Aloys Wilhelm Schreiber - Der Yberg.

Von wenigen Ruinen mögen so mancherlei Sagen im Munde des Volkes sein als von der Burg Yberg. Zwei Stunden von Baden, auf einem gegen die Ebene vorspringenden Bergkegel, erheben sich ihre grauen Türme, deren einer von oben bis unten vom Blitz gespalten wurde. Außer diesen und dem allmählich auch einstürzenden vorderen Torbogen liegt alles Gemäuer in Trümmern. Das Geschlecht, welches einst hier wohnte, ist ganz erloschen. Der letzte Besitzer der Burg führte, wie die Sage geht, ein wüstes Leben, und kam dadurch in mancherlei Bedrängnisse. Seine Güter waren verpfändet, und er zehrte eine Zeitlang von dem, was sein Schwert ihm erwarb, bis er in einem Gefecht seinen rechten Arm verlor und seine meisten Knechte ihn verließen. Jetzt saß er voll düsteren Unmuts auf seiner einsamen Burg und brütete über allerlei bösen Anschlägen. Da kehrte eines Abends ein Pilger bei ihm ein, der vorgab, er wisse verborgene Schätze zu finden und wolle ihn von aller Not befreien. Der Ritter war darüber höchlich erfreut und fagte: »Ich habe von meinen Eltern gehört, daß unser Urgroßvater während einer Belagerung des Schlosses, die ihm das Leben gekostet, einen großen Reichtum an Gold und Edelsteinen vergraben hat. So Ihr mir zu dem Schatze verhelfen könnt, werde ich mich dankbar beweisen.«

»Mir ist das wohl bekannt,« erwiderte der Fremde, »denn ich war dabei, als Euer Ahn, den man den Isegrim nannte, den Schatz in Sicherheit brachte.«


»Ihr?« fragte der Yberger und sah ihn mit großen Augen an. »Der Mann, von dem Ihr redet, ist seit hundert Jahren tot.«

»Und doch,« fuhr der Pilger fort, »hab' ich mehr als einmal mit ihm gezecht. Aber forscht nicht nach Dingen, die Euch unbegreiflich vorkommen, und folgt meinem Rat. Heute ist Walpurgisnacht. Sobald die Glocke zwölf geschlagen hat, geht in die Kapelle, wo Eure Väter in einer Gruft beigesetzt sind, öffnet ihre Särge und traget die Gebeine hinaus ins Freie, damit der Mond sie bescheine. Sobald das geschehen, mögt Ihr die Kostbarkeiten in den Särgen heben, über die niemand Gewalt hat, solange die Toten dabei ruhen.« Den Ritter kam ein Grauen an bei diesem Vorschlage, aber seine Begierde nach Reichtum und Genuß war so groß, daß sie seine Furcht überwog. Um Mitternacht ging er in die Kapelle und bat den Pilger, ihn zu begleiten. Dieser blieb jedoch am Eingang stehen und weigerte sich beharrlich, das Gotteshaus zu betreten.

Der Ritter öffnete die Särge und trug die Gebeine hinaus auf eine Stelle, welche vom Mond beschienen wurde. Im letzten Sarg, an den er trat, lag der noch unverweste Leichnam eines Kindes. Als er es zu den übrigen gesellen wollte, standen diese aufgerichtet da und riefen mit hohler, dumpfer Grabesstimme: »Bring uns wieder zu unserer Ruhe, damit wir nicht umgehen müssen auf dieser Burg.«

Zu gleicher Zeit erschien der Pilger; das Gewand fiel ihm vom Leibe, und die Gestalt wuchs empor, daß das Haupt, dessen Haare wie Flammen brannten, den Mond zu berühren schien. Er wollte eben die gespreizten Krallen nach dem Ritter ausstrecken, dessen Blut zu Eis gerann, da regte sich der Leichnam des Kindes in seinen Armen, eine Glorie umgab das holdselige Antlitz und es rief mit gebieterischer Stimme: »Entfliehe, Geist des Abgrunds, dieser da soll leben und Buße tun!«

Im härenen Gewand verließ der Ritter die Burg seiner Väter, nachdem er ihre Gebeine wieder zur Ruhe gebracht hatte, und wallte von einer heiligen Stätte zur andern, bis man ihn einst an den Stufen eines Altares tot fand. Seine Burg wurde zertrümmert, aber sein Geist soll noch unter den Trümmern umherirren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sagen und Geschichten aus deutschen Gauen