein Sagenbuch von Bayern herauszugeben, ohne mir je träumen zu lassen, durch meine Sammlung fernere Arbeiten überflüssig zu machen, im Gegentheil von dem Wunsche erfüllt, dadurch weitere Forschungen anzuregen und so erschöpfende Monographieen als die von Herrlein und Bechstein, für alle Theile des Landes hervorzurufen. Zunächst war die Frage nach meinem Leserkreise zu erledigen. Etliche Sagenforscher hatten die Gelehrten, etliche das Volk, etliche Beide zugleich vor Augen. Mir schien es vor Allem ein verdienstliches Unternehmen, dem Volke den Sagenschatz des Vaterlandes in die Hand zu geben. Das ist der Standpunkt, von welchem aus diese Sammlung erwachsen ist. Denn wie die Sage ein treuer Spiegel ist, in welchem sich des Volkes innerstes Sinnen und Leben, Glauben und Lieben offenbart, so hat die Sage hinwiederum für das Volk unverkennbaren ethischen Werth, denn sie erfreut, erhebt und rührt nicht nur die Gemüter, sondern lehret, warnet, tröstet durch die Macht des Beispiels und der überall in starken Zügen hervortretenden göttlichen Gerechtigkeit8). Die Sage ist die eigentliche und echte Volkspoesie. Diese neben dem religiösen Glauben hat eine viel höhere Bedeutung für die Veredlung und Sittigung des Volkes, als Leute, welche neuerdings über die Abhilfe der Nothstände des Volkes geschrieben, vermuteten. In dem Grade als trostlose Afterbildung und sogenannte Aufklärung das Volk seines Gemüts- und Gefühllebens beraubte, hat der Materialismus, die Ungenügsamkeit und die Unseligkeit zugenommen. Die Aufgabe der Lehrer und Erzieher des Volkes wird es sein, gegenüber dürrer Verstandescultur und einseitiger Unterrichterei mit allen Mitteln auf die Bewahrung eines der Natur des Volkes gemäßen edlen Gemütslebens hinzuwirken. Wie das geschehen könne, mag an anderem Ort entwickelt werden: hier genüge die Bemerkung, daß die Beachtung ureigener Sitte und alten Herkommens, die Bewahrung heimatlicher Geschichte und Sage in örtlicher Beschränktheit, kein unbedeutendes Moment wahrhafter Volksbildung ist, wie das vor mehr als dreißig Jahren die Brüder Grimm angedeutet haben, wenn sie die „deutschen Sagen“ mit den Worten einleiten: „Es wird dem Menschen von Heimatswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wann er in's Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet; wer nicht ahnt, was ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, wenn er die Grenze des Vaterlandes überschreitet, wo ihn jener verläßt. Diese wohlthätige Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichte, welche nebeneinander stehen und uns nach einander die Vorzeit als einen frischen und belebenden Geist nahe zu bringen streben.“9)


Dieser erklärten Hauptrücksicht meines Sagenbuches auf einen größeren Leserkreis aus dem Volke widerstreitet die wissenschaftliche Rücksicht so wenig, daß ich nur auf Grimm's Sammlung oder zehn andere hinweisen darf, um den augenscheinlichen Beweis zu liefern, wie gut sich jene beiderseitigen Anforderungen vereinigen lassen.

Demgemäß blieb vergleichende Sagenforschung zur Gewinnung wissenschaftlicher Resultate von meinem Vorhaben ausgeschlossen. Es sollte vorerst das Materiale gesammelt und vermehrt, eine Art Codex vaterländischer Sage aufgestellt, Zwecke der Forschung aber nicht abgewiesen, sondern nur auf andere Zeit und Gelegenheit verwiesen werden. Darum enthielt ich mich alles Hervorhebens verwandtschaftlicher Beziehungen der Sagen, so nah es oft lag, weil außerdem die Sammlung einen ganz veränderten Charakter annehmen mußte.




7) Zingerle, Sagen aus Tirol S. III.

8) Vgl. Ueber den ethischen Werth der deutschen Volkssagen. Von L. Bechstein 1837. Etliche Hauptresultate dieser Schrift: Die Kindheit steht unter Engelschutz; die Unschuld unter Gottes Hut; Tugend findet ihren Lohn, das Laster stets seine Strafe; nie malt die echte Volkssage das Laster reizend; Reue versöhnt, bedrängte Unschuld wird gerettet u.s.w.

9) Wie wenig ist Grimm's Wort verstanden und beachtet worden. Kennt unsere „gebildete“ Jugend die Sagen von Hellas und Rom nicht besser als die des Vaterlandes? Und doch ist die deutsche Sage gegenüber der antiken viel reiner und unschuldiger.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sagenbuch der Bayerischen Lande. Band 1