August Stöber - Die Geißler in Straßburg.

Der Schluß der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts war für den größten Teil von Europa mit vielfältigen Schrecknissen erfüllt.

Den 25. Januar 1348 erschütterte ein furchtbares Erdbeben alle Lande: Berge stürzten ein, Städte und Dörfer versanken, die Erde spaltete sich, Wasserfluten drangen daraus hervor, und giftige Dünste verpesteten die Luft. Unzählige Heuschreckenschwärme hatten sich auf die Gefilde niedergelassen und alle Saat aufgefressen, wodurch Mißwachs und Hungersnot und andere Leiden erzeugt wurden.


Zudem kam auch noch, zum Teil durch jene außerordentlichen Naturerscheinungen bewirkt, eine große Pest, der schwarze Tod genannt, die sich schon im Jahre 1347 in einzelnen Seehäfen des Mittelmeers gezeigt hatte, und raffte Millionen von Menschen in unserem Weltteile dahin. Sie wütete namentlich in den Jahren 1348 und 1349 und verschwand erst drei Jahre nachher völlig, nachdem ihr noch in der einzigen Stadt Thorn im Jahre 1352 über 4000 Menschen zum Opfer gefallen waren.

Als Ursache des schwarzen Todes wurden die Juden beschuldigt, sie hätten, lautete die allgemeine Sage, die Brunnen vergiftet und angesteckt und somit die Pest in die Christenheit gebracht; denn ihrerseits starben verhältnismäßig weit weniger. Die Juden wurden nun überall verfolgt, eingezogen, gefoltert und zu Tausenden verbrannt.

Obgleich der schwarze Tod Straßburg erst im Sommer des Jahres 1349 traf, so war doch schon das Jahr zuvor von verschiedenen Seiten die Aufforderung an den Rat gemacht worden, gegen die in der Stadt ansässigen Juden mit Feuer und Schwert zu verfahren. Die Lauheit, womit derselbe jedoch nach der Meinung der Judenfeinde gegen sie verfuhr, bewirkte einen Aufruhr in der Bürgerschaft und infolgedessen eine Änderung im Stadtregiment. Unter der Verwaltung des neuen Rates nun wurden den 14. Hornung am St. Valentinstag 1349 auf ihrem eigenen Kirchhof an der nördlichen Grenzseite der Stadt 2000 Juden verbrannt.

Am Johannistag desselben Jahres erst brach der schwarze Tod in Straßburg aus. Vierzehn Tage darauf kamen mehrere hundert Geißler aus Brabant, Flandern und dem Hennegau den Rhein herauf ins Elsaß und nach Straßburg. Sie trugen auf ihren Mützen und Schultern rote Kreuze. Vor dem Zuge her, der sich unter Glockengeläute durch die Straßen bewegte, wurden mehrere Fahnen aus kostbaren Seidenstoffen getragen. Sie sangen durch die Straßen, in den Kirchen fielen sie auf die Knie, geißelten sich selbst und wurden von dem Meister auf den Rücken geschlagen, während ein Vorsänger die Worte sang:

»Nu hebent uf die üweren hende,
Daß got dis grosze sterben wende.
Nu hebent uf uwer arme,
Daß sich got über uns erbarme.«

Nachdem je einer vom Meister gegeißelt worden, rief dieser ihm zu:

»Stant uf durch der reinen martel ere
Unn hüte dich vor der sünden mere.«

In einer Predigt, von der sie vorgaben, daß sie von einem Engel in Jerusalem auf eine Marmortafel geschrieben worden sei, haben sie die Sünden der Menschen, namentlich die Entheiligung der Sonn- und Feiertage, als Ursachen der Erdbeben, der Teuerung und der Pest angegeben und alles Volk zur Buße aufgefordert. Ueberall strömten die Leute ihnen zu, ließen sich von ihnen bekehren, beherbergten und beschenkten sie. In Straßburg wuchs ihre Zahl zuletzt auf über tausend Mitglieder an, die in zwei Scharen das Land auf und ab zogen.

Die Geißler gaben auch vor, mancherlei Wunder zu vollbringen.

Nach und nach erkaltete jedoch der Eifer für die Geißler, geistliche und weltliche Behörden sprachen wider sie, und endlich machte ein päpstliches Verbot dem Unwesen ein Ende.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sagen und Geschichten aus deutschen Gauen