August Witzschel - Elisabeths Mantel.

Der Landgraf Ludwig hatte auf der Wartburg ein besonderes Fest veranstaltet und zu demselben viele Gäste, Grafen, Ritter und andere vornehme Leute mit ihren Frauen und Töchtern geladen. Als nun die Zeit kam, daß man zu Tische sitzen wollte, war die heilige Elisabeth noch nicht da. Sie war zu erscheinen verhindert worden, und das war so geschehen: Als sie zu dem Saale ging, worin die Gäste versammelt waren, trat ein armer, gebrechlicher Mann an sie heran und bat um ein Almosen. Sie sprach: »Es gebricht mir jetzt an Zeit, auch habe ich nichts bei mir, was ich geben könnte.« Da bat aber der Arme noch viel mehr und rief, als sie von ihm gehen wollte, ihr gar flehentlich zu, daß sie Mitleid haben und sich seiner erbarmen möchte. Sie gab ihm nun den kostbaren seidenen Mantel, den sie trug, und der arme Mann nahm ihn und ging davon. Viele Diener hatten aber gesehen, daß die heilige Elisabeth dem Armen ihren Mantel gegeben und daß dieser ihn hinweggetragen hatte.

Da nun der Landgraf und alle Gäste auf die heilige Elisabeth warteten, trat der Küchenmeister zu seinem Herrn und sprach in Gegenwart der ganzen Ritterschaft: »Nun erkenne, mein gnädiger Herr, ob es sich wohl gebührt, daß unsere gnädige Frau Elisabeth zu dieser Zeit so lange ausbleibt und Euch das Mahl verzieht, und diesen edlen Frauen die Fröhlichkeit. Jetzt hat sie nun einen Armen gekleidet und ihm ihren kostbaren Mantel gegeben.« Da ging der tugendsame Fürst selber nach ihr und fand sie in ihrer Kammer und sprach: »Liebe Schwester, wollet Ihr nicht mit uns zu Tische gehen?« Sie antwortete: »Ich bin bereit dazu.« Nun fragte der Landgraf nach ihrem Mantel. »Er ist auf dem Ricke,« [Fußnote]Kleiderrechen. gab sie zur Antwort. Da ging eine von ihren Dienerinnen hin und fand den Mantel auf dem Ricke. Sie tat ihn um und ging mit dem Landgrafen zu Tische. Dieses Wunder hatte der allmächtige Gott selbst bewirkt.


Dieser Mantel, sagt der Chronist Rothe, ist nun ein Meßgewand in der Zelle der heiligen Elisabeth unter der Wartburg.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sagen und Geschichten aus deutschen Gauen