Ludwig Bechstein - Die Münsteruhr.

Zu Straßburg im Münster ist ein kostbares und bewunderungswürdiges Uhrwerk, das seinesgleichen in der ganzen Welt nicht hat. Hoch und stolz, ein wundersames, figurenreiches Gebäu, steht es da vor Augen; aber leider steht es eben und geht schon längst nicht mehr. Am Fuß des Kunstwerks zeigt sich neben einem Himmelsglobus ein Pelikan, darüber erhebt sich ein Kalender, in dessen Mitte die Erdkugel ersichtlich ist, zu beiden Seiten stehen der Sonnengott und die Mondgöttin, welche mit ihren Pfeilen Tages- und Nachtstunden zeigen. Schildhalter an den vier Wänden des Kalendariums lassen Wappen erblicken. Darüber fahren in Wagen, von verschiedenen Tiergespannen gezogen, die sieben Planetengötter als Tagesboten; jeden Tag zeigt, sich sanft vorrückend, ein anderes Gespann, steht in der Mitte zur Mittagsstunde und gibt dann allmählich dem nachfolgenden Raum. Darüber ist ein großer Viertelstundenzeiger, und zur Seite sind vier Gebilde, die Schöpfung, Tal Josaphat, jüngstes Gericht und Verdammnis. Zur Rechten des Beschauers steht ein freier Treppenturm am Uhrgebäu, zur Linken ein ähnlicher von anderer Form mit Göttergestalten, auf der Spitze ein großer Hahn, welcher die Stunden kräht und mit den Flügeln schlägt. Am Sockel der Türme halten zwei große, aufrecht sitzende Löwen je einer den Helm mit dem Kleinod, der andere das Wappenschild Straßburgs. Rechts in der Mitte ist das riesig große, mannigfach verzierte und mit kunstvollem Triebwerk versehene Zifferblatt, umgeben von den Bildern der vier Jahreszeiten, darüber steht: Dominvs lvx mea-qvem timeo. [Fußnote]Der Herr, mein Licht, den ich fürchte. Den Zeiger bildet ein geschlängelter Drache, dessen Zungenpfeil auf die Stundenzahl deutet. Über dem Zifferblatte zeigt ein kleinerer Kreis mit der Mondscheibe genau des Mondes wechselnde Zeiten. Darüber erscheinen zwischen Schildhaltern und Wappenfiguren wandelnde Gestalten der Menschenalter, welche an die offen hängenden Viertelstundenglocken anschlagen, über ihnen hängt die Stundenglocke; nach jedem Viertelstundenschlage tritt der Tod hervor, die Stunde zu schlagen, aber da begegnet ihm die Gestalt unseres Heilands und wehrt ihm; erst wenn die Stunde voll ist, darf der Tod sein Stundenamt üben. Hoch empor über allem diesem hebt sich noch eine gotische Krone mit den freistehenden Gestalten der vier Evangelisten, die Tiere der Offenbarung neben sich, und über diesen stehen zwei musizierende Engel, dahinter aber birgt sich gar ein schönes, klangvolles Glockenspiel. Auch ist noch manch anderes künstliches Bilderwerk an der Münsteruhr zu sehen, und sind auch gedankenvolle Sprüche daran zu lesen.

Dieses herrlichen Werkes Meister hieß Isak Habrecht, der hatte gar lange gesonnen Tag und Nacht und gearbeitet unermüdlich, bis er es vollendet und bis es durch seinen lebendigen Gang alle Welt zum Erstaunen hinriß. Da es nun vollbracht war, so gedachte der Meister auch anderswo seine unvergleichliche Kunst zu üben. Da blies der böse Feind dem Rate der Stadt Straßburg bösen Neid in das Herz; denn es sollte ihre Stadt solch Wunderwerk nur einzig und allein haben. Und weil die Herren im Rate auch glaubten, wenn sie dem Meister Habrecht auch verböten, der Stadt Weichbild zu verlassen, werde er Straßburg dennoch den Rücken kehren, so wurden sie miteinander eins, ihn des Augenlichts zu berauben. Das ward dem Meister angesagt, und wie er es vernahm, schauderte ihn und er sprach: »Nur einmal noch möcht' ich mein Uhrwerk sehen, möchte noch etwas daran verbessern, denn ich vermag es später nicht mehr, wenn ich nicht sehend bin.« Das wurde ihm vergönnt, und dann stieg der Meister zu seinem künstlichen Bau hinauf und trat hinein und schaffte was darin, eine kurze Weile. Und hernach haben sie ihn auf dem Rathaus des Augenlichts beraubt. Aber siehe, da stockte mit einem Male das Uhrwerk.


Christus und der Tod und die Alter der Menschen wandelten nicht mehr, das Glockenspiel verstummte, der Hahn krähte nicht, die Uhrglocken tönten nicht, der Zeigerdrache zeigte nicht, die Götter fuhren nicht mehr – alles stand. Bald aber nach der grausamen Tat wurden Meister Habrechts geblendete Augen aufgetan zum ewigen Licht. Vergebens sandte der Rat nach Künstlern umher, die das Uhrwerk wieder in Gang bringen sollten. Viele kamen, viele probten und pösselten daran und darin herum, keiner bracht's in Gang, von alter Zeit zu neuer Zeit, immer wieder – sie verdarben mehr als sie gut machten, und so steht im Münster das Uhrwerk heute noch; wunderbar anzuschauen, aber ungangbar, und die Zeiger zeigen noch Tag und Stunde, an denen so grausenhafte, undankvolle Untreue an dem kunstreichen Meister verübt ward.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sagen und Geschichten aus deutschen Gauen